"Bayern bezahlt Beamten am besten, Berlin am schlechtesten" überschreibt die FAZ heute einen Beitrag. In Bayern kenne ich mich nicht aus, aber ich bin Berliner, und hier sagt der Volksmund: Von nischt kommt nischt. Aber was kommt von was? Weil Berlin seine Beamten am schlechtesten bezahlt hat es die... - ? Wir Eingebore- nen tippen: Es ist umgekehrt. Ungerecht ist es jedenfalls nicht.
aus Der Standard, Wien, 19. Februar 2017, 18:59 Trump sei Dank: Europe
first! In München zeigte sich deutlich wie nie, dass Europa für sich selbst
sorgen muss
von Christoph Prantner
Europa muss Donald Trump dankbar sein. Der gern per Ferndiagnose auf die
Politcouch gelegte und auf Zurechnungsfähigkeit analysierte
US-Präsident hat seinerseits einen kathartischen Prozess in Gang
gebracht. Die Europäer haben auf der Sicherheitskonferenz so deutlich
wie selten zuvor begreifen dürfen, dass sie sich endlich am Riemen
reißen müssen. Es mag unfreiwillig sein, aber: The Donald ist auch ein
Dialektiker. Einer, der unversehens eine Menge an politischen
Gegensätzlichkeiten erzeugt, durch deren Zusammenprall am Ende doch so
etwas wie Fortschritt herauskommt.
Von der derzeitigen US-Regierung also ist nicht zu erwarten, dass sie
die westliche Welt beherzt in Schutz nehmen oder ihr gar eine Richtung
vorgeben wird. Deswegen muss Europa aufrüsten – militärisch und vor
allem ideologisch. Es muss seine Interessen selbstständig definieren,
seine Einflussmöglichkeiten taxieren, eine gemeinsame Realpolitik
machen. Die Rhetorik vom größten Friedensprojekt oder dem größten
Binnenmarkt – je nach Gusto und Weltsicht und jedenfalls immer unter dem
nuklearen Schutzschirm der Amerikaner – wird nicht mehr ausreichen, um
in einer Welt zu bestehen, die zunehmend unberechenbarer wird.
Verbündete inklusive. Vizepräsident Mike Pence zum Beispiel hat die
Europäische Union in seiner Ansprache in München mit keinem Wort
erwähnt.
Die beste Chance für die EU, sich zu sortieren und viele Dinge zu
klären, ist der Brexit. Nach allem, was auf den Gängen des Bayerischen
Hofes in München zu hören war, wird es eine recht ruppige Scheidung
geben. Für die Briten, deren politische Spitzen wie ihre
angelsächsischen Vettern in Washington einen bemerkenswerten Hang zum
Hinterlassen verbrannter Erde entwickelt haben, wird ein harter Brexit
eine politische wie ökonomische Katastrophe werden. Und auch der Union
wird er schmerzen, keine Frage. Aber eher in der Art eines Muskelkaters.
Denn wenn alles gut läuft und eine wiedergewählte deutsche
Bundeskanzlerin Angela Merkel im Verein mit einem französischen
Präsidenten, der nicht Marine Le Pen heißt, es schafft, den europäischen
Laden zusammenzuhalten, wird die Union danach stärker sein als je
zuvor. Frei nach dem Leitmotiv Trumps muss es also heißen: Europe first!
Diese Stärke wird Europa brauchen, um seinen Platz in der neuen
Weltordnung zu behaupten – gegenüber turbokapitalistisch veranlagten
kommunistischen Mandarinen in Peking, von interner Misere gebeutelten
russischen Revisionisten mit Großmachtfantasien und gegenüber einer
US-Führung, die Amerika ohne Not und entgegen allen großspurigen
Ankündigungen kleiner und einsamer macht, als es bisher gewesen ist.
In München, so ließ es sich aus vielen Gesprächen ableiten, haben die
meisten Mitgliedsstaaten der Union diesen Trend erkannt. Selbst das
Führungspersonal in renitenten Hauptstädten, in denen gern eine große
nationalistische Lippe geführt wird, hat inzwischen weitgehend
überzuckert, dass weder Russland noch die USA echte Alternativen sind.
