aus NZZ, 30. 12. 2013
China spielt nach eigenen Regeln
In Asien hat eine neue Epoche des Merkantilismus und Hegemonismus begonnen - und der Westen ist darauf nicht vorbereitet
In Asien hat eine neue Epoche des Merkantilismus und Hegemonismus begonnen - und der Westen ist darauf nicht vorbereitet
von Urs Schoettli
Wo die USA mit einem neuen Isolationismus liebäugeln, Europa in der Krise vor sich hin dümpelt und im Nahen Osten die Bürger-Revolutionen verpufft sind, wird immer deutlicher, wie sehr sich das Zentrum der Weltpolitik nach Asien verlagert. Bestimmend wird in Zukunft der Hegemonialanspruch Chinas sein.
Die Medien insbesondere in der angelsächsischen Welt sind häufig ohne Selbstzweifel und mit kritikloser Apodiktik bereit, Trends auszumachen. Vor ein paar Jahren titelte der «Economist» eine Ausgabe mit der Behauptung, dass Indien China überholen werde. Nachdem auflagenstarke angelsächsische Starkommentatoren über Jahre hinweg Asien und vor allem die Volksrepublik China über den grünen Klee gelobt hatten, haben in jüngster Zeit Spekulationen über eine neue «Asienkrise» Konjunktur. Jede rückläufige Kommastelle beim chinesischen Wirtschaftswachstum ruft die professionellen Kassandren und Pessimisten auf den Plan. Geflissentlich wird bei solchen oberflächlichen Meinungsstücken der ganze Fortschritt, den Asien in den vergangenen drei Jahrzehnten und insbesondere seit der Asienkrise von 1997/98 gemacht hat, unter den Tisch gewischt.
Asiens Niedergang
Dass wir in einer Zeit leben, die
bei Mobilität und Informationsflut stets neue Rekorde setzt, sollte uns
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Revision althergebrachter
Meinungen und die Beseitigung von Vorurteilen nach wie vor äusserst
schwierige Unterfangen sind. In unserem Kontext geht es um das
hartnäckige Überleben des Eurozentrismus. Es mag schierer Zufall oder
höheres Schicksal gewesen sein, dass gleich mehrere asiatische
Hochkulturen im späten 18. Jahrhundert in tiefe Krisen stürzten. In
Indien versank die einst stolze Mogul-Dynastie in der Dekadenz, und der
britische Raj breitete sich auf dem Subkontinent erfolgreich aus. In
China verfiel die Ch'ing-Dynastie nach den grossen Kaisern Kangxi
(1661-1722) und Qianlong (1746-1795) in einen terminalen Niedergang, und
das Reich der Mitte wurde von europäischen Kolonialmächten erniedrigt.
Noch 1900 fand eine internationale Konferenz statt, an welcher Europäer
diskutierten, wie sie China analog zu Afrika unter sich aufteilen
könnten.
Auf beiden Seiten haben diese
dramatischen Entwicklungen tiefe Spuren hinterlassen, die in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum Anbruch des asiatischen
Jahrhunderts die Beziehungen zwischen Europa und Asien prägten. Auf der
asiatischen Seite überwog das Gefühl der Verletzung und Erniedrigung,
auf der europäischen Seite setzte sich die Überzeugung durch, dass der
Westen das Mass aller Dinge sei.
Würde man Europäer befragen,
welches die wichtigste weltgeschichtliche Zäsur seit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs war, so würden wohl die meisten den Fall der Berliner
Mauer, das Verschwinden des Eisernen Vorhangs und den Untergang des
Ostblocks und der Sowjetunion nennen. Zweifellos waren dies wichtige
Ereignisse, wobei in Erinnerung zu rufen ist, dass das Ende des Kalten
Kriegs keine ausschliesslich europäische Angelegenheit war. Es hatte
weitreichende Konsequenzen in Südasien mit dem Wegfall der
amerikanisch-sowjetischen Klientelverhältnisse in Pakistan und Indien,
in Südostasien mit der Öffnung von Indochina, in Ostasien mit dem
Verschwinden der sowjetischen Pazifikflotte und natürlich im Reich der
Mitte mit Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen. Nur Nordkorea hat sich
nicht bewegt.
