Sonntag, 26. Januar 2020

Hirnverwicklung und Kohärenz.


aus derStandard.at, 19. Jänner 2020

Gehirnentwicklung
Hirnforscher: "Kinder machen sich aus Liebe zu Eltern selbst unglücklich" 
Gerald Hüther erklärt, wie wir Kindern unbewusst die Freude am Lernen nehmen und damit ihr Potenzial vernichten

Interview von Nadja Kupsa  

Ihr Kind will geliebt werden, es liebt Sie – und es will Sie glücklich machen. Damit verraten wir Ihnen bestimmt nichts Neues, das klingt wunderbar. Doch wenn das Kind versucht, sich den Erwartungen der Eltern komplett anzupassen, dann verliert es an Spontanität, Lebensfreude und Sinnlichkeit, wie der Hirnforscher Gerald Hüther meint.

STANDARD: In Ihren Vorträgen und Büchern plädieren Sie immer wieder dafür, dass Eltern ihren Kindern das freie Spiel ermöglichen sollen. Was heißt das, und warum ist es so wichtig?

Hüther: Wenn Kinder spielen, ohne von Erwachsenen angeleitet zu werden, dann lernen sie. Man darf dem Kind nicht zeigen, wie man malt. Sie müssen es selbst herausfinden. Jede neue Entdeckung, jede neue Erkenntnis und jede neue Fähigkeit löst dabei im Gehirn des Kindes einen Sturm der Begeisterung aus. Diese Begeisterung über sich selbst und über all das, was es noch zu entdecken gibt, ist der wichtigste Treibstoff für die weitere Entwicklung des Gehirns. Deshalb lernt jedes Kind all das besonders gut, was Begeisterung in ihm auslöst.

STANDARD: Nun, gerade kleine Kinder entwickeln beim Spielen oft eine ausgeprägte Entdeckerfreude. Eltern müssen dann Grenzen setzen und dem Kind Dinge verbieten. Was passiert dann im Gehirn des Kindes?

Hüther: Wenn das Kind immer wieder die gesamte Küchenausstattung in den Schränken ausräumt, stoßen Eltern vielleicht an ihre eigenen Kapazitäten dieser Entdeckerfreude. Sie verbieten es. Das Kind merkt also, dass dies nicht erwünscht ist. Folglich werden im Gehirn des Kindes synaptische Hemmungen auf jenen Bereich gelegt, der für die Entdeckerfreude und Begeisterung verantwortlich ist. Das Gleiche passiert, wenn ein Kind ein wahnsinniges Bedürfnis hat, sich zu bewegen, und sich schwertut, am Tisch zu sitzen. Es wird irgendwann womöglich merken, dass es beim Versuch, sich zu entfalten, an Grenzen stößt. Es wird also gezwungen, dieses Bedürfnis zu unterdrücken. 

STANDARD: Es gibt aber auch Kinder, die haben einen sehr starken Willen und setzen sich durch.

Hüther: Jedes Kind hat einen großen Wunsch: dass es von den Eltern geliebt wird. Es möchte die Eltern glücklich machen. Wenn es mit seinem Drang nach Entfaltung nun immer wieder die Ablehnung der wichtigsten Bezugspersonen spürt, dann wird dieses Bedürfnis nach und nach unterdrückt. Das passiert nicht bewusst, sondern ist eine Funktion im Gehirn, die passieren muss: Der Zustand, in dem ein Gehirn, ein ganzer Mensch am wenigsten Energie verbraucht, heißt Kohärenz. Der ist dann erreicht, wenn alles optimal zusammenpasst. Durch diesen Konflikt zwischen dem Bedürfnis des Kindes und den Grenzen der Eltern entsteht also eine Situation, die die Kohärenz stört. Das wird dann schnell unbequem, weil die Nervenzellen beginnen, unkoordiniert zu feuern. Dann geht es uns nicht gut, wir beginnen nach einer Lösung zu suchen, und wenn wir die finden und die Herausforderung bewältigen können, wird dieser inkohärente, energieaufwendige Zustand im Hirn wieder etwas kohärenter. Das Kind ist dann also "freiwillig" bereit, seine Bedürfnisse abzustellen. Ich nenne es gerne "Dieser Bereich im Gehirn wird verwickelt". Das kann alles sein: Lernfreude, Begeisterung oder Mitgefühl. Wenn das Kind das gut hinbekommen hat, dann gibt es auch noch eine Belohnung dafür: die Freude der Eltern, weil das Kind brav ist.

