Freitag, 31. Januar 2014

Akademisches Prekariat.

Ich-und-Du  / pixelio.de

Niedriglöhne für Akademiker: Studium lohnt nicht immer
Fast jeder zehnte deutsche Akademiker arbeitet für einen mageren Stundenlohn von unter 10 Euro.
Etwa 8,6 Prozent der abhängig Beschäftigten mit einem Hochschulabschluss waren im vorletzten Jahr auf dem Niedriglohnsektor tätig, ergab eine neue Berechnung des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen, die der "Welt am Sonntag" vorliegen. Damit liegen rund 688.000 Menschen unter der Niedriglohnschwelle, die das Institut mit zwei Drittel des mittleren Stundenlohns definiert. Im Jahr 2012 entsprach das einem Bruttostundenlohn von 9,30 Euro.
Obwohl es im Jahr zuvor noch 9,3 Prozent waren, sieht IAQ keine wirkliche Gegenentwicklung. Es gebe bei akademisch ausgebildeten Arbeitnehmern einen konstanten Wert von Geringverdienern, sagte Claudia Weinkopf von der Uni Dusiburg-Essen. Dieser liege seit Jahren grob zwischen sieben und fast zwölf Prozent. Ein Ungleichverhältnis gibt es zwischen den Geschlechtern. Sind bei den Männern nur 6,1 Prozent im Niedriglohnsektor tätig, so sind es mit 11,4 Prozent fast doppelt so viele weibliche  Akademiker.

Weniger oft arbeitlos

Einen Lichtblick gibt es für die akademische Arbeitslosigkeit. Akademiker werden seltener arbeitslos, die Quote liegt unter drei Prozent. Dennoch konnten sich die Akademiker von der 2013 gestiegenen Arbeitslosigkeit nicht entkoppeln. Mit über 191.000 arbeitslosen Akademikern gibt es laut der Bundesagentur für Arbeit (BA) um 13 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Grund dafür sind laut BA die deutlich gestiegenen Absolventenzahlen, gekoppelt mit einer "etwas verhalteneren" Akademikernachfrage der Unternehmen.

>> Bericht in "Welt am Sonntag"

(red.)


Nota.

Die sprichwörtlichen Taxifahrer mit Dr. phil. sind dabei nicht mitgezählt: Das ist nicht der Niedriglohnsektor.
JE 

Donnerstag, 30. Januar 2014

Die neolithische Tretmühle.

Bauer in Asagirt, Äthiopien


Unbewusste Heldentaten
Mit seiner grandiosen Geschichte des Ackerbaus gibt Hansjörg Küster den gegenwärtigen Debatten darüber, was wir essen und was wir sind, eine historische Perspektive.
 
Von Burkhard Müller

Hansjörg Küster hat uns bereits eine Geschichte des Waldes, der Elbe, des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs und der Landschaft in Mitteleuropa gegeben. Diesmal geht der Pflanzenökologe an der Universität Hannover aufs Ganze und legt "Eine andere Geschichte der Menschheit" vor - dies der Untertitel seines neuen Buchs "Am Anfang war das Korn".

Die Menschheit mag stolz sein auf ihre Imperien, Kathedralen und Mondreisen, aber alles das basiert auf einer Grundvoraussetzung, über die sie nur selten nachdenkt: dem Ackerbau. "Ohne Kulturpflanzen", beginnt der Autor seine Erzählung, "wäre die Geschichte der Menschheit völlig anders verlaufen.

Vielleicht hätte sie gar nicht stattgefunden. Menschen wären Jäger und Sammler geblieben, die sich die Erde nicht untertan gemacht hätten. Die Schrift wäre nicht erfunden worden, weil sie nicht gebraucht wurde. Menschen hätten keine Städte und Staaten gegründet, weil dazu keine Notwendigkeit bestand, hätten nie Industrieanlagen gegründet.

Weichenstellung der besonderen Art 

Es war eine Weichenstellung besonderer Art, die die Menschen vor etwa zehntausend Jahren dazu brachte, Pflanzen oder Teile von ihnen nicht nur zu sammeln, sondern auch zu produzieren: durch Anbau von Kulturpflanzen auf einem Feld oder in einem Garten."

Lange wusste man sehr wenig über jene schriftlose Vorzeit, in der diese erstaunliche Weichenstellung geschehen war. Fast ausschließlich auf die kärgliche Evidenz von Gerätefunden angewiesen, sortierte die Geschichtsschreibung die Epochen nach Stein-, Bronze- und Eisenzeit, obwohl der entscheidende Epochenbruch noch mitten in der Steinzeit geschah.


Und obwohl noch immer sehr vieles, ja das Meiste dieser frühen Revolutionäre im Dunkel liegt und man kaum weiß, was für eine Rasse, Sprache, Religion sie hatten, lässt sich doch inzwischen ziemlich detailliert nachzeichnen, was sie aßen und wo sie es herbekamen.

An vielen Stellen annähernd gleichzeitig wurde nach dem Ende der letzten Eiszeit die gleiche Entdeckung gemacht: dass man das Leben sichern und erleichtern und viel mehr Menschen auf demselben Stück Land das Dasein ermöglichen konnte, wenn man ein kleines Set einander ergänzender Pflanzen planvoll auf einem Acker ausbrachte.

Dazu gehörten immer mindestens zwei Arten Getreide (in den Tropen: Knollengewächse), ein Öl- und ein Proteinlieferant sowie eine Faserpflanze für die Kleidung. Im vorderasiatischen Raum, der zur Keimzelle auch der gesamten europäischen Landwirtschaft wurde, waren das Einkorn, Emmer, Gerste, ferner Linsen und dicke Bohnen, dann Flachs und Hanf.

Man erfährt ziemlich viel über diploide und tetraploide Kreuzungen, darüber, unter welchen Mühen Kulturrassen von Wildpflanzen abgetrennt wurden und wie viel es die frühen Menschen gekostet haben muss, bis sie Ähren hatten, aus denen die Körner nicht herausfielen, sobald sie reif waren, sondern beieinanderblieben, bis man sie auf einmal drosch.

Oder Küster vergleicht den antiken Wirtschaftsraum des Mittelmeers und den mittelalterlichen der Ostsee und kommt zum Ergebnis, dass ein zukunftsfähiges Modell des Welthandels, obwohl auf einer begrenzten Fläche, tatsächlich erst auf der Ostsee eingeübt wurde: weil hier nämlich alle Anrainer unterschiedliche Erzeugnisse lieferten - der Süden Getreide und weitere Nahrungsmittel, der Norden Holz, Eisen und anderen Rohstoff - und erst in deren Austausch zu einem Ganzen fanden.