Sosehr der "Freiheitskampf gegen Brüssel" daheim kultiviert werden mag,
so wenig wird er in den Institutionen tatsächlich geführt.
Europe first! Das Europa der Gegensätze und Differenzen wird genauso
wieder zur Gemeinsamkeit finden. Das ist die gute Nachricht aus München.
ebd., 19. Februar 2017, 18:29 US-Senator McCain: Trump geht mit den Medien wie ein "Diktator" um
Republikanischer Senator sieht Überleben des Westens und seiner Werte in
Gefahr
München/Washington – Auf der Münchner Sicherheitskonferenz und im
US-Fernsehen hat der republikanische Senator John McCain scharfe Kritik
an US-Präsident Donald Trump geübt. Dessen Umgang mit den Medien
erinnere ihn an autoritäre Regime, sagte er aus München zugeschaltet in
der TV-Show Meet The Press am Sonntag: "So legen Diktatoren los."
Auch in einer Rede auf der Sicherheitskonferenz kritisierte er seinen
Parteifreund implizit. Ohne Trump beim Namen zu nennen, meinte der
Republikaner die Führungsschwäche US-Präsidenten, als er sagte, es gehe
um das Überleben des Westens und von dessen Werten.
Klare Ansagen eines Republikaners. ...
Üblicherweise hat der alte Republikaner die Russen im Visier oder die
Chinesen. Diesmal residiert der Adressat seiner Rede in 1600
Pennsylvania Avenue, Washington D.C. Ohne einmal den Namen Donald Trump
zu erwähnen, nahm er dessen politische Standpunkte unter Beschuss. Es
ging um nichts weniger als den ideologischen Luftkampf um den Westen und
dessen Werte.
Die westliche Welt sei nicht nur in größter Gefahr, es stelle sich sogar
die Frage ihres Überlebens. Dies sei kein "Alarmismus", im Gegenteil:
"Wir sollten dieser Frage mit tödlichem Ernst begegnen", erklärte
McCain. Wahrheit und Lügen
Es gebe eine zunehmende Abwendung von universalen Werten zu ethnischen
Standpunkten oder de facto unverhandelbaren Glaubenspositionen. Man
könne wachsende Ressentiments gegenüber Flüchtlingen und Migranten
beobachten. Die Unfähigkeit, ja der Unwillen, Wahrheit von Lügen zu
unterscheiden, werde immer ausgeprägter. Und immer mehr Bürger der
westlichen Welt würden nichts Verwerfliches mehr an autoritären Führern
finden. Daraus schließt der alte Kalte Krieger, dass der Westen und
seine Bürger vielleicht noch die militärische Macht hätten, ihre Werte
und Interessen zu verteidigen, aber oft nicht mehr den nötigen Willen
dazu.
Er mache sich wie die Euro päer große Sorgen wegen des entstehenden
globalen Führungsvakuums. Dass die in München anwesenden Spitzen der
US-Politik diese Sorgen teilten, sehe er aber nicht.
Im Vorwahlkampf musste McCain – der als US-Pilot über Vietnam
abgeschossen wurde, mehrere Jahre im berüchtigten Gefängnis Hanoi Hilton
verbrachte, dort gefoltert wurde und einen VIP-Gefangenenaustausch als
Admiralssohn ablehnte – seine Integrität von seinem Parteifreund infrage
stellen lassen. Die Anwürfe kommentierte er damals nicht. Stattdessen
sagte er in München mit Blick auf Trump: "Ich akzeptiere es nicht, dass
unsere Werte gleichwertig sein sollen mit jenen unserer Gegner. Ich
glaube stolz an den Westen. Für diesen sollten wir stets einstehen. Wenn
wir es nicht tun, wer soll es dann machen?"(pra.)