STANDARD: Mitgefühl ist doch etwas Positives. Das freut doch alle Eltern? 

Hüther: Gehen Sie doch mal mit einem Kind, das sein Mitgefühl noch nicht unterdrückt hat, durch die Stadt. Da kommen Sie vielleicht an Obdachlosen vorbei, die am Boden liegen. Die meisten Kinder können gar nicht vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben und zu fragen, was mit dem Mann oder der Frau los ist. Dann müssen Sie dem Kind klarmachen, dass Sie sich nicht darum kümmern wollen, dass diese Person vielleicht selber schuld ist. Das Kind lernt infolge dessen, an einem Obdachlosen vorbeizugehen, ohne Mitgefühl zu empfinden. Warum? Weil es dem Kind wichtiger ist, bei seinen Eltern zu sein, als sich dem Obdachlosen zuzuwenden. 

Mitgebrachte Bedürfnisse und Persönlichkeiten eines jeden Menschen werden irgendwann so gut eingewickelt, bis man in die Familie und in die Gesellschaft reinpasst. Die, die sich am besten verwickelt haben, passen dann auch am besten rein. Ergo: Ein guter Schulabschluss ist nicht unbedingt ein Indikator von Intelligenz, sondern von guter Anpassungsfähigkeit. 

STANDARD: Warum ist das schlecht? 

Hüther: Weil man in diesem Zustand nie richtig glücklich ist. Bei solchen Verwicklungen ist es nämlich so, dass sich das Bedürfnis immer wieder meldet und man es mit hohem Energieaufwand immer wieder wegdrücken muss. Das ist auch der Grund, warum sich besonders verwickelte Menschen auch nicht mehr entfalten können. Sie müssen sich immer weiter anpassen, immer weiter verwickeln, und irgendwann sind sie aalglatt und rutschen überall durch. Sie passen immer überall rein, aber sie haben wichtige Eigenschaften verloren: die Lebensfreude, Spontanität, Sinnlichkeit. 

STANDARD: Haben Sie ein konkretes Beispiel aus dem Leben?

Hüther: Ich habe sogar eine kleine Geschichte, so selbst erlebt: Nach einem meiner Seminare kam ein Manager auf mich zu, weil er in Sorge um seinen 26-jährigen Sohn war. Dieser hatte bereits vier Studiengänge abgebrochen. Er war in Australien zur Selbstfindung und hatte bereits eine neue Ausbildung angefangen, für die er aber auch keine Begeisterung aufbringen konnte. Ich traf mich mit dem jungen Mann auf einen Kaffee, und so kamen wir ins Gespräch. Eigentlich wollte ich von ihm nur wissen, wann er das letzte Mal in seinem Leben so richtige Freude und Begeisterung empfunden hatte. Er erzählte mir von einer Zeit als Zwölfjähriger, in der er mit Freunden regelmäßig Paintball spielte. Seine Augen begannen zu leuchten. Und dann? Seine Eltern haben ihm irgendwann ihre Betroffenheit darüber geschildert, dass ihr Sohn mit Gewehren spielt. Schließlich seien sie Pazifisten. Nach diesem Gespräch spielte er nie wieder Paintball. Er konnte aber nur deswegen aufhören, weil er seine Leidenschaft dafür im Gehirn wegdrückte. Der Bereich im Gehirn, der für die Begeisterung und Leidenschaft verantwortlich ist, wurde also gehemmt. Da war dann gar nichts mehr.

STANDARD: Das erschüttert mich. Schließlich haben die Eltern überhaupt nichts falsch gemacht, und dann entsteht hier so schnell ein großes Lebensproblem eines Menschen? 

Hüther: Weder die Eltern noch der Sohn haben es schlecht gemeint, aber so funktioniert nun mal unser Gehirn. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik gilt auch für alle menschlichen Gemeinschaften wie Schulen oder später im Job. Zur Aufrechterhaltung Ihrer Funktionsfähigkeit müssen Sie versuchen, den Energieverbrauch so gering wie möglich zu halten.

STANDARD: Gibt es denn eine Möglichkeit, diesen Bereich im Gehirn wieder zu aktivieren? 