Das Buch bietet eine tiefe Geschichte, die sich nicht von oberflächlichen Bewegungen in Raum und Zeit beirren lässt. Es wird ersichtlich, wie kohärent das Geschick der bodenbestellenden Zivilisationen seit den frühen Anfängen verlief, aber auch, wie viel grundstürzender die Veränderungen waren, die das alltägliche Leben betrafen.

Zerstörerischer Raubbau in jeder Hinsicht 

Europa war, wie der Autor es sieht, in der frühen Neuzeit ökologisch am Ende; mit begrenzten Mitteln und Methoden betrieb es zerstörerischen Raubbau in jeder Hinsicht, an Boden, Wasser und Wäldern, und es bestand die akute Gefahr, dass eine komplette Zivilisation unterging, ähnlich wie bereits die römische während der Völkerwanderungszeit.

Da wurde, sozusagen gerade rechtzeitig, Amerika entdeckt, das bislang unbekannte, hochergiebige Massennahrungsmittel wie Kartoffeln und Mais lieferte, neue Konzepte zur Nachhaltigkeit wurden entwickelt und der Druck von Wald und Boden genommen, indem man Kohle (zum Brennen) und Kunstdünger (zur Wiederherstellung der Fruchtbarkeit) nutzte, Entlastung für die Lebenssysteme also aus dem Reich des Unbelebten nahm.

Von wegen gute alte Zeit! Das, was man sich immer so darunter vorstellt, die bunten Blumenwiesen und hübschen Bauerngärten, sind junge Errungenschaften. Wiesen muss man düngen, was aufwändig ist, und dazu im Besitz der Sense sein. Und Gärten legten die Bauern erst in der Neuzeit an, ja eigentlich erst im 19.und 20. Jahrhundert - das unterblieb vorher schon aus dem Grund, weil so ziemlich alle heutigen Gemüse- und Obstsorten ganz junge Züchtungen darstellen. Das Essen im Mittelalter muss ungeheuer fade und monoton gewesen sein.

Absage an den naiven Kampfruf "Zurück zur Natur!" 

So bedeutet dieses Buch vor allem eine Absage an den naiven Kampfruf "Zurück zur Natur!". Die Alternative von Kultur und Natur stellt sich ihm gar nicht: Auf der einen Seite war Landwirtschaft nie Natur. Auf der anderen Seite gedeiht aber auch die Kultur der Pflanzen und Tiere immer nur, indem sie sich natürliche Lebens- und Wachstumsprozesse zunutze macht.

Küster betrachtet manche panisch geführten Diskussionen der Gegenwart mit Gelassenheit. Warum sollte es keine gentechnischen Veränderungen geben? Leisten sie doch nur auf kürzerem Weg, wozu die klassische Züchtung länger braucht, nämlich die Veränderung des Erbguts. Sollte es Eigentumsrecht und Patente auf so erzeugte neue Pflanzensorten geben?

Das, meint der Autor, sei unter wirtschaftlichen und juristischen Gesichtspunkten vielleicht wünschenswert, biologisch aber undurchführbar, da jede Sorte sich in den Folgegenerationen schon wieder neu zu verändern beginnt, so dass gar nichts in der Hand bleibt, was sich patentieren ließe.

Gerade weil Küster im Hauptberuf Ökologe ist, sieht er ökologische Fragen differenzierter. Ein gespritzter Apfel belastet den Konsumenten nicht mit Chemikalien; aber ein ungespritzter dafür vielleicht mit noch viel ungesünderen Schimmelpilzen. Sind die vielen Lebensmittelskandale der jüngeren Zeit ein Zeichen, dass die Qualität der Nahrungsmittel zurückgeht?

Eher im Gegenteil, sie beweisen, dass die Kontrollen schärfer geworden sind und der allgemeine Standard also gestiegen ist. Die heutige industrielle Landwirtschaft bereitet Probleme, gewiss; aber sie sorgt auch dafür, dass das Gros der Menschheit so gut ernährt werden kann wie noch nie in der Geschichte.

Nahrungsmittel sind heute jederzeit ohne Anstrengung preiswert überall zu haben, ein Supermarkt ist der wahre Garten Eden - wollen wir das wirklich aufgeben? Die Infrastruktur der Versorgung hält Küster für die wahre zivilisatorische Großtat der Menschheit, nicht minder bemerkenswert, weil sie kollektiv und heldenlos vollbracht wurde.

Der Mensch ist, was er isst: Dieser alten Binse verleiht Küster eine neue Tiefe und Evidenz und gibt den gegenwärtigen Debatten darüber, was wir essen und sind, historische Perspektive.

Wenn man gegen das Buch etwas einwenden könnte, dann höchstens, dass es angesichts der Riesenhaftigkeit seines Themas allzu schmal ausgefallen ist. Rund 250 Pflanzen-Spezies zählt das Register zwischen Ackerbohne und Zwiebel auf; es ist dann doch zu viel, als dass alle zu ihrem Recht gelangen könnten.

Der Mittelteil geht da manchmal etwas ins Listenförmige über. Auch wäre der Leser zuweilen, da er eben doch tief in die Botanik speziell der Getreidesorten hinein muss, für einige Kommentare und besonders Zeichnungen dankbar gewesen.

Der Raum dafür hätte sich leicht finden lassen, wenn die zahlreichen Wiederholungen bestimmter Details ausgedünnt worden wären; der Information etwa, dass Hartweizen sich wegen seines hohen Gluten-Gehalts vor allem für die Herstellung von Nudeln eignet, begegnet man gleich viermal.

Davon sollte man sich jedoch die Lektüre dieses gehaltvollen und aufschlussreichen Werks nicht verderben lassen. Sein größter Mangel und zugleich das Beste, was sich von ihm sagen lässt: Es enthält in embryonaler Gestalt noch eine ganze Reihe weiterer Bücher, die darauf warten, geschrieben zu werden.

Hansjörg Küster: Am Anfang war das Korn. Eine andere Geschichte der Menschheit. Verlag C.H. Beck, München 2013. 298 Seiten, 24,95 Euro


Nota. - Was aber die Menschen veranlasst haben mag, das abwechslungsreiche Jagd- und Wanderleben gegen das ebenso mühselige wie eintönige Landleben einzutauschen, ist noch immer ein Rätsel. Denn unmittelbar hat der Übergang zu Getreidenahrung den Menschen mehr geschadet als genützt, sie ernährten sich schlechter als zuvor. Und Überbevölkerung, Massenelend und Klassenkämpfe verdanken wir ebenfalls der sesshaften Lebensweise und der Beugung des Menschen unter das Joch der Arbeit. Die jüngste Hypothese, dass es die alkoholische Gärung war, die unsern Vorvätern das Getreide unverzichtbar werden ließ, wäre, wenn sie zuträfe, auch kein großer Trost, denn das bisschen Frohsinn wird doch mit all dem Katzenjammer viel zu teuer erkauft.
JE 

Donnerstag, 23. Januar 2014

Ein neurasthenisches Zeitalter.

