Samstag, 5. November 2016

Die ewige Jugend von heute.

aus nzz.ch,

Wir Jugendversteher
Letztes Abenteuer Adoleszenz 
Der Kern der Jugend ist es, sich dem Rest der Welt zu verweigern. Dass wir diese Lebensphase trotzdem bis in den hintersten Winkel ergründen wollen, sagt viel aus über unsere Angst vor dem Unberechenbaren.

von Beat Grossrieder 

«Die flüchtige Jugend gleitet heimlich dahin und täuscht uns.» Der römische Stardichter Ovid war einer der Ersten, die die Relativierung der ewigen Klage über «die heutige Jugend» für die Nachwelt schriftlich festhielten. Zahlreicher waren andere alte Denker, die den Kanon festigten, wonach die Heranwachsenden «immer schlimmer» würden. Aristoteles etwa meinte, «die heutige Jugend» sei «unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen».

Ein Ausnahmezustand

Ovid hatte erkannt, dass der Jugend etwas Flüchtiges und (Un-)Heimliches innewohnt, das Aussenstehende nicht verstehen müssen – weil sie es nicht verstehen können. Jugend ist ein biografischer Ausnahmezustand, ein Lebensabschnitt, in dem nichts mehr so ist, wie es war, und nichts so bleibt, wie es ist.

Biologisch könnte man die Hormonumstellung ins Feld führen, die aus niedlichen Kindern über Nacht pubertierende Nervensägen macht. Attestierten die grossen Philosophen der Jugend «schlechte Manieren», steckt vielleicht eine simple körperliche Not dahinter. Zum Beispiel schlafen Jugendliche lange aus, nicht weil sie damit Eltern und Lehrer ärgern wollten, sondern weil ihr aufschiessender Körper mehr Schlaf fordert. Ihr Biorhythmus verschiebt sich, so dass sie vor 23 Uhr kaum richtig schlafen können, dafür morgens bis 9 Uhr noch nicht ansprechbar sind. Fachleute erwägen inzwischen, den morgendlichen Schulstart ab Oberstufe generell um eine Stunde nach hinten zu verschieben.

Generationen – wie wir zusammenleben

rib. Wir werden immer älter, die Gesellschaft verändert sich. Damit ändert sich auch die Art, wie wir zusammenleben. Der Generation, der wir angehören, können wir nicht entkommen. Doch was sind Generationen einander schuldig? Was heisst Verantwortung, wenn es darum geht, auch bei knapper werdenden Ressourcen Lebensräume zu schaffen, die Jung und Alt gerecht werden müssen?

Das wäre ein kleines Zückerchen an die Jugend, die durch so vieles hindurchmuss. Von Akne bis Berufswahl, von Facebook bis Ferienjob, von Selbstfindung bis Verhütung. Das alles müsste Platz haben, ohne dass Erwachsene ständig maulen: «Du bist unmöglich!»

Denn ein jugendlicher Mensch ist tatsächlich unmöglich. Heute so, morgen anders; Stimmungen und Ansichten schwanken wie Korn im Wind. Und beginnt sich eine Haltung doch zu verfestigen, ist es garantiert jene, die im Umfeld auf grösste Ablehnung stösst: Der Sohn des Prokuristen wird Punksänger, die Tochter der Chirurgin Zirkusartistin. So haben sich die Erwachsenen die Jugend gerade ihres Nachwuchses aber nicht vorgestellt.

Um derartige Abstecher ins Unberechenbare zu verhindern (was illusorisch ist) oder zumindest abzumildern, betreiben wir mit grossem Aufwand Jugendforschung. Die Pisa-Studien erhellen den Bildungsstand Heranwachsender, Panel-Studien wie «Competence and Context» (Cocon) deren Lebenswelt, diverse Surveys stecken Forschungsfelder ab wie «Familie – Schule – Beruf» (Fase B) oder «Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben» (Tree). Es gibt das «Jugendbarometer» der Credit Suisse, die Shell-Jugendstudie aus Deutschland, den «Swiss Multicenter Adolescent Survey on Health» (Smash) aus allen Landesteilen; und so weiter und so fort.