Hüther: Ja, das ist die gute Nachricht. Das menschliche Gehirn ist zeitlebens umbaufähig, und es ist nie zu spät, sich aus diesen gebahnten Mustern des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns wieder zu lösen. Die Hirnforschung nennt diese Fähigkeit Neuroplastizität. Um beim Wortlaut zu bleiben: Eine Ent-Wicklung ist immer möglich. Nämlich dann, wenn wir wieder mit unseren verwickelten Bedürfnissen und Persönlichkeitsanteilen in Berührung kommen. Die einen gehen dazu in den Wald, andere sehen sich einen Film an, und die Nächsten treffen einen Menschen, der sie berührt. Der vorher genannte junge Mann hat dann ein Start-up gegründet, in dem er, wie beim Paintball, Teamarbeit und das Gefühl von Autonomie vereinen konnte. Sein Vater hat mir berichtet, dass er das bis heute mit Leidenschaft führt. 

STANDARD: Das klingt jetzt wiederum einfach. Schließlich werden wir im Alltag ja permanent von irgendwas berührt, oder nicht? 

Hüther: Na ja, man muss diese Ent-Wicklung wollen. Wir leben in einer Welt, in der man mit der Verwickelung unserer Potenziale ganz gut leben kann. Es gibt Menschen, die wollen sich nicht berühren lassen, dann werden die unterdrückten Bedürfnisse einfach immer wieder weggedrückt. Mit dicken Autos, großen Häusern, teuren Klamotten, Alkohol oder anderen Dingen, die eigentlich keiner braucht. 

STANDARD: Heißt das, dass diese Verwickelungen in unserem Gehirn mitunter eine Ursache für unsere Umweltproblematik sind? 

Hüther: Natürlich, darum muss man auch bei den Kindern ansetzen. Seit einigen Generationen lässt sich gut beobachten, dass sich Kinder immer weniger verwickeln. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass wir keinen Krieg hatten in den letzten 75 Jahren – Not und Elend sind Gott sei Dank ausgeblieben. Das heißt, Eltern waren eher fähig, ihre Kinder mit ihren Persönlichkeiten anzunehmen und sie einfach sein zu lassen, wie sie nun mal sind. 

Es gibt jetzt die erste Kindergeneration, bei denen es uns als Erwachsenen nicht gelungen ist, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken. Diese Kinder sind nun unsere Ent-Wicklungshelfer. Das hat es in der ganzen Weltgeschichte noch nicht gegeben. Dass die nachwachsende Generation den Älteren hilft, sich aus ihren Verwicklungen zu befreien. Heute sitzen die Kinder am Tisch und sagen: "Nö, ich esse kein Fleisch. Mir tun die Tiere leid." Das wäre vor dreißig Jahren noch in vielen Familien ein Problem gewesen. Heute berührt das viele Eltern – und, um beim Beispiel zu bleiben, man sieht nicht selten, dass die ganze Familie nach einem Jahr vegetarisch lebt. 

STANDARD: Sie haben eingangs gesagt, dass es das höchste Ziel der Kinder ist, von ihren Eltern geliebt zu werden. Heißt das, dass Kinder heutzutage eher das "Risiko" eingehen, von ihren Eltern nicht geliebt zu werden? 

Hüther: Nein, sie wissen, dass es eine Elterngeneration ist, die ihre Bedürfnisse akzeptiert. Die haben sich ja von Generation zu Generation ein Stückchen freier gemacht von all diesen Dogmen und sind nun fähig, dem Kind Rechte einzuräumen. Wenn in einer Gesellschaft die alten Machtstrukturen nicht mehr so stark sind, dann gibt es nicht mehr so viele unterdrücke Persönlichkeitsanteile und Bedürfnisse, und es kommt zur Befreiung des Menschen. 

STANDARD: Wie sieht dann Ihre Zukunftsprognose für die nächsten 50 Jahre aus? 

Hüther: Wir erleben gerade einen Auflösungsprozess von Machtstrukturen und von hierarchischen Ordnungen. Die sind nicht per se negativ, denn sie sorgen seit 10.000 Jahren dafür, dass es auch in der Gesellschaft einigermaßen kohärent zugeht. Sie sind nur insofern ungünstig, als sich seit 10.000 Jahren Menschen in aller Welt anstrengen, sich gegenseitig zu überholen, auszustechen und zu überbieten. Am Ende wird die Welt dann globalisiert und digitalisiert. Wir haben die über Jahrmillionen auf unserem Planten entstandene Vielfalt des Lebens bereits ruiniert. Wir haben uns da komplett verirrt. Das alte Ordnungsprinzip ist längst an die Grenzen gestoßen. Es hat etwas vorgebracht, das sie nun selbst zerstört und die Inkohärenz wieder erhöht. Die Folge ist, dass viele Menschen wieder etwas suchen, das diese Ordnung herstellt. 