 
aus NZZ, 21. 1. 2014                                                                                                            Edvard Munch, Selbstporträt 1915

Überreizte Nervensysteme
Überforderung, Erschöpfung, Furcht - Wolfgang Martynkewicz über die Zeit um 1900

von Lea Haller · Es gehört zu den kleinen narzisstischen Überheblichkeiten unserer Zeit, dass wir denken, unsere Belastungen unterschieden sich radikal von allem Vorhergegangenen. Beschleunigung, Dauerweiterbildung, Informationsflut, die Durchdringung unseres Alltags mit Rechnerleistung, dazu soziale Umbrüche, die es zu verdauen gilt, neue Arbeitswelten, neue Familienmodelle, ein neuer Kapitalismus, ein neues Europa - wir sind erschöpft. Stress und Burnout sind unser Markenzeichen und werden in populärer Literatur zuhauf diagnostiziert. Ein Arsenal an Wellnessangeboten richtet sich an die Erholungsbedürftigen. In dieser Situation lohnt es sich, einen Blick zurückzuwerfen: War vor uns auch schon jemand müde?

Seuchen, Börsenkrach, Kriege

Ja, und wie. In «Das Zeitalter der Erschöpfung» liefert Wolfgang Martynkewicz keine weitere Bestätigung derzeitiger Stressdiagnosen, sondern eine Rückblende auf die gesellschaftlichen Nöte um 1900. Denn bereits damals grassierte eine überwältigende «Überforderung des Menschen durch die Moderne» (so der Untertitel des Buches), die kaum jemanden verschonte. Nicht nur die empfindsamen Seelen und schwächlichen Konstitutionen von Franz Kafka oder Rainer Maria Rilke wurden von Ermüdung, Nervosität und plötzlicher Erschöpfung heimgesucht, es traf auch scheinbar so standfeste Personen wie Otto von Bismarck, Cosima Wagner und Max Weber. Die ganze Gesellschaft lebe in einer sich geradezu pandemisch ausbreitenden Furcht und Ängstlichkeit, hielt der Psychiater Richard von Krafft-Ebing 1880 fest, vor lauter Sorge kämen die Menschen gar nicht mehr zum ruhigen Genuss ihres Daseins. Sie fürchteten sich «vor Seuchen, politischen Umwälzungen, Börsenkrachs, Kriegen, vor dem Socialismus u. a. schrecklichen Dingen»; und diese wachsende Furcht führe zu einem «erregten und überreizten Nervensystem», das grosse Mengen an Energie verbrauche, so dass der Mensch immer kraftloser werde.

In lose aneinandergereihten Kapiteln und durchwegs assoziativ verfolgt Martynkewicz dieses Reden über Neurasthenie, die minuziösen Beschreibungen der Symptome, die Szenarien des sozialen Zerfalls und die Lösungsversprechen und Heilsangebote. Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Hugo von Hofmannsthal, Herrmann Bahr, Thomas Mann und Oswald Spengler kommen ebenso zu Wort wie Vertreter der Lebensreformbewegung, die den Weg zu einem neuen, gesünderen und leistungsfähigeren Menschen weisen wollten, aber auch Eugeniker wie Alfred Ploetz, Alfred Grotjahn oder die Reformpädagogin Ellen Key, die einer Verbesserung des angeblich degenerierten «Menschenmaterials» durch aktive Selektionsmassnahmen und Rassenhygiene das Wort redeten.

Im Gegensatz zu den unlängst erschienenen Büchern von Mark Jackson («The Age of Stress. Science and the Search for Stability», Oxford University Press) und Patrick Kury («Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout», Campus) lässt dasjenige von Martynkewicz allerdings kein tiefergehendes historisches Interesse erkennen, sondern eher ein voyeuristisches. Die zahlreichen, über weite Strecken geführten Zitate wirken - zumal bei fehlendem Kontext - eher ermüdend. Mehr zufällig gelingt es dem Autor, einige der losen Fäden zu verknüpfen.

Krankheit am Leben

Ein solcher Knotenpunkt ist der Münchner Naturmediziner Ernst Schweninger, der seinen Patienten (darunter Bismarck) ein individuell zugeschnittenes Lebensführungsprogramm auferlegte, mit detaillierten Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltensvorschriften. Der Arzt wurde im Zeitalter der Erschöpfung zum Soziologen und zum Phänomenologen. Denn die Erschöpfung, so Martynkewicz, sei weder eine Krankheit des Körpers noch eine Krankheit der Seele gewesen, sondern eine Krankheit am Leben: Der erschöpfte Mensch lebte nicht «richtig», er musste sein Leben korrigieren, um zu sich selbst zurückzufinden.

Das versuchte er um 1900 mit Abhärtung, Kuraufenthalten, Arbeitseifer, Turn- und Atemübungen, Aufputschmitteln, Vegetarismus, verjüngenden Organextrakten, Askese, Nackt- und Freiluftkultur. Und das versucht er heute mit Diäten, Leistungssport, mentalem Training, Wellness-Reisen, Schlafmitteln und dem Bemühen um die optimale Work-Life-Balance. Da sich all diese Therapieangebote auf das Selbst richten, so das Fazit von Martynkewicz, verfehlen sie allerdings schon im Ansatz ihr Ziel. Denn das Zeitalter der Erschöpfung - und damit die ganze Moderne - sei im Kern nichts anderes als das Zeitalter einer zunehmenden Weltlosigkeit. - Bleibt die Frage, wie sich der Verlust von Sinn und Weltbezug um 1900 von den heute diagnostizierten Zerfallserscheinungen unterscheidet und ob nicht vielleicht das Bürgertum des 19. Jahrhunderts und die Boomgeneration der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die grossen und erklärungsbedürftigen Ausnahmen waren in einer Welt, die noch nie stabil gewesen ist.

Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Aufbau-Verlag, Berlin 2013. 427 S., Fr. 38.90.

Mittwoch, 22. Januar 2014

Beste Grüße aus Davos.


Lars Paege  / pixelio.de
aus NZZ, 22. 1. 2014

Neugestaltung der Welt
Die nächste Phase der Globalisierung sollte weniger Risiken und Ungerechtigkeiten schaffen, dafür umso mehr Chancen. Die Neugestaltung der Welt verlangt kollektive Einsicht und gemeinsames Handeln. 

Von Klaus Schwab

Seattle, Prag, Genua, Melbourne: In diesen Städten kam es vor mehr als einem Jahrzehnt zu gewalttätigen Demonstrationen gegen ein diffuses Feindbild - die «Globalisierung». Die Proteste richteten sich gegen Treffen hochrangiger Vertreter internationaler Institutionen wie der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank und nicht zuletzt auch gegen unsere eigenen Veranstaltungen des World Economic Forum. Im Rahmen dieser Treffen wurde die Gewalt der Demonstranten zwar einstimmig verurteilt, aber in Bezug auf deren Anliegen und die entsprechende Reaktion darauf war man geteilter Meinung.