Vor ein paar Tagen habe ich Donald Trump an dieser Stelle als das verdiente Endergebnis der Postmoderne berzeichnet. Bei der Gelegenheit habe ich auch eine Verbindung zwischen Postmoderne und Politischer Korrektheit behauptet. Das war keine polemische Übertreibung; bei uns in Deutschland jedenfalls liegt er auf der Hand. Um das Jahr 1968 haben die Studierenden der Generation, die in den letzten Jahrzehnten bei uns den Ton angegeben haben, die ganze Welt befreien wollen, und die revolutionären Avantgardeparteien schossen aus dem Boden. Alle standen sie mit der Weltgeschichte auf Du und waren auf dem Weg, die endgültige Wahrheit auszuprechen. Dann kamen Helmut Schmidts restriktive Rahmenbedingungen, und der Katzenjammer war groß. Die Rechthaberei hatte zu einer Spaltung nach der andern geführt und der apostolische Gestus hatte sie überanstrengt. "Ich muss endlich auch mal an mich selber denken" sagten sie, nachem die sein halbes Jahr morgens um sechs Fluglätter an den Fabriktoren verteilt hatten. Keine reine Lehre, keine letzten Wahrheiten mehr; kein Kampf, kein Zank, kein Anspruch auf Höheres, nur, was ich auf mich selbst beziehen kann, damit kann ich umgehen; kein Richtungsstreit und um Gottes Willen keine Führungskämpfe mehr! In Neuer Bescheidenheit wurden keine Entscheidungen mehr getroffen, sondern der Konsensus gesucht. Wie auch anders? Die allerjüngste Wissenschaft hatte eben enthüllt, dass "alles möglich" ist, anything goes. Objektive Maßstäbe gibt es nicht, und schon gar nicht liefert sie die Wissenschaft, auch sie konstruiert; sie noch mehr als andere. Wenn es aber keine objektiven Maßstäbe gibt, dann muss man mit subjektiven Vorlieb nehmen. Denn gebraucht werden Maßstäbe nunmal in einer Gesellschaft, wo die öffentliche Gewalt im Namen Aller ausgeübt wird: Sie muss sich legitimieren. Wenn das, was gelten soll, nicht im Kampf um die richtigen Gründe entschieden werden soll, wenn Minderheiten nicht überstimmt werden dürfen, dann muss man zusammenzählen, worauf sich alle friedlich einigen können - je mehr, desto besser. Schon Abstimmungen waren verpönt, es musste alles ausdiskutiert werden: Nicht das schärfere Argument sticht, sondern das geduldige Ansammeln der Meinungen schleicht, manches ist nur eine Frage der Ausdauer.
Aber alles geht eben doch nicht! Es muss schon eine Grenze geben. Die Grenze ist die Entrüstung. So wie die Meinungen angelagert werden, so die Entrüstungen. So kommt zusammen ein Gesinnungspool, der so totalitär ist, wie das gesunde Volksempfinden schon immer war. Alles kommt auf die Bühne der Öffentlichkeit (das Private ist Politisch), es muss jeder Alles bekennen, und wer sich verplappert, verfällt dem Scherbengericht. Es ist die Herrschaft der Pharisäer, der eine weiß, dass der andere so gut heuchelt wie er selbst, und wer nicht mittut, macht sich zum Gespött. Streit? I wo. Dafür Zank, soviel das Herz begehrt. Politische Korrektheit ist zudringlich und ohne alle Würde. Dass sie einem Rüpel hilflos unterliegen würde, der sich's leisten kann, auf sie zu pfeifen, war nur ein Frage der Zeit.
PS. Dass sie ihn jetzt für verrückt erklären, ist der absolute Tiefpunkt. In Wahrheit sind sie anti-politisch korrekt. 20. 2. 17
Waren die Menschen untereinander einst friedlich, oder sind sie
von Anfang an mit Zähnen und Klauen aufeinander los gegangen? Das ist
eine alte Frage: In den Augen von Rousseau waren die Menschen
freundliche Gesellen, bis sie die Ursünde begingen, die der Einführung
des Privateigentums; ganz anders sah es Hobbes, für ihn waren die
Menschen ab ovo so aggressiv, dass sie nur unter der starken Hand einer
zentralen Autorität – der des Leviathan – halbwegs miteinander auskamen.
Die beiden Bilder lösen einander immer wieder ab, einmal werden die
ursprünglichen Menschen als edle Wilde imaginiert, dann als Wölfe, die
Kulturwissenschaften unterliegen Moden.
Gibt es zuverlässigere Zeugen? „Wenn die Aggression in unserer
Vergangenheit wichtig war, sollten wir Evidenz dafür in unserer Anatomie
finden.“ Das erklärt David Carrier, Biologe an der University of Utah,
der sich auch als „Friedensforscher“ versteht und die Menschen für
„aggressive Affen“ hält bzw. für die „gewalttätigsten Wirbeltiere auf
unserem Planeten.“ Diese Idee kam Carrier 2007, als ihm auffiel, dass
der er erste, der aufrecht gehen konnte – Australopithecus –, relativ
lange Arme hatte und kurze Beine. Gut gehen konnte er mit diesem Körper
nicht, aber dessen Schwerpunkt lag tief: Man konnte kräftig zuschlagen
und eingesteckte Schläge gut auspendeln. „Man“ meint für Carrier Mann:
Die Männer hätten um Frauen und Reviere gekämpft.
Und sich um des härteren Zuschlagens willen schließlich – mit
Homo erectus – auf Dauer zum aufrechten Gang erhoben: Viele Tiere stehen
zum Kämpfen auf zwei Beine auf – Katzen, Hunde Bären –, nur der Mensch
blieb in dieser Haltung, weil Schläge von oben nach unten härter
ausfallen als in Gegenrichtung, Carrier hat es experimentell erhoben,
die Testpersonen waren Boxer.
Nur wir schlagen mit Fäusten zu
Die schlagen mit den Fäusten zu – und Hände zu ihnen ballen können
nur Menschen, das fiel Carrier als nächstes auf. Dann wandte er sich dem
zu, auf das die Schläge am häufigsten einprasseln, das Gesicht, vor
allem Unterkiefer, Nase, Augenhöhle. Dort waren die Männer seit
Australopithecus mit besondern starken Knochen und Muskeln gewappnet,
bei den Frauen war das nicht so.
Nun kommt Carriers nächster
Schlag: Wer kräftig zuhauen will, braucht einen sicheren Stand. Bei dem
haben die Menschen und die Menschenaffen wieder eine Besonderheit: Fast
alle anderen Primaten legen beim Stehen und Gehen das Gewicht
„digitigrad“ auf die Zehen, wir sind „plantigrad“, Sohlengänger, setzen
den gesamten Fuß auf. Warum wir das tun, ist nicht recht klar, es gibt
viele Hypothesen, Carrier hat eine neue, er hat sie neuerlich
experimentell getestet (Open Biology 15. 2.): Diesmal ließ er Boxer auf
ein von der Decke hängendes Pendel – voll mit Messgeräten – eindreschen
und dabei entweder eine digitigrade oder eine plantigrade Haltung
einnehmen.
Letztere brachte wesentlich mehr Wucht in die Schläge,
sie verschwand, als die Probanden mit rutschigen Socken auf einen
rutschigen Boden mussten. „Das ist wieder ein Stück in dem breiteren
Bild, laut dem wir in gewissem Grad auf aggressives Verhalten
spezialisiert sind“, schließ Carrier.
Nicht alles allerdings, was
die Ahnen sich physiognomisch erwarben, ist geblieben. Vor allem die
Knochenwülste im Gesicht sind geschwunden, Homo sapiens ist grazil
geworden, auch deshalb heißt er bei Anthropologen „moderner Mensch“. Wie
passt das zu Carriers Hypothese? Nicht schlecht, H. sapiens hat Waffen
ersonnen, gegen die die kräftigsten Knochen nichts helfen.
Donald Trump ist der legitime Erbe der Postmoderne, er erntet, was Paul Feyerabend gesät hat. Anything goes, nix gilt, ist ja alles nur Konstrukt! Wahrheit gibt es keine, höchstens Wahrheiten, du hast deine, ich hab meine. Wenn es alternative Wahrheiten gibt, warum nicht auch alternative Fakten? Was zählt, ist der gute Deal. Stimmungen sind auch Realitäten, und Vernunft ist eine Machination von Eliten.
Der politischen Korrektheit hat er den Garaus gemacht, der Postmoderne hoffentlich auch.
Der
Grazer Theologe Christoph Heil untersucht Q als Quelle für die
Evangelisten Lukas und Matthäus. In den als ursprünglich geltenden
Texten ist noch keine Mystifizierung zu spüren, Weihnachten fehlt.
von Franziska Lehner
„Es gibt eine Vielzahl an Texten und Schriften, die irgendetwas
über Jesus sagen“, meint der Theologe Christoph Heil. Schwieriger ist
die Suche nach der wahren Verkündigung Jesu. Um den ursprünglichen
Worten Jesu näherzukommen, forscht der deutsche Wissenschaftler an der
Quelle Q. Mit Q erklärt sich die Theologie seit dem 19. Jahrhundert die
großen Ähnlichkeiten in den Evangelien nach Lukas und Matthäus. Beide
Evangelien erwähnen die Bergpredigt und das Vaterunser. Sonst sind diese
Texte im Neuen Testament nirgends in dieser Form zu finden. Woher also stammen sie? „Als Lösung gilt die Zweiquellentheorie“,
sagt Heil, der an der Universität Graz Neutestamentliche
Bibelwissenschaft lehrt. „Lukas und Matthäus haben Markus und eine
zweite Quelle als Vorlage verwendet.“ Q als zweite Quelle erklärt die
245 Verse, die in Matthäus und Lukas vorkommen, aber nicht aus dem
Markus-Evangelium stammen. „Das Besondere an Q ist das Alter“, sagt
Heil. Q soll nach dem Tod Jesu um 30 n. Chr bis 70 n. Chr. zustande
gekommen sein. Für den deutschen Theologen Heil bezeugt das die
Ursprünglichkeit der Quelle: „Es ist in Q noch nichts von einer
Hellenisierung, Veränderung oder Mystifizierung der Person Jesu zu
spüren.“
Auf den Urtext schließen
Heil ist Teil eines internationalen Forschungsteams, das seit den
1980er-Jahren an der Rekonstruktion der Quelle Q arbeitet. Als Grundlage
dienen dem Forschungsteam die verschiedenen schriftlichen
Überlieferungen der Verse aus den Evangelien von Matthäus und Lukas.
„Aus dem Vergleich der Verse kann man erschließen, wie ein Urtext
aussehen kann“, erklärt Heil.
Die Forschungsergebnisse erscheinen
seit 1996. Zwölf der 30 geplanten Bände gibt es bereits; dazu kamen im
Jahr 2000 eine kritische Ausgabe der Quelle Q und im Jahr 2002 eine
griechisch-deutsche Studienausgabe. Heuer sollen im vom
Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt fünf weitere Bände und eine
frei zugängliche Online-Publikation erscheinen.
Was besonders
auffällt: „Weihnachten kommt in Q nicht vor. Jesus ist für sie der
letzte und größte Prophet. Woher er kommt oder wann er geboren wird,
interessiert Q nicht“, sagt Heil über den Fokus der Quelle. Die damalige
jüdisch-christliche Gemeinde kann mit heute kaum verglichen werden. Für
Q standen die göttliche Sendung Jesu, das Gericht und Jesu Aufnahme bei
Gott im Vordergrund. „Das Gericht, bei dem ganz brutal die Welt beendet
wird, die Frevler sterben und die Gerechten zu Gott kommen, ist typisch
für eine jüdische Apokalyptik und Jesus“, so der Forscher.
Erstmals ein liebender Gott
Neu ist in der Quelle Q bei Jesus, dass Gott nicht nur richtet,
sondern auch als liebender Gott auftritt. Neben dem strengen richtenden
Bild von Gott zeigt Q Gott als Retter und liebenden Vater oder Mutter –
und damit eine neue Perspektive im Neuen Testament. Als Beispiel nennt
Heil die Erzählung vom verlorenen Sohn im Lukas-Evangelium. „Gott will
als Vater, dass der abgefallene Sohn zum Guten findet. Das ist für eine
damalige jüdische Umwelt ziemlich erstaunlich.“ Eine Spannung, die die
Theologie aushalten müsse, meint der Theologe: „In der Bibel geht es
nicht nur um das Gericht, aber auch nicht nur Friede, Freude,
Eierkuchen.“
LEXIKON
Die Quelle Q, auch Logienquelle Q genannt,
gilt neben Markus als zweite Quelle für die Evangelisten Matthäus und
Lukas. Die Bezeichnung Q kommt vom Wort Quelle; Logienquelle aus dem
Griechischen: logion bedeutet Ausspruch.
Als Synoptiker werden die Evangelien nach Markus,
Matthäus und Lukas bezeichnet, deren Texte weitgehend übereinstimmen und
einen parallelen Aufbau besitzen.
Als Hannah Arendt zum Totalitarismus forschte, um die Strukturmerkmale der Terrorherrschaften Hitlers
und Stalins von denen herkömmlicher Diktaturen abzuheben, pochte sie
wiederholt auf die Macht des Glaubens an ideologisch-fiktive Welten. Es
ging ihr um ein „buchstäbliches Ernstnehmen ideologischer Meinungen“.
Arendt zufolge suspendierten das „Recht der Natur“ bei Hitler und das
„Gesetz der Geschichte“ bei Stalin hergebrachte Moralvorstellungen und
positives Recht. Die beiden fundamentalen Zivilisationsbrüche des 20.
Jahrhunderts wurden demnach nicht durch den willkürlichen Willen zweier
Machthaber, sondern durch ideologisch fundierten Terror und eine qua
Gewalt etablierte Ordnung bedingt.
Der in Rostock geborene Berliner Historiker
Christian Teichmann, der für seine Forschung zu Stalins Herrschaft in
Zentralasien von 1920 bis 1950 jüngst den Hannah-Arendt-Preis für
politisches Denken erhielt, wendet sich in Teilen gegen diese These.
Indem er im Hinblick auf den Stalinismus eben gerade das Moment der
Willkür zentriert und das Prinzip Unordnung als wesentlichen
Machtmechanismus beschreibt, denkt er auf den Schultern Hannah Arendts
über Hannah Arendt hinaus.
Ein Klima von ständiger Unsicherheit und Angst entsteht
Was aber meint „Unordnung“? In welcher Weise trat sie in der Stalin’schen Herrschaftsausübung
zutage? „Es gibt die Überzeugung, dass sich der Aufbau staatlicher
Herrschaft in geordneten Bahnen vollzieht; dass Machtprozesse sich
institutionalisieren, sich in Organisationen und Bürokratien
ausdrücken“, sagt Teichmann. Gemeinhin gehe man davon aus, dass es
selbst in der rigidesten Diktatur noch klare Regeln gebe, sich mit der
Zeit gewisse Routinen einstellten. Was für den Stalinismus bezeichnend
sei, ja womöglich seinen Kern ausmache, sei nun aber, dass er besagte
Herrschaftsroutinen zu keiner Zeit habe aufkommen lassen.
„Unordnung“ meint demzufolge eine Machttechnik, die über die permanente
Umgestaltung von Strukturen und Lebensverhältnissen ein Klima ständiger
Unsicherheit und Angst erzeugte. Stalins omnipräsente Willkürherrschaft
offenbarte sich laut Teichmann nicht nur in der durch
Einzelfallentscheidungen geprägten Ressourcenverteilung. Sie zeigte sich
auch in der Geheimhaltung von Beschlüssen, der wiederholten Abwandlung
der Generallinie und der ständigen Umformung staatlicher Behörden. Zu
keiner Zeit konnte sich irgendwer seiner Sache wirklich sicher sein.
Durch ständige „Säuberungen“ und die permanente Gefahr, nicht mehr auf
dem neuesten Stand zu sein, wurde jede Wette auf die Zukunft, jede
Erwartungssicherheit unterhöhlt.
Die Propagandamaschine erzählte eine andere Geschichte
Zwar gab es im ökonomischen Bereich, in Sachen
Elektrifizierung, groß angelegter Bewässerung und Rohstoffanbau klar
definierte Ziele – eine autarke Baumwollwirtschaft der Sowjetunion zum
Beispiel. Viele Historiker und Sozialwissenschaftler gingen aber davon
aus, dass die sowjetischen Kommunisten gegen Chaos und Unordnung mit dem
Vorhaben angingen, eine vollkommen neue gesellschaftliche Ordnung zu
errichten, die auf Eindeutigkeit, Klarheit und Kontrolle basierte, sagt
Teichmann.