STANDARD: Was wäre das zum Beispiel? 

Hüther: Herr Strache, Herr Trump oder Herr Orbán. 

STANDARD: Das heißt, viele wollen ihre eigenen Potenziale gar nicht entfalten? 

Hüther: Sie können mit dieser neugewonnenen Freiheit nicht umgehen. Deswegen sehnen sie sich nach alten, hierarchischen Modellen. Um diese wiederherzustellen, müsste die Welt aber auch genauso funktionieren wie damals. Dazu bräuchte es einen möglichst zerstörerischen Krieg, wo alles in sich zusammenfällt. Danach kann wieder ein Anführer kommen und den Wiederaufbau organisieren. 

STANDARD: Ihre Zukunftsprognose ist also ein zerstörerischer Krieg? 

Hüther: Wenn wir auf diesem Planeten überleben wollen, müssen wir lernen, unser Zusammenleben konstruktiver als bisher zu gestalten: miteinander statt gegeneinander, verbindend statt trennend, achtsam statt rücksichtslos. Der Mensch müsste eigentlich eine eigene innere Orientierung finden, wie ein Kompass, mit dessen Hilfe er sein eigenes Leben und sein Zusammenleben mit den anderen so gestaltet, dass es gut ist. Und das heißt Würde. Würde heißt, dass ich mich für andere nicht mehr als Objekt zur Verfügung stelle und ich auch andere nicht mehr zum Objekt mache. 

STANDARD: Wenn wir in Würde leben, können wir also unseren Planeten retten? 

Hüther: .Jemand, der sich seiner eigenen Würde bewusst geworden ist, ist für hierarchische Ordnungen nicht mehr tauglich. Wenn es uns als Erwachsenen also gelingt, bei den Kindern diese Würde auszubilden, dann sind die nicht mehr verfügbar für die vorher genannten Herrschaften. Das Neue ist schon längst da, aber es kann sich angesichts der Tatsache, dass das Alte schon seit 10.000 Jahren da ist, nicht übermorgen durchsetzen. Das ist der schwierigste Transformationsprozess, in dem wir als Menschen jemals waren. 

STANDARD: Wäre das aus Sicht des Gehirns der nächste Evolutionsschritt? 

Hüther: Solange Hunger, Not, Elend und Krankheiten da sind, gelingt es uns nicht, uns zu entfalten. Deshalb war es auch gut, dass wir in hierarchischen Ordnungsstrukturen andauernd Neues erfunden haben, um dem entgegenzutreten. All diese Dinge haben wir zumindest theoretisch gut im Griff. Also ja, wir sind nun an dem Punkt, wo wir anfangen könnten, als Menschen zu leben. 


Nota. - Das klingt weniger wissenschaftlich, als es soll. Hüthers Kohärenz erinnert unangenehm an Siegmund Freuds Fetisch der Homöostase, die ihrerseits von Schopenhauers Liebäugeln mit den buddhistischen Nirwana herstammt: das ideologische Vor-Urteil, dass die Natur 'von sich aus' stets einemn reizlosen Gleichgewichtszu- stand zustrebte. Das wird man vor-abziehen müssen, bevor man sich seinen Ausführungn im einzelnen zuwendet.
JE







Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Dienstag, 21. Januar 2020

Tugendterror.



Die größten Tugendterroristen aller Zeiten hießen Robespierre und St. Just. Zu ihren Vorläufern zählten Savonarola, Knipperdolling und Jan van Leyden.

Auch in Münster und Florenz wurden die Kinder gegen die Alten gehetzt.




