Donnerstag, 2. Januar 2014

Ein asiatisches Jahrhundert?

aus NZZ, 30. 12. 2013

China spielt nach eigenen Regeln
In Asien hat eine neue Epoche des Merkantilismus und Hegemonismus begonnen - und der Westen ist darauf nicht vorbereitet

von Urs Schoettli

Wo die USA mit einem neuen Isolationismus liebäugeln, Europa in der Krise vor sich hin dümpelt und im Nahen Osten die Bürger-Revolutionen verpufft sind, wird immer deutlicher, wie sehr sich das Zentrum der Weltpolitik nach Asien verlagert. Bestimmend wird in Zukunft der Hegemonialanspruch Chinas sein.

Die Medien insbesondere in der angelsächsischen Welt sind häufig ohne Selbstzweifel und mit kritikloser Apodiktik bereit, Trends auszumachen. Vor ein paar Jahren titelte der «Economist» eine Ausgabe mit der Behauptung, dass Indien China überholen werde. Nachdem auflagenstarke angelsächsische Starkommentatoren über Jahre hinweg Asien und vor allem die Volksrepublik China über den grünen Klee gelobt hatten, haben in jüngster Zeit Spekulationen über eine neue «Asienkrise» Konjunktur. Jede rückläufige Kommastelle beim chinesischen Wirtschaftswachstum ruft die professionellen Kassandren und Pessimisten auf den Plan. Geflissentlich wird bei solchen oberflächlichen Meinungsstücken der ganze Fortschritt, den Asien in den vergangenen drei Jahrzehnten und insbesondere seit der Asienkrise von 1997/98 gemacht hat, unter den Tisch gewischt.

Asiens Niedergang

Dass wir in einer Zeit leben, die bei Mobilität und Informationsflut stets neue Rekorde setzt, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Revision althergebrachter Meinungen und die Beseitigung von Vorurteilen nach wie vor äusserst schwierige Unterfangen sind. In unserem Kontext geht es um das hartnäckige Überleben des Eurozentrismus. Es mag schierer Zufall oder höheres Schicksal gewesen sein, dass gleich mehrere asiatische Hochkulturen im späten 18. Jahrhundert in tiefe Krisen stürzten. In Indien versank die einst stolze Mogul-Dynastie in der Dekadenz, und der britische Raj breitete sich auf dem Subkontinent erfolgreich aus. In China verfiel die Ch'ing-Dynastie nach den grossen Kaisern Kangxi (1661-1722) und Qianlong (1746-1795) in einen terminalen Niedergang, und das Reich der Mitte wurde von europäischen Kolonialmächten erniedrigt. Noch 1900 fand eine internationale Konferenz statt, an welcher Europäer diskutierten, wie sie China analog zu Afrika unter sich aufteilen könnten.

Auf beiden Seiten haben diese dramatischen Entwicklungen tiefe Spuren hinterlassen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum Anbruch des asiatischen Jahrhunderts die Beziehungen zwischen Europa und Asien prägten. Auf der asiatischen Seite überwog das Gefühl der Verletzung und Erniedrigung, auf der europäischen Seite setzte sich die Überzeugung durch, dass der Westen das Mass aller Dinge sei.

Würde man Europäer befragen, welches die wichtigste weltgeschichtliche Zäsur seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war, so würden wohl die meisten den Fall der Berliner Mauer, das Verschwinden des Eisernen Vorhangs und den Untergang des Ostblocks und der Sowjetunion nennen. Zweifellos waren dies wichtige Ereignisse, wobei in Erinnerung zu rufen ist, dass das Ende des Kalten Kriegs keine ausschliesslich europäische Angelegenheit war. Es hatte weitreichende Konsequenzen in Südasien mit dem Wegfall der amerikanisch-sowjetischen Klientelverhältnisse in Pakistan und Indien, in Südostasien mit der Öffnung von Indochina, in Ostasien mit dem Verschwinden der sowjetischen Pazifikflotte und natürlich im Reich der Mitte mit Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen. Nur Nordkorea hat sich nicht bewegt.