Tatsächlich sei im Stalinismus ein eklatantes
Missverhältnis zwischen Ideologie und lokaler Praxis festzustellen.
Freilich redete die Propaganda dem neuen Menschen und dem weltweiten
Export von Sozialismus und Emanzipation das Wort. Die konkrete
Machtausübung war jedoch weit weniger ambitioniert, als die
Propagandamaschine glauben machte.
Chaos und plötzlicher Terror
„Die Moskauer Staatsmacht strebte keine utopische Neuordnung der
Verhältnisse an“, sagt Teichmann. „Stalins Herrschaft hatte einen ganz
anderen Charakter: Sie war durch spontane und willkürliche Eingriffe in
die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten geprägt.“ Der Stalinismus
offenbarte sich durch Chaos und plötzlichen Terror als eine Machtform,
der es primär darum ging, sich selbst an der Macht zu halten. Am
Beispiel der stalinistischen Herrschaft in Zentralasien könne man sehen,
so Teichmann, dass die Macht nicht notwendig als stabiles System
erscheint, das sich in staatlichen Institutionen verdichtet. Die Macht
basierte nicht auf „Ordnung“; sie habe sich vielmehr im Sinne Niklas
Luhmanns als bloße „Einflussform“, in Gestalt von „negativen Sanktionen“
gezeigt.
Die für die Verleihung des
Hannah-Arendt-Preises verantwortliche Jury erklärte, Christian Teichmann
habe mit seinem Buch „Macht der Unordnung“ einen Neuansatz in der
Erforschung des Totalitarismus begründet, indem er darlege, dass nicht
Ordnung für die totalitäre Machtentfaltung unentbehrlich sei, sondern
deren systematische Zerstörung.
„Totalitäre Systeme
werden gemeinhin von oben erklärt, ausgehend von der Apparateherrschaft,
der Partei, der Bürokratie, den gleichgeschalteten Medien usw.“, sagt
Teichmann. Er selbst habe einen anderen Weg gewählt und das System von
unten beschrieben, vom Erleben der Leute her und so, wie es sich in den
Dörfern und Steppen Zentralasiens jeweils konkret verwirklicht habe. - Christian
Teichmann: Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920
– 1950, Hamburger Edition 2016, 294 Seiten, 28 Euro.
Nota. -Einen Unstaat hat der Historiker Franz Neumann den Nationalsozialismus genannt, nicht "Leviathan", der seine Ordnung mit blinder Gewalt durchsetzt, sondern "Behemoth", der mit Gewalt Unordnung schafft, um zur Willkür freie Hand zu haben.
Stalins Regime in Russland einen bürokratischen Totalitarismus zu nennen, ist richtig, weil es widersprüchlich ist. Stalin konnte seine totale persönliche Macht etablieren, weil er der unumstrittene Repräsentant der aufstre- benden gesellschaftlichen Kaste der Sowjetbürokraten war. Aber er kam an die Macht an der Spitze einer akuten Konterrevolution, deren Zweck zuerst die Zerstörung der - naturgemäß vorübergehenden - revolutionären Ordnung war, bevor sie an den Aufbau ihrer eigenen bürokratischen Routinemaschinerie gehen konnte.
Der totalitäre Terrorismus vertrug sich nicht dauerhaft mit der bürokratischen Grundlage, oder, mit den Polito- logen zu reden, der 'charismatische' Charakter der persönlichen Autokratie musste, sobald die bürokratische Herrschaft konsolidiert war, dem Bleigewicht der Nomentklatura weichen, wo nicht länger Terror ein Instru- ment der Willkür, sondern Willkür ein systemisches Korrelat der Schlamperei war. Darum war das charismati- sche Zwischenspiel Nikita Chruschtschows nur von kurzer Dauer. Schnell wurde er vomlähmenden Gleich- gewicht derKollektiven Führung und Breschnews "Zeitalter der Stagnation" abgelöst. JE