Montag, 20. Januar 2020

Wokeness.

aus nzz.ch, 20.01.2020

Wokeness heisst die gesteigerte Form der Political Correctness
Sei wach, richte über andere, und fühle dich gut dabei
Wer Auto fährt und fliegt, ist bestimmt nicht woke. Wer Amazon boykottiert, schon eher. Der neue Moralismus vor allem jüngerer Zeitgenossen ist nicht nur im Netz ziemlich angesagt. So bedenklich er ist, berührt er dennoch einen wichtigen Punkt.

von Simon M. Ingold

An der Verleihung der diesjährigen Golden Globes erlaubte sich der britische Komiker Ricky Gervais einen seiner berüchtigten verbalen Rundumschläge. Zu den versammelten Hollywoodgrössen sagte er: «Ihr behauptet, dass ihr aufgeschlossen seid, aber eure Arbeitgeber betreiben Sweatshops in China – unglaublich. Apple, Amazon, Disney. [. . .] Wenn ihr heute Abend einen Preis gewinnt, dann benutzt ihn nicht als Plattform, um eine politische Rede zu halten. Ihr habt kein Recht, die Öffentlichkeit über irgendetwas zu belehren. Ihr wisst gar nichts über die richtige Welt da draussen.»

Das verlegene Kichern und die gesenkten Blicke der Anwesenden sprachen für sich: Moralischer Opportunismus und ökonomischer Eigennutz sind schlechte Bettgefährten, aber weit verbreitet.

Dass die politisch links tendierende Unterhaltungsbranche eine Doppelmoral pflegt, ist keine bahnbrechende Erkenntnis. Gervais’ Schelte bliebe denn auch eine Randnotiz, wenn die selbstherrliche Haltung sogenannt progressiver Kreise nicht eine Vehemenz erreicht hätte, neben der traditionelle Formen der Political Correctness verblassen.

Letztere war mit dem berechtigten Anspruch angetreten, alle wesentlichen Lebensbereiche von offensichtlichen und subversiven Formen der Diskriminierung zu befreien, mit spürbarem Erfolg. Mitunter ist sie aber auch dadurch aufgefallen, dass sie eigene Formen der Diskriminierung entwickelte, die bloss anders genannt wurden. Die neue Korrektheit manifestierte sich in der Förderung und teilweise aktiven Bevorteilung von Minderheiten im Rahmen der «affirmative action», insbesondere aber in der Reglementierung des Sprachgebrauchs. 

Jeder richtet über jeden

Die neue, gesteigerte Form von Political Correctness gibt sich damit nicht zufrieden. Ihre Verfechter erklären sich als «woke» – eine von «awake» abgeleitete Wortkreation, die eine höhere Form von Bewusstsein in Bezug auf den prekären Zustand der Welt unterstellt.

Woke ist, wer Autos und Flugzeuge als Fortbewegungsmittel ablehnt, wer sich der Fortpflanzung verweigert und Amazon boykottiert. Nicht woke ist, wer dem antiquierten Schönheitsideal 90-60-90 nachhängt, wer die zum Schweizer Kulturgut gehörenden, aber vor rassistischen Anspielungen strotzenden Dialektaufnahmen des Kasperletheaters hört und Ausstellungen von Balthus besucht. Greta Thunberg und Lukas Bärfuss sind woke. Prince Andrew und Peter Handke sind es nicht.

Aber wer bestimmt eigentlich darüber? Es gibt keinen kodifizierten Kriterienkatalog der Wokeness, keine Autorität, die besagt, was akzeptabel ist und was nicht. Das Tückische an der Wokeness ist, dass sie dem Konsens entspringt und somit ein amorphes, von Befindlichkeiten gesteuertes Gebilde ist.

Die geballte anonyme Mehrheit, angeführt von Influencern und der Twitterati-Klasse, hat das erste und letzte Wort und verschiebt laufend den Rahmen dessen, was in ihre binäre Weltsicht passt. Wer es wagt, dem moralischen Konsens zu widersprechen, wird zum Paria erklärt. Die etablierten Medien tragen diesen Zustand im Wesentlichen mit, indem sie die Denkschablonen übernehmen. In diesem verhärteten Umfeld, das keine Zwischentöne und keine Ironie kennt, regiert die Willkür. 

Werte dich ab

Problematisch ist Wokeness jedoch auch aus anderen Gründen. Zum einen fördert sie eine unverhältnismässige Dünnhäutigkeit, derentwegen selbst harmlose Formen persönlicher Kritik als Affront wahrgenommen werden, mit perversen Folgen. So ist es im angelsächsischen Raum mittlerweile üblich, dass Redner im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen aufgefordert werden, ihre angeblichen Privilegien offenzulegen.