Fehlende Koordination

Viele Teilnehmer dieser Treffen realisierten, dass die immer enger vernetzte Welt auf ihrem immer schnelleren Kurs ins 21. Jahrhundert gleichzeitig auch ungerechter und anfälliger wurde. Aber nur wenige waren sich darüber einig, was zu tun war. Es mangelte an der nötigen Koordination und Übereinstimmung, um mit der Komplexität dieser neuen Welt in geeigneter Weise umzugehen. Heute bezahlt die Welt den Preis für die Unentschlossenheit und die Uneinigkeit, die damals herrschten. Unsere Jahrestreffen in Davos waren in jüngster Zeit des Öfteren von einer einzigen Frage bestimmt, mit der sich die Weltgemeinschaft konfrontiert sah. Ob weltweite Finanzkrise, «arabischer Frühling» oder drohender Zusammenbruch des Euro - die Führungsverantwortlichen kamen zumeist mit einem Hauptanliegen nach Davos und waren gezwungen zu reagieren.

Heute stellt sich die Lage anders dar. Wir haben es mit einer Welt vieler möglicher Krisenherde zu tun, deren Anzahl wohl noch zunehmen wird. Man denke dabei nur an die Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten, das Auslaufen der Wertpapier-Notkäufe der amerikanischen Notenbank (Fed), die Spannungen im Südchinesischen Meer oder die weltweite Jugendarbeitslosigkeit, von der 75 Millionen Menschen betroffen sind.

Ich bin der Meinung, dass diese Lage auf ein kollektives Versagen im internationalen Umgang mit den Folgen der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten zurückzuführen ist. Im Grunde genommen war die Botschaft der Globalisierungsgegner in der Zeit der Jahrhundertwende klar und richtig: Es besteht keine geeignete weltweite Governance, um mit den Konsequenzen der bereits in Gang gekommenen Neugestaltung der Welt umzugehen. Dem ist immer noch so, und die Herausforderungen der Welt von heute sind erst noch komplexer geworden.

Seit der Jahrhundertwende sind bereits Hunderte Millionen von Menschen dank der Globalisierung aus der Armut herausgekommen. Viele dieser Menschen sind in neue städtische Ballungsräume gezogen und zu Kunden der Weltwirtschaft geworden, die Infrastruktur und Ressourcen benötigen, was wiederum der Robustheit der Versorgungsketten und der Qualität des Krisenmanagements grössere Bedeutung verleiht.

Die Treibhausgasemissionen steigen weiterhin unvermindert an, und die Bemühungen der Weltgemeinschaft um eine koordinierte Reaktion auf diese komplexe Tragik der Allmende sind in sich zusammengebrochen. Auf den weltweiten Finanzmärkten lässt sich mehr als nur deutlich erkennen, wie katastrophal sich latente Risiken und unkoordinierte Gegenmassnahmen auf der ganzen Welt auswirken können. Gleichzeitig verändert die immer schnellere technologische Entwicklung unseren Alltag in jeder erdenklichen Hinsicht, von unserer Fähigkeit zur Bildung von Gemeinschaften bis hin zu den Quellen und der Zusammensetzung unserer Energieversorgung. Die Nutzung von Technologie durch Staat und Wirtschaft wirft die Grundsatzfrage auf, was unter Privatsphäre genau zu verstehen ist und welche Stellung eine Einzelperson in der modernen Gesellschaft einnimmt.

Alle diese Beispiele machen deutlich, dass die moderne, vernetzte Welt zwei Seiten hat, nämlich eine glänzende Vorderseite und eine komplexe und unberechenbare Kehrseite. Deswegen ist eine stärkere und bessere Koordination der weltweiten Bemühungen zur Milderung und Bewältigung der Folgen gefragt.

Die Führungspersönlichkeiten dieser Welt kommen dieses Mal in Davos zusammen, ohne sich mit einer unmittelbaren Krise auseinandersetzen zu müssen. Sie sollten deshalb den nötigen Freiraum haben, um sich auf langfristiges Denken konzentrieren zu können. Das Leitthema des Jahrestreffens «The Reshaping of the World: The Consequences for Society, Politics and Business» (zu Deutsch etwa «Neugestaltung der Welt und deren Bedeutung für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft») verweist darauf, dass die Anwesenden aufgefordert sind, von Grund auf neu einzuschätzen, wie sich die tektonischen Platten der Welt im Bezug zueinander verschieben, um dann aufgrund der Erkenntnisse die zu erwartenden Erdbeben besser voraussehen und wirksamer abfedern zu können.

Vernetztheit nutzen

Wenn wir mit unserem Einfallsreichtum und unserer Vernetztheit einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen leisten wollen, statt die schlimmsten Befürchtungen der Globalisierungsgegner zu bestätigen, so müssen sich die Führungsverantwortlichen aus dem endlosen Strom schnell aufeinanderfolgender Krisen losreissen können. Die Demonstrationen um die Jahrhundertwende erinnern uns daran, dass sich die in dieser Woche geführten Debatten nicht nur auf den Zustand der Welt im Jahr 2014 oder in den kommenden zehn Jahren, sondern auch auf unsere langfristige gemeinsame Zukunft auswirken werden.

Wir dürfen es nicht zulassen, dass die nächste Phase der Globalisierung genauso viele Risiken und Ungerechtigkeiten schafft wie Chancen. Die Neugestaltung der Welt verlangt kollektive Einsicht und gemeinsames Handeln.

Klaus Schwab ist Gründer und Executive Chairman des World Economic Forum (WEF)


Nota.

"Wir dürfen es nicht zulassen...": Das ist Beschwörung und frommer Wunsch. Aber der Beitrag hat den Vorzug, die Themen aufzuzählen und zueinander in ein Verhältnis zu setzen. Er versimpelt die Dinge, aber genau darin besteht der Auftrag von Politkern: Die Dinge so weit zu vereinfachen, dass klare Entscheidungen möglich werden. Nicht jede Vereinfachung ist gelungen; aber darüber kann man erst streiten, wenn welche vorliegen.
JE 

Dienstag, 21. Januar 2014

Wirtschaften im realexistierenden Serbien.

aus NZZ, 21. 1. 2014


Staatslastige Wirtschaft in Serbien
Die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union verstärken den Reformdruck

von Thomas Fuster, Wien

Serbien tritt mit der EU in Beitrittsverhandlungen. Damit erhöht sich der äussere Druck, verlustreiche Staatsfirmen nicht länger künstlich am Leben zu erhalten. Gegen Privatisierungen mobilisiert sich aber Widerstand.