Eurozentrische Weltgeschichte

Weltgeschichte wurde und wird häufig noch immer unter dem europäischen Blickwinkel betrachtet. Dies bringt es mit sich, dass es an der Fähigkeit mangelt, die historischen Zusammenhänge zwischen Europa und Asien herzustellen. So kennen wir die verhängnisvollen Folgen des Versailler Friedensvertrags für Europa. Weitgehend unbekannt ist indessen der schlimme Nachhall im Fernen Osten. In Versailles übermachten die Siegermächte die deutschen Konzessionen im Reich der Mitte den Japanern, selbstverständlich ohne die betroffenen Chinesen zu befragen. Die chinesischen Proteste manifestierten sich in der liberal geprägten »Bewegung vom 4. Mai» (1919). Die Saat für den späteren japanisch-chinesischen Abnützungskrieg war gelegt.

Der bedeutende zeitgenössische chinesische Politikforscher Wang Hui gibt zu bedenken, dass das Wissen um die Aufklärung, die Französische Revolution, Napoleon und die Reformation zum Bildungsgut eines jeden chinesischen Hochschulabgängers gehört. Was, so fragt Wang Hui, wissen Hochschüler in der Schweiz über China, ausser dass es Mao Zedong gab? Die Abkehr vom und der Ausgang aus dem Eurozentrismus sind indessen nicht nur Anliegen der Geschichtsschreibung. Sie sind auch die Voraussetzung dafür, dass die Europäer sich in der Zukunft, die von Asiaten massgeblich mitgestaltet werden wird, werden behaupten können.

Gleich mehrere Generationen von Europäern sind durch den Kalten Krieg geprägt worden. Für sie war dies die Zeit der grossen Bewährung gegenüber dem «evil empire» und gegenüber den totalitären Versuchungen des Kommunismus. Leicht wird vergessen, dass sich der Ost-West-Konflikt innerhalb der Parameter des europäischen Denkens und innerhalb von europäisch geprägten Wertekategorien abspielte. Sicher stand der Westen und allen voran Amerika in der Tradition von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft. Aber auch der Sowjetblock konnte sich auf eine europäische Herkunft, auf europäische Wurzeln berufen. Schliesslich war die Sowjetunion in ihrer russischen Prägung Teil von Europa. Karl Marx und Friedrich Engels waren europäische Denker.

Im asiatischen Zeitalter sind wir mit einer völlig neuen Ausgangslage konfrontiert. Europa steht im Wettbewerb und in der Auseinandersetzung mit Mächten und Völkern, die nicht von europäischen Werten geprägt worden sind. Dies schafft neue Rahmenbedingungen für den internationalen Wettbewerb und ist eine Herausforderung, die in der unmittelbar nach dem Kalten Krieg noch vom Westen geprägten Anfangsphase der Globalisierung nicht wahrgenommen wurde. Damals schien es doch so, dass der Westen mit seinen Werten - liberale Demokratie und Marktwirtschaft - die Agenda prägen werde. Allenfalls sahen Bedenkenträger wie Huntington den Zusammenstoss der Zivilisationen am Horizont drohen.

Wie fern alle diese Szenarien heute sind! Die Welt des 21. Jahrhunderts und damit die Zukunft wird nicht mehr von den Terroranschlägen das 11. September 2001 und dem Fall der Berliner Mauer, sondern vom Wiederaufstieg Chinas zur Weltmacht geprägt. Noch ist die zunehmende Macht der Chinesen bei der Bestimmung der Traktandenliste nur schwach spürbar. Wir wissen aber aus Erfahrung, dass, wenn Dinge erst einmal ins Rutschen geraten sind, sich die Entwicklungen plötzlich und massiv beschleunigen können.