Eine junge Ärztin würde sich beispielsweise als weisse, heterosexuelle Europäerin und Einzelkind vorstellen (im Weltbild der Wokeness-Bewegung alles Attribute, die einer Entschuldigung bedürfen). Unter dem Deckmantel der Transparenz wird damit ein Bonus-Malus-System weitgehend angeborener Eigenschaften etabliert, das Vorurteile bestätigt, statt sie zu beseitigen. Aufseiten der Privilegierten forciert es zudem eine heuchlerische Selbstkasteiung, die einer reichlich verqueren Logik folgt: Man werte sich ab, um sich den vermeintlich Benachteiligten auf Augenhöhe zu nähern.

In eine ähnliche Richtung zielt der Eifer, mit dem klassische Werke der Weltliteratur von rassistischen Inhalten gesäubert werden. Was mit Mark Twains «Tom Sawyer» geschah, passierte jüngst auch mit Margaret Mitchells «Vom Winde verweht». Sprache ist zweifellos ein wesentlicher Vektor für die Verbreitung von diskriminierendem Gedankengut. Gerade deshalb ist sie auch die wirkungsvollste Waffe für dessen Bekämpfung. Zensur hingegen kann nicht das richtige Mittel sein. Die Negation abwertender Begriffe trägt nicht zu deren Verschwinden bei, sondern ist platter historischer Revisionismus.

Wokeness ist mehr als eine moralisch überlegene Lebensphilosophie; sie ist das Dogma du jour, die trendige Variante des comme il faut, zudem ein millionenfach verwendetes Hashtag. Kurzum: Sie ist ein Statussymbol. Entsprechend beginnt sie sich allmählich von ihrer inhaltlichen Ebene zu entkoppeln. 

Achte auf deine Reputation

Es geht nicht nur um Substanz, sondern darum, den sozialen und medialen Erwartungen mit grossspurigen Lippenbekenntnissen zu entsprechen. Die trivialen Allgemeinplätze zu Gleichberechtigung und Toleranz, die von zahlreichen Preisträgern der Golden Globes zum Besten gegeben wurden, bestätigen dies. Davon konkrete Ergebnisse zu erwarten, ist naiv. Stattdessen trägt Wokeness zur verschärften Tonalität des öffentlichen Diskurses bei. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, entpuppt sich Wokeness als Intoleranz mit umgekehrtem Vorzeichen und ebnet damit den Weg in die Ära der Reputationsökonomie.

Mit diesem Begriff beschreibt der Autor Bret Easton Ellis in seinem neuen Essayband «White» den fundamentalen Wandel des globalen Werte- und Bewertungssystems. In der Reputationsökonomie gilt es, das eigene Image – gemessen an Likes, Mentions und sonstigen Formen digitaler und sozialer Anerkennung – um jeden Preis zu maximieren.

Folglich stellt jede öffentlich geäusserte Meinung, die vom Mainstream abweicht, ein unkalkulierbares Risiko dar. Das von den sozialen Netzwerken unerbittlich durchgesetzte Diktat des Gruppendenkens steigert die Paranoia vor dem überall lauernden Rufmord – gerade unter Anhängern der Wokeness-Bewegung. Eine Entschuldigung ist das nicht: Zensur durch Mehrheitsurteil ist immer selbst auferlegt. 

Es gibt auch Widerstand

Freilich kämpft nicht nur die Wokeness-Bewegung mit harten Bandagen. Ihre konservativen Gegner halten ihrerseits mit Anklagen nicht zurück und erliegen zuweilen antiegalitären Reflexen. Sie verhöhnen woke Zeitgenossen als sentimentale, selbstgefällige Snobs, die im hysterischen Alarmismus eine Legitimation für Identitätspolitik, Umweltwahn und einen aus den Fugen geratenen Multikulturalismus suchen. Mit dieser pauschalen Haltung machen es sich einige aber zu leicht. Denn durch die Entwertung der Anhänger woker Anliegen werden die Anliegen selbst nicht automatisch mit entwertet.

Es ist zum Beispiel ein fataler Trugschluss, die hart erkämpften Integrationserfolge der Bürgerrechtsbewegung als irreversibel zu betrachten. Gleiches gilt für den Antisemitismus, der ausgerechnet in den USA eine erschreckende Renaissance erlebt. Der Weg von der Ignoranz ins Licht ist lang. Und der Schritt von der Aufgeschlossenheit zum aktiven Handeln braucht Überwindung. Das Rad zivilisatorischer Errungenschaften lässt sich aber jederzeit zurückdrehen.