Die Erwartung ist gross. Der serbische Regierungschef Ivica Dacic will gar von einer neuen politischen Ära sprechen. Den Anlass für seine rhetorische Überschwänglichkeit liefern die an diesem Dienstag in Brüssel beginnenden Beitrittsverhandlungen mit der EU. Von den Verhandlungen erhofft sich Belgrad nicht nur eine Stärkung des internationalen Vertrauens in den Balkanstaat, der in den vergangenen Jahrzehnten vorab auf Negativschlagzeilen abonniert schien. 

Dank engerer Anbindung an die EU sollen auch dringend benötigte Investitionen ins Land gelockt werden. Stolpersteine auf dem zweifellos noch sehr langen Weg bis zur möglichen EU-Mitgliedschaft gibt es aber viele. Dazu gehören zum Ersten politische Hürden wie das diffizile Verhältnis zu Kosovo; zum Zweiten steigt Serbien auch wirtschaftlich nicht aus einer Position der Stärke in die Verhandlungen.


Gefährliche Schuldendynamik


Hätte es noch eines Belegs bedurft für die desolate Wirtschaftslage Serbiens, so lieferte ihn Ende vergangener Woche die Rating-Agentur Fitch. Die Agentur senkte ihr langfristiges Rating von «BB-» auf «B+», womit Investitionen in Serbien noch tiefer ins Loch spekulativer Anlagen fallen. Sorgen bereitet vor allem die sich stetig verschlechternde Lage der Staatsfinanzen. So dürfte das konsolidierte Defizit dieses Jahr bereits im vierten Jahr in Folge steigen, und zwar auf alarmierende 7,1% des Bruttoinlandprodukts (BIP), nach bereits hohen 6,5% des BIP im Vorjahr. Trotz Steuererhöhungen und moderaten Einsparungen bei öffentlichen Löhnen dreht sich die Schuldenspirale immer schneller. Der derzeit bei 63% des BIP liegende Schuldenstand dürfte bis 2015 nach Einschätzung von Fitch auf bereits 70% des BIP klettern.


Für die Schieflage massgeblich verantwortlich ist die Vielzahl defizitärer Staatsunternehmen. Deren Zahl wird auf über 600 veranschlagt. Zahllose Regierungen haben schon einen Umbau dieser Firmen, die traditionell schlecht geführt, personell überbelegt und somit höchst ineffizient sind, angekündigt. Geschehen ist aber wenig: Jahr für Jahr werden die Unternehmen, die in Bereichen wie Energie, Transport und Kommunikation den Markt verzerren, mit Staatsgarantien, Überbrückungskrediten und ad hoc verteilten Subventionen künstlich am Leben erhalten. Das ist durchaus lukrativ für die jeweils an den Futtertrögen stehenden Parteien, welche die Führung der Staatsfirmen unter sich aufteilen. Wenn daher die meisten Privatisierungsversuche bisher aus angeblichem Desinteresse der Investoren scheiterten, waren deswegen viele Politiker wohl kaum unglücklich.


Mit den Regeln der EU sind die hohen Staatshilfen aber nicht länger kompatibel. Den Beleg liefert das benachbarte Kroatien, wo die am Tropf des Staates hängenden Schiffswerften im Zug der Beitrittsverhandlungen ebenfalls umgebaut und privatisiert werden mussten. Die Zeichen der Zeit erkannt hat der serbische Wirtschaftsminister Sasa Radulovic. Der politische Quereinsteiger ohne Parteibuch macht sich stark für eine zügige Veräusserung oder Schliessung von 179 Staatsfirmen, die besonders tief verschuldet und besonders belastend sind für den Staat. Radulovic, der als ehemaliger Konkursverwalter einige Erfahrungen hat mit insolventen Firmen, scheint es für einmal durchaus ernst zu sein mit Reformen. Er fordert neben einer Forcierung von Privatisierungen auch eine Flexibilisierung des allzu rigiden Arbeitsmarktes und der Konkursgesetze.


Gut organisierter Widerstand


Unklar ist, ob Politiker wie Radulovic durch die Beitrittsverhandlungen genug Rückenwind erhalten, um die Entstaatlichung auch gegen gut organisierte Partikularinteressen von Parteien, Gewerkschaften und Pensionären durchsetzen zu können. Bereits fordern die Gewerkschaften den Rücktritt des Ministers und kündigen Streiks an, sollten die geplanten Privatisierungen, die 2014 mit dem Verlust von mehreren zehntausend Stellen verbunden wären, umgesetzt werden. Das Szenario vorgezogener Neuwahlen wird daher zusehends wahrscheinlicher. Für Serbiens ökonomische Erneuerung könnte dies durchaus positiv sein. So werden der wirtschaftspolitisch relativ liberalen Fortschrittspartei, die Radulovic nahesteht, Zugewinne vorausgesagt, während Dacics Sozialisten, die auf Besitzstandswahrung programmiert scheinen, mit dem Rauswurf aus der Regierung rechnen müssen.


Montag, 20. Januar 2014

Die Gewöhnlichkeit des Bösen.

aus derStandard.at, 19. Jänner 2014, 17:28                                                                 Wehrmachtsanhörige zwischen den Einsätzen
 
Die Gräuel ungeheuerlich normaler Menschen 
Wie werden junge Leute zu Massenmördern? 
Ein Film über die Grausamkeit ganz normaler Jugendlicher

von Daniel Pably 

Wien - Die am schwersten zu verdauende Botschaft schickte er gleich vorweg: "Dieser Film erzählt, wozu wir alle in der Lage sind", sagte der Wiener Regisseur Stefan Ruzowitzky auf der Bühne des Wiener Gartenbaukinos - und meint damit schier Unvorstellbares: Deutsche Soldaten zogen während des Russland-Feldzugs zwischen 1941 und 1943 durch unzählige Dörfer im heutigen Polen, Russland und der Ukraine, um die dort lebende jüdische Bevölkerung systematisch auszurotten. Rund zwei Millionen Juden wurden so hingerichtet, also ein Drittel aller Holocaust-Opfer.

Dass im Doku-Drama Das radikal Böse keine Betroffenen als Zeitzeugen zu Wort kommen, hat auch den Grund, dass es keine gibt. Praktisch niemand überlebte den dortigen Genozid, der weit weniger im Bewusstsein der Gesellschaft verankert ist als die Massenmorde in den Konzentrationslagern.

Stefan Ruzowitzkys neuer Film Das radikal Böse versucht, die psychologischen Prozesse zu ergründen, wie aus Menschen Massenmörder werden. Nicht die Ungeheuer seien die Gefährlichen, sondern die normalen Menschen, wird der italienische Schriftsteller und KZ-Überlebende Primo Levi gleich zu Beginn des Films zitiert. Tatsächlich ergaben die unzähligen psychologischen Gutachten über die NS-Täter, dass es sich bei den meisten um mental gesunde, ja geradezu exemplarische Durchschnittsbürger handelte.