Eurozentrische Weltgeschichte
Weltgeschichte wurde und wird
häufig noch immer unter dem europäischen Blickwinkel betrachtet. Dies
bringt es mit sich, dass es an der Fähigkeit mangelt, die historischen
Zusammenhänge zwischen Europa und Asien herzustellen. So kennen wir die
verhängnisvollen Folgen des Versailler Friedensvertrags für Europa.
Weitgehend unbekannt ist indessen der schlimme Nachhall im Fernen Osten.
In Versailles übermachten die Siegermächte die deutschen Konzessionen
im Reich der Mitte den Japanern, selbstverständlich ohne die betroffenen
Chinesen zu befragen. Die chinesischen Proteste manifestierten sich in
der liberal geprägten »Bewegung vom 4. Mai» (1919). Die Saat für den
späteren japanisch-chinesischen Abnützungskrieg war gelegt.
Der bedeutende zeitgenössische
chinesische Politikforscher Wang Hui gibt zu bedenken, dass das Wissen
um die Aufklärung, die Französische Revolution, Napoleon und die
Reformation zum Bildungsgut eines jeden chinesischen Hochschulabgängers
gehört. Was, so fragt Wang Hui, wissen Hochschüler in der Schweiz über
China, ausser dass es Mao Zedong gab? Die Abkehr vom und der Ausgang aus
dem Eurozentrismus sind indessen nicht nur Anliegen der
Geschichtsschreibung. Sie sind auch die Voraussetzung dafür, dass die
Europäer sich in der Zukunft, die von Asiaten massgeblich mitgestaltet
werden wird, werden behaupten können.
Gleich mehrere Generationen von
Europäern sind durch den Kalten Krieg geprägt worden. Für sie war dies
die Zeit der grossen Bewährung gegenüber dem «evil empire» und gegenüber
den totalitären Versuchungen des Kommunismus. Leicht wird vergessen,
dass sich der Ost-West-Konflikt innerhalb der Parameter des europäischen
Denkens und innerhalb von europäisch geprägten Wertekategorien
abspielte. Sicher stand der Westen und allen voran Amerika in der
Tradition von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft. Aber auch der
Sowjetblock konnte sich auf eine europäische Herkunft, auf europäische
Wurzeln berufen. Schliesslich war die Sowjetunion in ihrer russischen
Prägung Teil von Europa. Karl Marx und Friedrich Engels waren
europäische Denker.
Im asiatischen Zeitalter sind wir
mit einer völlig neuen Ausgangslage konfrontiert. Europa steht im
Wettbewerb und in der Auseinandersetzung mit Mächten und Völkern, die
nicht von europäischen Werten geprägt worden sind. Dies schafft neue
Rahmenbedingungen für den internationalen Wettbewerb und ist eine
Herausforderung, die in der unmittelbar nach dem Kalten Krieg noch vom
Westen geprägten Anfangsphase der Globalisierung nicht wahrgenommen
wurde. Damals schien es doch so, dass der Westen mit seinen Werten -
liberale Demokratie und Marktwirtschaft - die Agenda prägen werde.
Allenfalls sahen Bedenkenträger wie Huntington den Zusammenstoss der
Zivilisationen am Horizont drohen.
Wie fern alle diese Szenarien
heute sind! Die Welt des 21. Jahrhunderts und damit die Zukunft wird
nicht mehr von den Terroranschlägen das 11. September 2001 und dem Fall
der Berliner Mauer, sondern vom Wiederaufstieg Chinas zur Weltmacht
geprägt. Noch ist die zunehmende Macht der Chinesen bei der Bestimmung
der Traktandenliste nur schwach spürbar. Wir wissen aber aus Erfahrung,
dass, wenn Dinge erst einmal ins Rutschen geraten sind, sich die
Entwicklungen plötzlich und massiv beschleunigen können.