Die letzten zwei Jahrhunderte geben wenig Zuversicht, dass die Menschheit in der Lage ist, Zäsuren wie den Aufstieg einer neuen Macht kriegs- und katastrophenfrei zu meistern. Dies war bei Napoleon nicht der Fall, ebenso wenig bei Bismarcks Deutschem Reich, bei Hitlers Drittem Reich oder beim japanischen Imperium. Nun dringt die Volksrepublik China auf den Platz an der Sonne und fordert diesen ganz offenkundig nicht als Neuankömmling, sondern als kulturelle, wirtschaftliche und politische Weltmacht, die bloss wieder ihren während Jahrtausenden gewohnten Rang einnimmt. Zu den altbewährten strategischen Maximen der chinesischen Kriegslehre gehört, dass man nie einen Krieg aus einer Position der Unterlegenheit auslösen oder führen sollte. Dies gilt auch für die Gestaltungskraft der chinesischen Diplomatie.

Ganz eindeutig steht hinter den Vorstössen Chinas in der weiten Welt, seien es die rohstoff- und ressourcenreichen Staaten in Afrika, Lateinamerika und im Mittleren Osten, sei es die nähere und fernere Nachbarschaft, die geballte Macht eines Systems, das sich, in altbewährter Tradition, als eine Dynastie in der langen Reihe der chinesischen Dynastien sieht. Hauptzweck ist die Überlebenssicherung der Dynastie. Der siebenköpfige Ständige Ausschuss des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas hat die einzige Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die herrschende Dynastie ihr «Mandat des Himmels» behält.

Die Prioritäten sind klar: China hat sich bereits als Asiens Vormacht und neue Weltmacht des 21. Jahrhunderts etabliert. Nun geht es darum, mit den USA gleichzuziehen, von Washington als einzige andere Macht auf Augenhöhe behandelt zu werden. Man mag bei allerlei regionalen und globalen Foren wie der Asean oder der G-20 und der G-8 mitmachen, doch das alleinige Ziel ist die G-2, China und die USA als Pole der Weltordnung. Dies bahnt sich im weiten Raum des Pazifiks bereits an. Europa spielt da keine Rolle mehr, umso mehr, als Peking ohnehin die EU so beurteilt wie Stalin den Papst - eine Instanz ohne Divisionen!

Es ist erstaunlich, wie unvorbereitet und unbedarft die Alte Welt in das neue Zeitalter eintritt. Noch immer herrscht die fatale Fehleinschätzung fort, dass das asiatische Jahrhundert für die bestehende Weltordnung, insbesondere auch für internationale Organisationen wie die Bretton-Woods-Institutionen, einfach ein «Weiter so» bedeuten würde. Dem ist nicht so, auch wenn die derzeitige Stille vor dem Sturm dies nahezulegen scheint. Wir sind längst in der Übergangsphase und die Demaskierung Europas als «Kaiser ohne Kleider» ist nur eine Sache der Zeit. Sie wird so lange hinausgezögert werden, als dies dem Reich der Mitte gefällt.

Der Westen muss sich darauf einstellen, dass die Welt ins Zeitalter des Merkantilismus und des Hegemonismus eingetreten ist. Japan hat schon seit langem den Merkantilismus gepflegt, wurde aber, da man es zum industrialisierten Westen zählte, nicht als Gefahr für den internationalen Freihandel wahrgenommen. Bei China liegen die Dinge anders. Einzelne mögen sich darüber hinwegtäuschen, dass sich Peking mit der gigantischen Anhäufung von amerikanischen Treasury-Bonds selbst in eine unselige Abhängigkeit von der Schuldensupermacht USA begeben habe.

Mit Brachialgewalt?

Angesichts des absoluten Primats, den in der Volksrepublik China die Politik geniesst, ist offenkundig, dass China die Devisenreserven mit Sicherheit nicht aus währungs-, sondern aus machtpolitischen Gründen mehrt und mehrt. Es ist falsch, China als eine Marktwirtschaft zu betrachten. Es geht nicht nur um fehlende Transparenz und um die weitverbreitete Abwesenheit von Corporate Governance, sondern auch um den unkonventionellen Umgang Chinas mit wirtschaftlichen Instrumenten wie beispielsweise den Devisenreserven. Der totalen Priorität der Machtpolitik dient selbstverständlich auch die Auslandpräsenz Chinas, und zwar auf allen Ebenen von Landkäufen und der Akquisition von Ressourcen in Afrika und Lateinamerika bis zum Aufkauf von strategisch wichtigen Industrien. Chinas Merkantilismus hat die Minimierung von externen Abhängigkeiten jeder Art zum Ziel.