"Warnung für die Zukunft"

Einige von ihnen waren damals nur unwesentlich älter als die 800 Schüler und Auszubildenden, die sich am 15. Jänner zu einer Sonderveranstaltung des Films im Wiener Gartenbaukino einfanden. Es war der ausdrückliche Wunsch des Regisseurs, dass der Film von vielen jungen Leuten gesehen wird. Denn obwohl Das radikal Böse von etwas Vergangenem erzählt, erklärte Ruzowitzky, sei er vor allem "für euch Jugendliche eine Warnung für die Zukunft".

Was bringt Menschen dazu, dutzende, manchmal hunderte Männer, Frauen, Kinder, gar Säuglinge hinzurichten? "Wenn das Tabu zu töten einmal durchbrochen ist, dann gibt es kein Halten mehr", sagt die Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin.

Die autoritären Strukturen im Nationalsozialismus, das natürliche Konformitätsstreben des Menschen und die Propaganda, die den Soldaten ein radikales Feindbild einimpfte - es gibt viele Erklärungsansätze, vollständig begreifbar wird das dunkelste Kapitel in der europäischen Geschichte wohl nie.

Viele der NS-Soldaten glaubten dabei aufrichtig, rechtschaffen zu handeln. Sie waren überzeugt, dass nur der Tod aller Juden zu einem friedlichen Zusammenleben führen könne.
Als Jugendbewegung geriert

"Männer, Frauen, Kinder - alles umgelegt. Liebe Heidi, mach dir keine Gedanken darüber, es muss sein", schreibt etwa ein Soldat in einem Brief an seine Familie. Ebenso nüchtern teilt ein Schuldirektor seinen Schülern mit, dass morgen unterrichtsfrei sei, "weil wir unsere Feinde töten". Mit Zitaten aus Briefen wie diesen untermauert Ruzowitzky in seinem Film die These der politischen Überzeugung.

Der Nationalsozialismus hat sich vor allem als Jugendbewegung geriert, die mit dem althergebrachten brechen wollte. Sind junge Menschen gar besonders anfällig für solch kollektive Irreführungen? Psychologin Brainin, die schon mehrfach als Buchautorin zu dem Thema publiziert hat, hält diesen Schluss für unzulässig: "Natürlich sucht die Jugend nach Identifikationsfiguren, will mit dem Alten brechen und etwas Neues hervorbringen - was aber nicht heißt, dass sie mit der Moral brechen oder kein Tötungstabu kennen."

Die Nazis versuchten in ihrer Propaganda, der jüdischen Bevölkerung jegliches Menschliche abzusprechen. Zwischen Opfer und Täter stellten sie die größtmögliche psychische und physische Distanz her. Vor den Erschießungen mussten sich die zusammengetriebenen Juden entkleiden, wodurch sie nach der Nazi-Logik "animalischer" wirken sollten. Zudem wurden sie gezwungen, sich bäuchlings in die selbstgegrabenen Massengräber zu legen. Um Blickkontakt zu vermeiden, wurden sie von hinten erschossen.

"Wenn man Menschen auch nur ein kleines bisschen deklassiert, ist das der erste Schritt zum Massenmord", sagt einer der interviewten Historiker im Film - und richtet damit einen klaren Appell an nachfolgende Generationen.

Tatsächlich weigerte sich nur ein kleiner Teil der Soldaten, die Massenhinrichtung wehrloser Zivilisten auszuführen - obwohl sie bei einer Verweigerung keine schwerwiegenden Konsequenzen zu befürchten hatten.

Niemand wurde gezwungen zu schießen.

Daniel Pably (18), SchülerSTANDARD, 20.1.2014

Sonntag, 19. Januar 2014

Die Geschichte der versunkenen Reiche.

Dumbarton Rock vom Süden aus gesehen, Hauptort des Königreichs Strathclyde vom 6. Jahrhundert bis 870, wobei sich die Festung Alt Clut auf dem limken Gipfel befand.
aus Der Standard, Wien, 19. 1. 2014

"Platz für exotische Geschichte"
Der britische Historiker Norman Davies hat die Geschichte von Staaten und Reichen erkundet, die verschwunden sind

STANDARD: Ihr Buch macht einen sehr nostalgischen Eindruck. So als hätte Norman Davies den Blick eines kleinen Jungen wiederentdeckt, der mit verzauberten Augen auf alte Schlösser und märchenhafte Imperien schaut.

Davies: Ich kann diese Beobachtung gut verstehen. Aber Nostalgie war nicht der Ansporn, dieses Buch zu schreiben. Ich gebe aber zu, dass ich eine gewisse Nostalgie gegenüber den verschwundenen Königstümern hege, die ich beschreibe. So zum Beispiel beim Großfürstentum Litauen, das das größte Reich im europäischen Spätmittelalter war, oder auch bei Großbritannien, das langsam zu verschwinden droht. Oder aber auch gegenüber Galizien, das einmal zu Habsburg gehörte und heute im Südosten Polens und in der Westukraine liegt. Von dort stammt die Familie meiner Frau, deren Eltern als Österreicher geboren wurden und auch Deutsch sprachen, wie auch Polnisch. All das ist verschwunden, was mich schon ein wenig nostalgisch auf diese alten Kulturlandschaften blicken lässt.

STANDARD: Sie haben die verschwundenen Reiche nicht nur vom Schreibtisch aus entdeckt, sondern sind dorthin gereist, wo sie einst existierten.

Davies: Ja. Ich habe das Buch als eine Entdeckungsreise geschrieben. So habe ich Königreiche ausgewählt, von denen ich selbst sehr wenig wusste und die ich damit für mich und für den Leser entdecken konnte. Ich habe all diese Orte wie Galizien oder Weißrussland, das zentrale Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauen, bereist. Das sollen auch für den Leser sehr überraschende Entdeckungen sein.

STANDARD: Eines der unbekanntesten Reiche, die Sie beschreiben, ist neben dem westgotischen Tolosa sicherlich Alt Clud oder Strathclyde, ein keltisches Königreich, das zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert im südlichen Schottland existierte. Wie sind Sie darauf gekommen?



Davies: Ein Teil meiner Familie ist walisisch, aber in England habe ich in der Schule nie etwas über walisische Geschichte gelernt. Aber ich hatte einen Freund, einen echten Waliser und Mittelalterhistoriker, der sich sehr gut mit alten walisischen Schriften auskannte. Er erzählte mir, dass walisische Literatur nicht dort entstand, wo das heutige Wales liegt, sondern weiter nördlich. Dann bin ich mit meiner Frau nach Glasgow gereist, und selbst dort hatte niemand eine Ahnung von diesem Königreich. Die Leute waren erstaunt, als ich ihnen erzählte, dass der Name Glasgow aus dem Walisischen stammt und eben nicht aus dem Gälischen.