Die Frage nach den wirklichen Motiven der Wokeness-Gegner muss deshalb erlaubt sein: Geht es ihnen um eine Versachlichung der Debatte oder letztlich eben doch nur um den Erhalt des Status quo?

James Hatch, ein 52-jähriger Veteran der US Navy Seals und Erstsemesterstudent an der Yale University, beweist, dass es wichtig und möglich ist, von der eigenen Erfahrungswelt abzusehen, um sich einem Phänomen wie Wokeness rational anzunähern. In einem vielbeachteten Essay reflektiert er differenziert und gelassen seine Erfahrungen als hochdekorierter Ex-Soldat mittleren Alters, der sich im ungewohnten Umfeld einer akademischen Eliteinstitution mit intellektueller Schwerarbeit und 18-jährigen Kommilitonen auseinandersetzen muss.

Hatch berichtet auch, dass er trotz seinem unanfechtbaren Lebenslauf unter ehemaligen Militärangehörigen als «snowflake» (Schneeflocke) gilt – ein Pejorativum, das Menschen mit progressiver Gesinnung vorbehalten ist. Die Reaktion auf Hatchs bemerkenswerte Metamorphose ist nicht nur ein persönlicher Angriff, sondern symptomatisch für das tiefsitzende Misstrauen, das Bildungseliten allgemein entgegengebracht wird. Hatch bleibt versöhnlich und beruft sich auf das, was jenseits von vorsätzlicher Ignoranz, Respektlosigkeit und oberflächlicher Etikettierung liegt: einen unvoreingenommenen, sachbezogenen Diskurs, in dem das bessere Argument neidlos gewinnt.

Wokeness als Mittel zur schamlosen Selbstdarstellung schadet der Sache – nämlich sich für eine Gesellschaft unter Freien und Gleichen zu engagieren. Und man braucht auch keine neuen Begriffe zu prägen, um diesem legitimen Anliegen, das nach wie vor den Status eines unvollendeten Experiments hat, Nachdruck zu verleihen. Entscheidend ist vielmehr die Selbsterkenntnis, dass unser Wissen und unsere Erfahrungen begrenzt sind.

Wer nicht bereit ist, zuzuhören, andere Standpunkte anzuerkennen und davon zu lernen, kann auch nicht streiten – und dann siegt nicht das beste Argument, sondern bloss die schrillste Stimme. 


Nota. - Man hört jetzt vielfach die Klage, die Meinungsfreiheit sei bedroht, man dürfe nicht mehr sagen, was man für richtig hält. Das ist völlig falsch. Jeder darf sagen, was er will - und, schlimmer noch, so laut er will; wenn nicht an dieser Stelle, dann an einer andern, auch das ist Öffentlichkeit; und dann gibts ja noch Twitter und Facebook.

Es ist aber auch nicht alles in Ordnung. Denn keiner muss sich noch anhören, was er nicht will, die Filterblase machts möglich. So laut der Andre schreit - ich nehm es einfach nicht zur Kenntnis.

Die Sprachzensur durch die Tugendterroristen besteht nicht darin, dass 'man' nichts mehr sagen darf; sondern dass je nach Stimmung ausgesuchte Reizwörter zum Anlass genommen werden, die Diskussion abzubrechen und sich stattdessen zu empören, und zwar laut genug, um die andern zu übertönen. Aber das ist nicht Öffent- lichkeit.
JE

Samstag, 18. Januar 2020

Gepokert?


Wäre nicht zuvor Schwarz-Blau in Österreich so blamabel geplatzt, hätte Sebastian Kurz seinen Landsleuten Schwarz-Grün gewiss nicht so leicht schmackhaft machen können.

Wenn er nun behaupten wollte, das sei von Anfang an sein Plan gewesen, wird man ihm das Gegenteil kaum beweisen können.


Er hat Angela Merkel 2015 böse in die Suppe gespuckt, das war unter europäischem Gesichtspunkt eine üble Sache. Aber Österreich hat weder in Europa noch in der Welt eine Stellung, wie Deutschland sie hat. Es war nicht an ihm, in Europa den Vorreiter zu machen. Dass Kurz dabei so auf den Putz gehauen hat, dürfte sein Bündnis mit den Freiheitlichen eingeläutet haben. Kann man ihm zutrauen, dass er noch darüber hinaus geblickt hat? Es war freilich Zeit, in Österreich die lähmende Epoche der alternierenden Großen Koalitionen zu beenden; das konnte auch jeder andere bemerken.