Die letzten zwei Jahrhunderte
geben wenig Zuversicht, dass die Menschheit in der Lage ist, Zäsuren wie
den Aufstieg einer neuen Macht kriegs- und katastrophenfrei zu
meistern. Dies war bei Napoleon nicht der Fall, ebenso wenig bei
Bismarcks Deutschem Reich, bei Hitlers Drittem Reich oder beim
japanischen Imperium. Nun dringt die Volksrepublik China auf den Platz
an der Sonne und fordert diesen ganz offenkundig nicht als
Neuankömmling, sondern als kulturelle, wirtschaftliche und politische
Weltmacht, die bloss wieder ihren während Jahrtausenden gewohnten Rang
einnimmt. Zu den altbewährten strategischen Maximen der chinesischen
Kriegslehre gehört, dass man nie einen Krieg aus einer Position der
Unterlegenheit auslösen oder führen sollte. Dies gilt auch für die
Gestaltungskraft der chinesischen Diplomatie.
Ganz eindeutig steht hinter den
Vorstössen Chinas in der weiten Welt, seien es die rohstoff- und
ressourcenreichen Staaten in Afrika, Lateinamerika und im Mittleren
Osten, sei es die nähere und fernere Nachbarschaft, die geballte Macht
eines Systems, das sich, in altbewährter Tradition, als eine Dynastie in
der langen Reihe der chinesischen Dynastien sieht. Hauptzweck ist die
Überlebenssicherung der Dynastie. Der siebenköpfige Ständige Ausschuss
des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas hat die einzige
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die herrschende Dynastie ihr «Mandat des
Himmels» behält.
Die Prioritäten sind klar: China
hat sich bereits als Asiens Vormacht und neue Weltmacht des 21.
Jahrhunderts etabliert. Nun geht es darum, mit den USA gleichzuziehen,
von Washington als einzige andere Macht auf Augenhöhe behandelt zu
werden. Man mag bei allerlei regionalen und globalen Foren wie der Asean
oder der G-20 und der G-8 mitmachen, doch das alleinige Ziel ist die
G-2, China und die USA als Pole der Weltordnung. Dies bahnt sich im
weiten Raum des Pazifiks bereits an. Europa spielt da keine Rolle mehr,
umso mehr, als Peking ohnehin die EU so beurteilt wie Stalin den Papst -
eine Instanz ohne Divisionen!
Es ist erstaunlich, wie
unvorbereitet und unbedarft die Alte Welt in das neue Zeitalter
eintritt. Noch immer herrscht die fatale Fehleinschätzung fort, dass das
asiatische Jahrhundert für die bestehende Weltordnung, insbesondere
auch für internationale Organisationen wie die
Bretton-Woods-Institutionen, einfach ein «Weiter so» bedeuten würde. Dem
ist nicht so, auch wenn die derzeitige Stille vor dem Sturm dies
nahezulegen scheint. Wir sind längst in der Übergangsphase und die
Demaskierung Europas als «Kaiser ohne Kleider» ist nur eine Sache der
Zeit. Sie wird so lange hinausgezögert werden, als dies dem Reich der
Mitte gefällt.
Der Westen muss sich darauf
einstellen, dass die Welt ins Zeitalter des Merkantilismus und des
Hegemonismus eingetreten ist. Japan hat schon seit langem den
Merkantilismus gepflegt, wurde aber, da man es zum industrialisierten
Westen zählte, nicht als Gefahr für den internationalen Freihandel
wahrgenommen. Bei China liegen die Dinge anders. Einzelne mögen sich
darüber hinwegtäuschen, dass sich Peking mit der gigantischen Anhäufung
von amerikanischen Treasury-Bonds selbst in eine unselige Abhängigkeit
von der Schuldensupermacht USA begeben habe.
Mit Brachialgewalt?
Angesichts des absoluten Primats,
den in der Volksrepublik China die Politik geniesst, ist offenkundig,
dass China die Devisenreserven mit Sicherheit nicht aus währungs-,
sondern aus machtpolitischen Gründen mehrt und mehrt. Es ist falsch,
China als eine Marktwirtschaft zu betrachten. Es geht nicht nur um
fehlende Transparenz und um die weitverbreitete Abwesenheit von
Corporate Governance, sondern auch um den unkonventionellen Umgang
Chinas mit wirtschaftlichen Instrumenten wie beispielsweise den
Devisenreserven. Der totalen Priorität der Machtpolitik dient
selbstverständlich auch die Auslandpräsenz Chinas, und zwar auf allen
Ebenen von Landkäufen und der Akquisition von Ressourcen in Afrika und
Lateinamerika bis zum Aufkauf von strategisch wichtigen Industrien.
Chinas Merkantilismus hat die Minimierung von externen Abhängigkeiten
jeder Art zum Ziel.
Eng vinkuliert mit dem
Merkantilismus ist der Hegemonismus. Auch hier knüpft das Reich der
Mitte an eine alte Tradition an. Das Konzept der gleichberechtigten
Nationalstaaten, wie es in Europa entwickelt worden ist, hat in der
chinesischen Geschichte keinen Platz. Der Hegemon pflegt mit seinen
nahen und ferneren Nachbarn Beziehungen von unterschiedlicher
Abhängigkeit. Klar ist dabei stets, dass diese Abhängigkeit einseitig
ist. Dabei operiert der Hegemon nicht notwendigerweise mit militärischer
Brutalität. Vielmehr ist er aufgrund seiner kulturellen und
zivilisatorischen Überlegenheit geradezu berechtigt, vor anderen Staaten
und Völkern den Vorrang einzunehmen.
Sicher geriert sich die
chinesische Aussen- und Sicherheitspolitik nicht mehr nach den
Formalien, die während der Kaiserzeit galten. Andererseits ist
unverkennbar, dass Peking eine Hegemonialrolle in Asien und darüber
hinaus beansprucht. Zwar ist man nicht mehr, wie zu Mao Zedongs Zeiten,
gegen jede Kooperation mit multinationalen Organisationen. China hat die
Beziehungen zur südostasiatischen Regionalorganisation Asean in den
vergangenen Jahren kräftig ausgebaut. Es ist auch ein aktiver Teilnehmer
bei der Apec und verhandelt mit der EU. Gleichzeitig macht etwa die
Position Chinas in einer Vielzahl von umstrittenen Inseln im Süd- und im
Ostchinesischen Meer deutlich, dass man bei der territorialen Hoheit,
auch unter Verweis auf Karten aus der Kaiserzeit, nicht zu den
geringsten Konzessionen bereit ist.
Wie die Integration Chinas in die
neue globale Ordnung aussehen wird, darüber lässt sich zum heutigen
Zeitpunkt nur spekulieren. Sicher ist, dass die heute bestehenden
Ordnungsrahmen und Institutionen in dieser Form nicht fortdauern werden,
und die neuen Instrumente, die von bilateralen Freihandelsabkommen mit
China bis zur G-2 reichen werden, werden sich anders entwickeln als ihre
Vorgänger.
Für alle Länder wird gelten, dass
sie sich in diese entstehende neue Ordnung mit mehr oder weniger eigenem
Input werden einfügen müssen. Die USA, obschon sie von vielen Asiaten
als eine im terminalen Abstieg begriffene Supermacht gesehen werden,
werden in absehbarer Zukunft bei der Gestaltung der neuen Ordnung das
entscheidende Votum haben. Im Verlaufe der Zeit wird dieses allerdings
immer häufiger einen negativen und defensiven Charakter annehmen. Peking
und Washington sollten sich allerdings bewusst sein, dass Konfrontation
keine Lösung ist, sondern bloss den Weg dafür bahnt, dass die
aufstrebende Weltmacht China, wie andere Mächte zuvor, sich ihren Platz
an der Sonne mit Brachialgewalt sichern wird.
Nota.
Bermerkenswert, dass der Autor die inneren Verwerfungen der chinesischen Gesellschaft und deren mögliche Auswirkungen auf das politische Regime nicht einmal erwähnt. Dass der Ständige Ausschuss des Politbüros nichts anderes im Sinn hat, als die Ewigkeit der Dynastie zu sichern, garantiert nicht, dass ihm das gelingt. Es ist sogar weniger wahrscheinlich als deren Verfall. Und das wird erst eine Zäsur geben!
JE
Nota.
Bermerkenswert, dass der Autor die inneren Verwerfungen der chinesischen Gesellschaft und deren mögliche Auswirkungen auf das politische Regime nicht einmal erwähnt. Dass der Ständige Ausschuss des Politbüros nichts anderes im Sinn hat, als die Ewigkeit der Dynastie zu sichern, garantiert nicht, dass ihm das gelingt. Es ist sogar weniger wahrscheinlich als deren Verfall. Und das wird erst eine Zäsur geben!
JE
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