STANDARD: Ist das eine Botschaft Ihres Buches, sich auch für die vermeintlich abseitigen Dinge zu interessieren?

Davies: Es gibt etwas, das ich Mainstream-Geschichte nenne. Das ist die Geschichte, die die meisten kennen. Diese wird von der zeitgenössischen Politik diktiert, von aktuellen politischen Tendenzen, von Eliten und von all denen, die einen mächtigen Einfluss auf unser Denken haben. Als Ergebnis bekommen wir eine sehr selektive Geschichte. Dabei lässt man mehr unter den Tisch fallen, als dass man ergänzt und auffüllt. Auch Schüler lernen eine systematisierte Form der Geschichte. Ich war mir darüber schon früh bewusst. Denn ich habe über polnische Geschichte geschrieben, und das gilt in England bis heute als eher esoterisches Thema. Dieses Buch ist sicher aus der Erkenntnis heraus entstanden, dass wir mit einer eng gefassten und selektiven Geschichte leben.

STANDARD: Warum sollte man also die Geschichte des Großfürstentums Litauen kennen oder die von Alt Clud?

Davies: Wir alle kennen nur kleine Teile des großen Ganzen. Das ist wichtig zu verstehen, damit wir unseren Blick öffnen und neugieriger werden. Es ist wichtig, zu verstehen, was uns europäisch macht und woher wir kommen. Eben weil ich aus einer walisischen Familie komme, habe ich schnell gemerkt, dass wir in der Schule eine rein englische Geschichte lernten. Alle Schulbücher fingen mit Julius Cäsar an. Wir haben nichts darüber gelernt, welche Menschen in diesem Gebiet lebten. Es ist wichtig, dass man das begreift und sich aus diesem Paradigma löst. Das macht uns auch ein Stück freier.

Breviarium des Westgoten-Königs Alarich, ca. 505

STANDARD: In einem Interview sprachen Sie von einem "falschen Optimismus", den man durch diese Mainstream-Geschichte lerne.

Davies: Ja. Es ist eben eine Geschichte, die von großen Mächten geschrieben wird, die in gewisser Weise erfolgreich waren. Man bekommt also einen falschen Optimismus beigebracht. Die meisten Staaten sind keine Erfolgsgeschichten. Viele sterben und verschwinden und werden vergessen. In Europa haben wir heute 45 Staaten, und viele waren niemals große Mächte. Das typische europäische Land ist ein kleines Land, das ein Opfer der großen Mächte war. Das erfährt man aber nicht, was an unserer Manie liegt, Macht anzubeten. Peter der Große zum Beispiel: ein toller Mann, aber auch ein furchtbarer Herrscher. Der Buchmarkt in England wird zu einem großen Teil von Büchern über das Dritte Reich dominiert. Es muss auch Platz für exotische Geschichten geben.

STANDARD: Das Verschwinden eines der größten Staaten, die jemals existiert haben, haben viele von uns miterlebt. Sie kannten die Sowjetunion schon in den Achtzigern sehr gut. Hatten Sie eine Ahnung, dass es bald vorbei sein würde mit diesem Riesenreich?

Westgoten-Reich von Toulouse

Davies: Das haben wenige geahnt. 1987 habe ich einen Essay geschrieben über den Krieg von Bergkarabach, der damals zwischen Armenien und Aserbaidschan herrschte. Es war klar, dass die Sowjetmacht jede Republik, die rebellieren würde, mit aller Gewalt zur Ordnung rufen würde. Aber in diesem Fall unternahm Gorbatschow nur einige sehr halbherzige Schritte, um diese Republiken zur Räson zu rufen. Als ich bemerkte, dass Gorbatschow der erste russische Führer seit Iwan dem Schrecklichen war, der eben nicht mit Gewalt antwortete, war mir klar, dass da etwas Ungewöhnliches im Gange war. Allerdings habe ich mit einem so baldigen Untergang der Sowjetunion nicht gerechnet. Auch wenn uns allen klar war, dass die Sowjetunion große wirtschaftliche Probleme hatte. Ich bin davon ausgegangen, dass sie jede Bedrohung mit Gewalt bekämpfen würde. Schließlich hatte sie die größte Armee der Welt. Es war unvorstellbar, dass der KGB nicht wüsste, was in solchen Situationen zu tun ist.

STANDARD: Aber niemand tat etwas.

Davies: Ja. Die Sowjetunion war eben wie ein Dinosaurier, der schon hirntot war, bevor er körperlich zusammenbrach.

STANDARD: Die Krise der EU ist sicher nicht mit der der Sowjetunion vergleichbar.

Davies: Als mein Buch 2011 in England herauskam, wurde ich gefragt, ob das Euroland eines dieser Reiche sein könnte, das bald verschwinde. Ich verneine das bis heute. Die EU ist sicher in keiner guten Verfassung, sie funktioniert schlecht. Sie hat eine Krankheit. Aber das haben wir alle und kollabieren nicht im nächsten Augenblick. So ist es bei Staaten auch. Dennoch sollten die europäischen Politiker wissen, dass sie handeln müssen, um diese Krankheit zu heilen. Ansonsten könnten sie sie EU tatsächlich zerstören.

Großfürstentum (Magna Ducatia) Litauen1387
STANDARD: Sehen Sie andere europäische Staaten, die verschwinden könnten?

Davies: Aufgrund unserer kurzen Lebenszeit neigen wir dazu zu glauben, dass viele Dinge für die Ewigkeit bestimmt sind. Besonders solche abstrakten Dinge wie Staaten. Mein Buch zeigt, dass das selten vorkommt. Alle Staaten können verschwinden. Dass ein Staat wie das von mir beschrieben Ruthenien nur einen Tag existierte, ist ungewöhnlich. Die meisten haben eine Lebensdauer zwischen 200 und 400 Jahren. Dann sterben sie. Für den Tod von Staaten gibt es Gründe. Meist liegen sie in den ungünstigen Umständen ihrer Geburt. Belgien wäre aufgrund seiner komplexen ethnischen und staatsrechtlichen Situation ein Staat, der bald verschwinden könnte. Auch Großbritannien, das aus Teilen besteht, die nicht gut integriert sind. Im nächsten Jahr findet in Schottland das Unabhängigkeitsreferendum statt. Wenn das erfolgreich ist, könnte das der Beginn vom Ende Großbritanniens sein.

Interview von Ingo Petz  
Trakai, Sitz der litauischen Großfürsten  

Norman Davies, geb. 1939 in Bolton, UK, ist brit. Historiker. Er lehrte an der University of London und als Gastprof. an zahlreichen Universiäten weltweit. 1981 erschien "God's Playground. A History of Poland" (auf Deutsch, 2005).


Nota.