Das langlebigste Instrument, um die Schweizer Jugend fassbarer zu machen, sind aber die einstigen 
Pädagogischen Rekrutenprüfungen (PRP), die heute ch-x heissen und soeben zur «ersten nationalen Langzeitstudie» ausgeweitet wurden. Dieses neue Monitoring heisst Yass (Young Adult Survey Switzerland) und versteht sich als «Instrument zur Dauerbeobachtung der Lebensverhältnisse und Orientierungen» junger Menschen. Die Daten werden alle vier Jahre erhoben und miteinander verglichen; sie bieten reichlich Stoff für weiterführende Einzelstudien.

All diese Studien sind wertvoll und gut gemeint, haben aber zwei wesentliche Defizite. Erstens gibt es «die» Jugend nicht, sie ist ein extrem heterogener Haufen, der sich ständig wandelt. Schon nur, weil die Kindheit immer kürzer wird, da die Pubertät immer früher einsetzt. Umgekehrt dauert die Schulzeit immer länger, weil das lebenslange Lernen längst zum Standard – wenigstens zum Ideal – geworden ist. So kann «die» Jugend heute – je nach Milieu, körperlicher Entwicklung und Lebensentwurf – vom 12. Geburtstag bis Mitte dreissig dauern.

Abgrenzungssymbole

Zweiter Einwand: Es ist gerade ein Hauptmerkmal der Adoleszenten, dass sie sich per se «aussergewöhnlich» verhalten und der Vereinnahmung durch die Erwachsenenwelt umso stärker widersetzen, je mehr man sie zu erfassen versucht. Dafür gibt es viele Beispiele. Über Facebook erreicht man die Jungen kaum noch, seit die Eltern und selbst Oma und Opa auch einen Account haben. Längst sind die jüngsten Follower auf neue Kanäle wie Instagram oder Snapchat ausgewichen, wo sie noch unter sich sind. Fortsetzung folgt. Die Kapuzenjacke des Hip-Hoppers ist auch kein Abgrenzungssymbol mehr, seit der Lehrlingsausbildner und die Jugendarbeiterin ebenfalls eine tragen.

Auch die Auseinandersetzungen um Jugendzentren zeigen vor allem eines: Freiräume für Jugendliche funktionieren nur, wenn das Zielpublikum diese Räume tatsächlich frei wählen und weitgehend autonom verwalten kann. Von Erwachsenen gemachte und geführte Freiräume sind ein Widerspruch in sich und zum Scheitern verurteilt.

Die Erkenntnis, dass wir den Kern der Jugend nie wirklich verstehen können, sollte uns letztlich gelassener machen. Was man nicht begreift, braucht man weder zu kritisieren noch zu verändern. Lassen wir die Jugend sein als ein in die Länge gezogener Polterabend, bevor der Ernst des Lebens einsetzt. Und zum Trost noch dies: Eine Reihe von Studien, die sich des Objekts der Senioren annehmen, zeigen auf, dass mit dem Austritt aus dem Erwerbsleben die Einstellungen wieder lockerer, sprich: jugendlicher werden...


Nota. - Es ist mir ärgerlich, dass in dieser Sache stets Feuer und Wasser in einen Topf getan wird - wo es dann nur noch qualmt. Erst sagt man: Jugendalter, und das Publikum denkt sogleich Halbstarke - das denkt die eine Häfte - und '68, das denkt die andere Hälfte: Woodstock, Vietnam, Pariser Mai. Aber dann dauert es nicht lange und es fällt das Wort Pubertät. Da hat man Knochenwachstum, Hormone, Sex und Gender in einem, und gleich plap- pert es lustig weiter: Feuilleton im Leerlauf.

Der Qualm verhüllt, dass die eigentliche Zäsur mitten hindurch geht durch diese sogenannte Pubertät. Die hat einen aufsteigenden und einen absteigenden Ast. Der aufsteigende, das sind die - von Hans-Heinz Muchow so getauften - Flegeljahre, sonst auch Robinsonalter genannt, das wohl anstrengend genug ist, und zwar für alle beteiligten Parteien, aber vor allen Dingen unternehmungsfreudig, abenteuerlustig, einbildungsstark und der Welt zugewandt, statt sich ihr zu verweigern; begleitet all das von einer kämpferischen Moralität.