Eng vinkuliert mit dem Merkantilismus ist der Hegemonismus. Auch hier knüpft das Reich der Mitte an eine alte Tradition an. Das Konzept der gleichberechtigten Nationalstaaten, wie es in Europa entwickelt worden ist, hat in der chinesischen Geschichte keinen Platz. Der Hegemon pflegt mit seinen nahen und ferneren Nachbarn Beziehungen von unterschiedlicher Abhängigkeit. Klar ist dabei stets, dass diese Abhängigkeit einseitig ist. Dabei operiert der Hegemon nicht notwendigerweise mit militärischer Brutalität. Vielmehr ist er aufgrund seiner kulturellen und zivilisatorischen Überlegenheit geradezu berechtigt, vor anderen Staaten und Völkern den Vorrang einzunehmen.

Sicher geriert sich die chinesische Aussen- und Sicherheitspolitik nicht mehr nach den Formalien, die während der Kaiserzeit galten. Andererseits ist unverkennbar, dass Peking eine Hegemonialrolle in Asien und darüber hinaus beansprucht. Zwar ist man nicht mehr, wie zu Mao Zedongs Zeiten, gegen jede Kooperation mit multinationalen Organisationen. China hat die Beziehungen zur südostasiatischen Regionalorganisation Asean in den vergangenen Jahren kräftig ausgebaut. Es ist auch ein aktiver Teilnehmer bei der Apec und verhandelt mit der EU. Gleichzeitig macht etwa die Position Chinas in einer Vielzahl von umstrittenen Inseln im Süd- und im Ostchinesischen Meer deutlich, dass man bei der territorialen Hoheit, auch unter Verweis auf Karten aus der Kaiserzeit, nicht zu den geringsten Konzessionen bereit ist.

Wie die Integration Chinas in die neue globale Ordnung aussehen wird, darüber lässt sich zum heutigen Zeitpunkt nur spekulieren. Sicher ist, dass die heute bestehenden Ordnungsrahmen und Institutionen in dieser Form nicht fortdauern werden, und die neuen Instrumente, die von bilateralen Freihandelsabkommen mit China bis zur G-2 reichen werden, werden sich anders entwickeln als ihre Vorgänger.

Für alle Länder wird gelten, dass sie sich in diese entstehende neue Ordnung mit mehr oder weniger eigenem Input werden einfügen müssen. Die USA, obschon sie von vielen Asiaten als eine im terminalen Abstieg begriffene Supermacht gesehen werden, werden in absehbarer Zukunft bei der Gestaltung der neuen Ordnung das entscheidende Votum haben. Im Verlaufe der Zeit wird dieses allerdings immer häufiger einen negativen und defensiven Charakter annehmen. Peking und Washington sollten sich allerdings bewusst sein, dass Konfrontation keine Lösung ist, sondern bloss den Weg dafür bahnt, dass die aufstrebende Weltmacht China, wie andere Mächte zuvor, sich ihren Platz an der Sonne mit Brachialgewalt sichern wird.


Nota.

Bermerkenswert, dass der Autor die inneren Verwerfungen der chinesischen Gesellschaft und deren mögliche Auswirkungen auf das politische Regime nicht einmal erwähnt. Dass der Ständige Ausschuss des Politbüros nichts anderes im Sinn hat, als die Ewigkeit der Dynastie zu sichern, garantiert nicht, dass ihm das gelingt. Es ist sogar weniger wahrscheinlich als deren Verfall. Und das wird erst eine Zäsur geben!
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen