Dienstag, 11. Juni 2019

Ian Goldin: Eine zweite Renaissance?

Davids Gesicht und Nacken sind gespannt. Seine Augenbrauen zusammengezogen und sein konzentrierter Blick richtet sich auf einen fernen Punkt. So steht er da, nicht triumphierend einen Fuß auf den Leichnam seines Feindes platziert (das Standardporträt), aber bereit und mit der unbarmherzigen Entschlossenheit desjenigen, der weiß, welchen Schritt er als Nächstes tut, aber nicht weiß, welche Folgen er haben wird. Und dann erkennen die Betrachter plötzlich klar die Botschaft des Künstlers: Michelangelo hat in David den schicksalhaften Augenblick zwischen Entschluss und Handlung verewigt; zwischen der Erkenntnis, was er tun muss, und dem Mutfassen zur Ausführung des Unvermeidlichen. Die Betrachter erkannten wohl diesen Moment
 wieder. Denn sie lebten in ihm.
aus Goldin/Kutarna, Age of Discovery
aus welt.de, 7. 2. 2017

„Wir erleben eine zweite Renaissance“
 Für den Oxford-Ökonomen Ian Goldin steht die Menschheit vor der umfassendsten Transformation seit einem halben Jahrtausend. Die Chancen hält er für riesig. Die Risiken auch



Galilei und Kopernikus. Da Vinci, Dürer und Michelangelo. Luther und Shakespeare. Die Fugger und die Medici: Die bleibende Bedeutung der Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert für die Geschichte der Mensch- heit lässt sich schon am unsterblichen Ruhm ihrer vielen berühmten Repräsentanten ablesen. Die Phase der „Wiedergeburt“ markiert nicht weniger als das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit.

Jetzt steht die Welt vor einer ähnlichen Wegmarke. Das jedenfalls glaubt Ian Goldin, einer der international führenden Vordenker der Globalisierung. Gerade hat der Oxford-Ökonom ein neues Buch fertiggestellt, das im Mai erscheint: In „Age of Discovery“, geschrieben zusammen mit dem Doktoranden Chris Kutarna, behauptet Goldin, dass die digitale Revolution in Wirklichkeit nur Teil einer wesentlich größeren Umwälzung ist.


welt: Professor Goldin, 2016 hat nicht gut begonnen. Kriege und Krisen, wo man hinschaut. Und Sie stellen eine „goldene Ära“ in Aussicht. Wieso?

Ian Goldin: Weil das Potenzial da ist. Noch nie in der Geschichte hatten so viele Menschen so viele Chancen. Chancen, zu tun, was sie wollen, zu leben, wie sie wollen, zu entdecken, was sie wollen. Der Wandel, den wir gerade erleben, ist eine ganz große Sache. Die Fortschritte bei den Informationstechnologien, im 3-D-Druck, bei der künstlichen Intelligenz, in der Gentechnik, kurz all die Entwicklungen, die unter dem Begriff „vierte indu- strielle Revolution“ zusammengefasst werden, sind eine ganz große Sache. Sie werden sich gegenseitig befruch- ten und zu einer Welle von Erfindungen und Innovationen führen. Und diese technischen Entwicklungen sind auch nur Teil einer noch größeren Geschichte, einer sehr umfassenden Transformation der Weltwirtschaft. Ich nenne es das „zweite Zeitalter der Entdeckung“. Wir erleben eine zweite Renaissance.
Warum die Analogie?

Um zu betonen, dass es hier längst nicht allein um technologische Trends geht oder um Produktionsmethoden. Sondern um sehr viel mehr. Heute sprechen wir von der digitalen Revolution. Die Revolution zu Beginn der Renaissance war die Druckerpresse. Mit ihr hat Gutenberg die rapide Ausbreitung von Ideen und Erkenntnissen ermöglicht. Die Innovationsschübe in vielen Bereichen, in der Kunst, in den Naturwissenschaften, wurden so enorm befördert. Auch die Entdeckung Amerikas durch Columbus war ein Ausfluss davon.

Bei allen Errungenschaften: Massenwohlstand hat die Renaissance in Europa nicht geschaffen. Der stellte sich erst Jahrhunderte später ein.

Richtig. Die Renaissance war keine Phase hohen Wirtschaftswachstums. Kleine Gruppen profitierten enorm, aber für den Großteil der Bevölkerung war der Zuwachs des Lebensstandards bescheiden. Das ist auch heute eine große Gefahr: Wir müssen aufpassen, dass die massiven Fortschritte in manchen Bereichen nicht nur von dem berühmten einen Prozent an der Spitze der Einkommens- und Vermögensskala vereinnahmt werden ...

... wie es auch vor 200 Jahren, nach Erfindung von Dampfmaschine und Eisenbahn zunächst geschah.

Es ist immer so bei disruptivem Wandel: Viele Leute profitieren zunächst nicht und manche umso mehr. Der Unterschied heute ist, dass der Fortschritt sich viel schneller ausbreitet. Frühere industrielle Revolutionen waren lokalisiert, sie beschränkten sich erst einmal auf einzelne Städte, Regionen oder Länder. Heute haben wir es mit einer globalisierten Entwicklung zu tun. Mit der Besonderheit, dass die Digitalisierung ihre eigene Ausbreitung begünstigt.

Und was folgt daraus?

Bei früheren industriellen Revolutionen verloren Menschen nur nach und nach ihre Arbeitsplätze, ihnen blieb Zeit, sich neue Fertigkeiten anzueignen und dorthin zu ziehen, wo die neuen Jobs waren. Das Problem heute ist, dass die Geschwindigkeit des Wandels so hoch ist, dass die Menschen sich nicht schnell genug darauf einrichten können. Unsere modernen Gesellschaften und wir als Individuen sind nicht besonders anpassungsfähig. Unsere Immobilienmärkte zum Beispiel sind nicht auf raschen Wandel eingestellt, unsere Bildungssysteme auch nicht.

Was wäre denn zu tun?

Vieles gleichzeitig. Die Bildungssysteme müssen, anders als heute, Menschen auch dann noch neue Fertigkeiten beibringen können, wenn Schul- und Universitätsbesuch schon Jahrzehnte zurückliegen. Zweitens: Mobilität. Die Menschen müssen in der Lage sein, von Stadt zu Stadt zu ziehen, dorthin, wo die Beschäftigung wächst. Daher sollte es der Staat beispielsweise nicht durch Steuern teuer machen, ein Haus oder eine Wohnung zu verkaufen. Drittens ist da der Verkehr und die sonstige Infrastruktur. Manche Leute brauchen ein, zwei, drei Stunden, um zum Arbeitsplatz zu kommen und genauso lange für den Rückweg. Das ist eine ungeheure Ver- schwendung, bei der viel produktives Potenzial verschleudert wird. Die Qualität und die Geschwindigkeit des Verkehrs machen einen großen Unterschied.

Sind Sie optimistisch, dass die Politik letztlich das Richtige macht?

Zunächst ist es sehr wichtig, dass wir die Gesellschaft aufklären. Es geht darum, dass die Bürger Chancen und Risiken verstehen. Bisher gibt es aber praktisch keine öffentliche Diskussion über viele der Technologien, in denen gerade rasante Fortschritte erzielt werden. In Deutschland wird immerhin über gentechnisch veränderte Lebensmittel debattiert. Aber so etwas müsste es in vielen anderen Bereichen auch geben, bei der Stammzellfor- schung etwa oder der künstlichen Intelligenz. Blinder Techno-Optimismus jedenfalls ist gefährlich. Die neuen Technologien sind sehr machtvoll, und wir müssen lernen, sie zu verstehen und zu managen. Ob sie zu mehr Lebensqualität führen oder zu hoher Arbeitslosigkeit und mehr Ungleichheit – das liegt in unserer Hand.

Viele Menschen haben nicht den Eindruck, sie fühlen sich ausgeliefert.

Stimmt, wir sehen das in Europa und auch den USA, man schaue nur auf die Vorwahlen bei den Republikanern [2017]. Die Menschen in vielen Teilen der Welt spüren, dass die Zukunft zunehmend ungewiss ist. Die Moder- nität, die neue Komplexität, die tumultuösen Umbrüche, alles das verstört sie. Eine der Antworten darauf ist, sich zurück- zuziehen, zurückzustreben in eine andere Welt, in der es mehr Sicherheit gab und man nicht Kräften von außen ausgesetzt war. Die extremen Linken und die extremen Rechten nutzen das, indem sie sagen: „Lasst uns dies stoppen. Lasst uns uns abschotten. Lasst uns wieder eine verlässlichere Welt haben.“ Es geht also nicht nur um die Ablehnung von Technologien. Die Unsicherheit, die ein Zeitalter der Entdeckung mit sich bringt, lässt den alten politischen Konsens zusammenbrechen.

Das war in der Renaissance auch so?

Wir neigen dazu, die Renaissance als eine gute Zeit zu betrachten. Dabei war diese Phase der Geschichte für einen Großteil der Menschheit eine schreckliche. Es war auch die Zeit der religiösen Fragmentierung, der Glau- benskriege, der spanischen Inquisition, des Extremismus. Dass Religion damals eine zentrale Rolle bei den Aus- einandersetzungen spielte, ist wohl kein Zufall. Der Glaube bietet die Art von Trost und Konstanz, die sich viele Menschen in Zeiten des Umbruchs wünschen.

Und deshalb ist es kein Zufall, wenn wir heute wieder religiösen Fanatismus erleben?

Natürlich nicht. Und damals wie heute bekämpfen die Extremisten die Modernität mit den Mitteln der Moder- nität. Damals zum Beispiel Girolamo Savonarola, der Ende des 15. Jahrhunderts Bücher und Gemälde in sein „Fegefeuer der Eitelkeiten“ warf. Und heute der IS, der mithilfe von sozialen Netzwerken im Internet so viele ausländische Krieger rekrutiert hat wie niemand sonst seit dem spanischen Bürgerkrieg.

Welche Länder sind denn Ihrer Meinung nach am besten vorbereitet auf die große Transformation?

Kein Land ist angemessen vorbereitet. Aber es gibt einige interessante Orte. Singapur zum Beispiel. Das ist keine Demokratie. Aber das Land ist sehr klein, und es hat eine sehr offene Wirtschaft. Sie sind sich dort sehr bewusst: Das eigene Wohlergehen hängt entscheidend davon ab, dass sie die Welt verstehen und sich ihr an- passen. In jedem Ministerium gibt es deshalb ein Team von Leuten, das sich systematisch mit Zukunftsfor- schung beschäftigt. Aber die entscheidenden Entwicklungen spielen sich häufig nicht auf nationaler Ebene ab, sondern auf lokaler.

Inwiefern?

Städte können mit ihrer eigenen Politik einen großen Unterschied machen. Bildung, Verkehr, Häusermarkt – das sind vor allem auch Themen für die Lokalpolitik. Schon in der Renaissance waren es Städte, nicht ganze Länder, die erblühten: Florenz, Venedig, später Amsterdam und London.

Sind Metropolen heute auch im Vorteil? Oder nicht vielleicht doch eher kleinere Städte, in denen das Internet im Zweifel genauso schnell ist, aber die Wege kürzer sind?

Ich habe untersucht, wie die Einwohnerzahl mit dem Wachstum des Pro- Kopf-Einkommens zusammenhängt. Die Korrelation ist positiv. Auch eine hohe Bevölkerungsdichte hilft: Städte, in denen die Menschen eng bei- einander leben statt auf große Flächen verteilt, sind dynamischer.

Den Megacitys gehört also die Zukunft?

So einfach ist es nicht. Ab zehn Millionen Einwohnern, also in nach europäischen oder amerikanischen Maß- stäben sehr großen Städten, kippt das. Dann wird die Luft so verschmutzt und werden die Straßen so verstopft, dass das Pro-Kopf-Einkommen mit weiter steigender Einwohnerzahl sinkt. Aber wie genau der Effekt ist, hängt auch von der lokalen Politik ab. Und davon, wer zuzieht.

Zuwanderung muss nicht gut sein?

Ohne Zuwanderung geht es nicht. Migranten sind es, die die neuen Idee mitbringen, die neuen Fertigkeiten, die neuen Technologien. Das kann man im Silicon Valley sehen oder in Toronto.

Kalifornien und Kanada kontrollieren ganz genau, wer zuwandert. Deutschland und andere Länder in Europa und im Nahen Osten erleben gerade eine unkontrollierte Massenzuwanderung von Menschen.

Es gibt heute mehr Migranten auf der Welt als früher, weil es mehr Menschen gibt. Und weil es mehr Länder gibt, etwa hundert mehr als vor hundert Jahren. Und weil es anders als früher Pässe gibt, sodass Wanderungs- bewegungen auch dokumentiert werden. Aber die Migration war auch früher schon groß. Im 19. Jahrhundert verließ schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung in Europa seine Heimatländer.

Und in der Renaissance?

War es nicht anders. Die erfolgreichen Städte der Ära, wie Florenz oder Amsterdam, kamen damals schon auf einen Einwandereranteil von 20, teilweise sogar 30 Prozent. Man kann es bei Erasmus von Rotterdam und anderen Autoren nachlesen, wie diese Städte zu jener Zeit Händler und Handwerker anzogen. Und wie sie zu Mekkas der Intellektuellen wurden: Jeder, der etwas auf sich hielt, musste einfach hin und einige Zeit dort verbringen.


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