Kulturen, die solche Eigenarten schätzen - und auch zu diesem Zeitpunkt -, machen diese Zeit  produktiv, denn nun kommt der Abschied von der Kindheit:

»Es ist die größte Krise im Leben eines jeden. Eine Krise auch in physiologischer Hinsicht, als Pubertät; aber nicht nur. Nicht einmal vor allem: Es ist eine Krise des ganzen Menschen. Bis dahin verstand sich die Welt von selbst. Alles, was war, war eben so und nicht anders. Doch plötzlich steht alles in Frage. Ist alles so, wie es ist, oder sieht es nur so aus? Könnte es nicht auch ganz anders sein? „Der Grundzug des Pubertätsalters“ sei, so schrieb der Kulturhistoriker Egon Friedell, „daß es fast jeden Menschen zum Dichter macht.“ Aber nur, weil die Selbstverständlichkeit dahin ist und alles in Zweifel gerät - nicht nur die Andern, sondern auch das Selbst: ein kritischer Zustand. Es ist ein Fegefeuer der Gedanken und der Gefühle. Der amerikanische Kinder- und Jugend- psychologe Erik Erikson hat geradezu von der „zweiten Geburt des Menschen“ gesprochen. ...

Der Zweifel, die Ungewißheit, das ‚Schweben‘ zwischen allen Möglichkeiten äußert sich aber, ach, vorzugs- weise in Spottsucht, Frechheit und bösem Witz. „Das Kind muß unbedingt ironisches Kind sein“, liest man bei dem Romantiker Novalis; nämlich das Kind, das schon fast keins mehr ist. Es ist das Schwinden der Unschuld, doch auch der Anfang der Naivität, denn: „Das Naive ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird“, schrieb Friedrich Schiller.

Kein Kind mehr sein, oder doch nicht mehr so ganz, ist aber nicht nur eine Erweckung. Es ist auch eine Trauer. Denn jetzt wartet der „Ernst des Lebens“. Mit dem Spielen ist es jedenfalls vorbei. Man wird es ein Leben lang vermissen. Der Abschied von der Kindheit ist ein Hängen zwischen den Stühlen, eine ganze, kurze Existenz im Zwiespalt. Sonst wäre es ja nicht das produktivste Kapitel im Roman unseres Lebens.«   

Das produktivste Kapitel, da ließe sich was draus machen: Jünglingsalter, sagte am früher, die einen nahmen als Lehrlinge in der Werkstatt des Meisters ihren Platz in der ständischen Gesellschaft ein, die andern traten als Knappen ihren Dienst an einem ritterlichen Hof an. - Es ist wahr, dass das Kulturen waren, in denen männliche Tugenden höher angesehen wurden als bei uns seit dem Aufkommen der Angestelltenzivilisation. 

Bei uns folgt auf den Abscheid von der Kindheit nicht der Eintritt in die Männerwelt, sondern jene entnervende Hängepartie, die wir Adoleszenz nennen und von der allein der Autor der NZZ oben zu reden weiß. Das ist kein Schweben mehr, sondern ein Baumeln; nichts Ernstes mehr, worum zu kümmern es sich ernstlich lohnte, der einzige Gegenstand, um den eine eben noch schäumende Phantasie ihre Ringe zieht, ist das eigne Ich-ganz-wichtig, und das Höchste, was man ihm zu bieten hat, ist fun. Sie 'verweigern sich der Welt' wie der Fuchs den Trauben.

Dass die Jugend von heute den Alten von aller Zeit nicht gefällt, ist allerdings eine olle Kamelle. Aber die Adoleszenz mit ihrer Egomanie, Gefallsucht und blasierten Indifferenz ist eine Errungenhaft unseres allerwestlichsten Zwanzigsten Jahrhunderts. 

Und was wird mit dem Einundzwanzigsten? 

Die Angestelltenzivilisation ist die Abenddämmerung der Arbeitsgesellschaft. Die Arbeitsgesellschaft neigt sich ihrem Ende zu. Die Erwachsenheit selbst ist es, die veraltet. Wird man von der Kindheit keinen Abschied mehr nehmen müssen?

"Ein Mann kann nicht wieder zum Kind werden oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivetät des Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höhern Stufe streben seine Wahrheit zu reproduciren?" 
Karl Marx*

*) in MEGA II/1.1, S. 45


JE

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