Es ist nicht richtig, vom Aufstieg und Untergang "der Staaten" so zu reden wie von einer historischen Konstante. Es fängt damit an, dass in dieser Metapher der Unterschied antiker und feudaler Reiche, in denen Ländereien und Dynastien miteinander "verwandt" sind, in einen Topf geworfen werden mit Staaten, die ihre Legitimität aus einem Staatsvolk ziehen und auf verwandtschaftliche Bindungen ganz verzichten können. 

Das Aufkommen 'des' Staats im modernen Verständnis war verbunden mit der Entstehung der absoluten Monarchien, und die wiederum resultierten aus einem langandauernden Gleichgewichtsszustand zwischen agrarischen Feudalen und städtischer Bourgeoisie, über das "die Krone" sich als scheinbarer Souverän erheben konnte. Erst als so Der Staat entstanden war, konnte sich der Dritte Stand als das Volk an die Stelle des Souveräns setzen. Mit andern Worten, die modernen Staaten entstehen mit der Ausbildung von Völkerschaften zu einer Nation. 

Dabei mussten heterogene Reiche wie das litauische zerfallen und schließlich auf ein kleines Kerngebiet schrumpfen, kleine Königtümer wie die walisischen in größeren Gebilden aufgehen und Vielvölkerstaaten wie die Donaumonarchie ganz verschwinden; nicht zu reden von ephemeren Kriegerherrschaften wie den gotischen, burgundischen oder fränkischen, die sich mangels Masse in den eroberten Ländern schlicht auflösten.

So verlockend Norman Davies' Forschungsinteresse ist - historisch ist es wenig fruchtbar.

Etwas ganz anderes wäre das Studium jahrhunderte- und jahrtausendealter entwickelter Kulturen wie der am Indus oder im südamerikanischen Nazca, die verschwunden sind, ohne überirdische Spuren zu hinterlassen, und die ohne die Grabungen der Archäologen selbst in den Erzählungen der Völker untergegangen sind; da ließe ich sicher etwas draus lernen.
JE

 





 



Broken windows und ängstliche Gemüter.

Lower Wacker Drive in Chicago
aus Die Presse, Wien, 15. 1. 2014                                                                                     Lower Wacker Drive in Chicago

Urban Jungle: 
Desolate Umgebung macht schnell ängstlich
45 Minuten Aufenthalt in einem derangierten Stadtviertel reichen, um die soziale Einstellung in Richtung Misstrauen zu ändern.

von  

Broken glass everywhere, people pissing on the stairs, you know they just dont care...“ In einem der ersten großen Raps, „The Message“ (1982), beschrieb Grandmaster Flash eindrucksvoll, wie sich desolates urbanes Umfeld auf die Psyche des Bewohners auswirkt: „It's like a jungle sometimes, it makes me wonder how I keep from going under...“

Je mehr Verbrechen und Armut in einem Viertel herrschen, umso ängstlicher sind seine Bewohner, und umso weniger Vertrauen haben sie in ihre Nachbarn: Das leuchtet intuitiv ein. Doch wie schnell die Umgebung die Psyche prägt, das überraschte auch die Psychologen um David Nettle (Newcastle University): Es reicht eine Dreiviertelstunde.

Für ihr Experiment verwendeten sie zwei völlig gegensätzliche Stadtgebiete von Newcastle: eine von der Abwanderung der Industrie schwer gezeichnete Gegend A, die von der Regierung zu den am meisten verarmten Regionen Großbritanniens gezählt wird. Dort ist die Verbrechensrate doppelt so hoch und die Rate an Gewaltverbrechen sogar sechsmal so hoch wie in der Gegend B, in der wohlhabende Bürger wohnen. In beiden Gebieten wurde zunächst erhoben, ob und wie sehr die Bewohner ihren Nachbarn vertrauen („personal trust“), wie sehr sie im Allgemeinen anderen Menschen vertrauen („social trust“) und wie sehr sie sich vor potenziellen Bedrohungen fürchten (die englischen Soziologen sprechen von „paranoia“, das ist aber eher mit Angst zu übersetzen als mit Paranoia). Ergebnis: In Gegend A herrschen Misstrauen und Angst, in Gegend B vertraut man einander und fürchtet sich viel weniger.

Nun, das war ja vorauszusehen. Dann kam aber der zweite Teil des Experiments: Studenten der Newcastle University wurden in die beiden Gebiete geschickt, um dort Fragebögen in Briefkästen an vorgegebenen Adressen zu werfen, die sie zu Fuß erreichen mussten. Dafür durften sie höchstens 45 Minuten brauchen. Danach wurden sie gebeten, die Gegend, die sie gerade erlebt hatten, zu bewerten. Und sie bekamen die gleichen Fragebögen wie vorher die Bewohner, mit Fragen wie „Wie sehr vertrauen Sie Menschen, denen Sie zum ersten Mal begegnen?“, es wurde also erhoben, wie misstrauisch und ängstlich sie sind.

Scherben, Müll, beschmierte Wände

Tatsächlich reichte die knappe Dreiviertelstunde Fußmarsch durch die jeweilige Gegend, um die Gefühlslage der Besucher in den Kategorien „social trust“ und „paranoia“ an das Level der Bewohner anzupassen. „Wenn ein so kurzer Besuch ausreicht, um nachweisbar geschrumpftes Vertrauen und gestiegene Angst auszulösen“, schreiben die Forscher in der Zeitschrift PeerJ, „wie gewaltig müssen die Auswirkungen sein, wenn man jeden Tag dort leben muss?“

Welche äußeren Faktoren die Psyche so drastisch beeinflussen, das ist aus vielen früheren Arbeiten zum Thema bekannt – und es erfüllt alle Klischees: Herumliegender Müll, überquellende und bekritzelte Briefkästen, beschmierte Wände, Glasscherben, trotz Verbotsschildern an einen Zaun gekettete Fahrräder: das bringt Menschen dazu, sich unsicher zu fühlen. Was, auch das ergaben die Untersuchungen, zweierlei bewirkt: Erstens nehmen sie selbst weniger Rücksicht, werfen etwa eher Papier auf die Straße. Zweitens aber neigen sie eher zu Law-and-order-Einstellungen und Vorurteilen, zum Beispiel gegen Moslems oder Homosexuelle.

Wie präsent die Polizei ist, hat übrigens laut der aktuellen Untersuchung keine Auswirkung auf Vertrauen oder Angst, und Unterschiede zwischen den Geschlechtern fanden sich kaum: Die Männer neigen nur ein bisschen mehr zur Angst...

Aber die Lehre scheint klar: Die Umgebung prägt die Emotionen schnell. „Städteplaner und Bürger sollten das berücksichtigen“, sagt David Nettle: „Es ist nicht nur kosmetischer Luxus, die Qualität und Sicherheit eines Gebiets zu verbessern, es kann die sozialen Beziehungen und die psychische Gesundheit der Bewohner deutlich verbessern.“