Freitag, 17. Januar 2020

Zukunft ist nicht mehr, was sie war.


aus derStandard.at, 8. Jänner 2020
 
Prognose
Wie Algorithmen unsere Vorstellung von der Zukunft verändern
Große Techkonzerne können mit künstlicher Intelligenz unser Verhalten immer genauer vorhersagen. Was macht das mit unserer Idee von Zeit und Zukunft?

von Miguel de la Riva

Amazon weiß, nach welchem Produkt ich schon immer gesucht habe, Youtube lockt mit genau dem Video, das mich interessiert, Spotify empfiehlt den Song, der meiner Musiksammlung noch gefehlt hat: Dass große Tech- konzerne unser Nutzerverhalten mit Algorithmen auswerten und treffsicher unsere Wünsche und Handlungen vorhersagen, ist mittlerweile fester Bestandteil unseres Alltags.

Wenn es somit möglich scheint, unser Verhalten umfassend vorherzusagen – wie verändert der Eintritt ins digi- tale Zeitalter dann unsere Vorstellung der Zukunft? Zu dieser Frage forscht Lotte Warnsholdt als Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Die Nachwuchswissenschafte- rin promoviert in Lüneburg am Graduiertenkolleg "Kulturen der Kritik" der Deutschen Forschungsgesellschaft.

Alter Menschheitstraum

In der Vorhersage der Zukunft sieht Warnsholdt einen alten Menschheitstraum. Doch mit der Digitalisierung verändere sich unsere Vorstellung der kommenden Zeit grundlegend. Wie sie mit Bezug auf den Historiker Reinhart Koselleck herausarbeitet, hatte sich in der Moderne zunächst das Bild einer gestaltbaren Zukunft durchgesetzt: Waren in der alten Ständegesellschaft, in der die Söhne stets das Handwerk der Väter erlernten, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont kongruent, schien die Zukunft mit der Französischen Revolution, dem anbrechenden Kapitalismus und dem an Fahrt aufnehmenden technischen Fortschritt um 1800 so offen wie ungewiss zu werden.

Heute dagegen würden die zusehends perfektionierten Vorhersagetechnologien dem Phantasma einer allgemei- nen Berechenbarkeit der Zukunft Vorschub leisten. An die Stelle von Prognosen großer, allgemeiner Trends, mit denen man sich auf eine ungewisse Zukunft einzustellen versuchte, trete im Zuge der Digitalisierung nun die Vorhersage sehr spezifischer Ereignisse – von der Nachkommastelle der Klimaerwärmung bis zu den Kaufent- scheidungen einzelner Konsumenten, so Warnsholdt, die sich dabei auf die Soziologin Elena Esposito bezieht.

Die Vorhersagetechnologien zeichneten damit das Bild einer Zukunft, die nicht mehr gestaltbar, sondern schon jetzt in ihren Details unumgänglich festzustehen scheint – und beeinflussen damit unser Handeln in der Gegen- wart. Für Warnsholdt als Kulturwissenschafterin steht deshalb nicht im Vordergrund, inwieweit sich die Zukunft mit den Algorithmen tatsächlich zuverlässig vorhersagen lässt. Ihr geht es vielmehr um die Macht dieser Tech- nologien, die uns als zunehmend selbstverständlicher und gewohnter Teil unseres Alltags umgeben.

Datenskandale und die Gegenwart der Zukunft

Als besonders eindrückliches Beispiel für diese Macht nennt sie den Skandal um Cambridge Analytica. Mit einem harmlos wirkenden Fragebogen konnte das obskure britische Unternehmen bei der letzten US-Präsi- dentschaftswahl die Daten zahlloser Facebook-Nutzer abschöpfen, sie algorithmisch auswerten und so zielgenau potenzielle Wähler Donald Trumps ansprechen.

Das zeige deutlich, wie stark die algorithmisch vorhergesagte Zukunft in die Gegenwart zurückwirkt und damit gleichsam den Lauf der Zeit umkehrt: "Vorhersagetechnologien sind keine neutralen und unbeteiligten Beob- achter, sondern mit daran beteiligt, die Zukunft herbeizuführen, die sie berechnen. Sie schaffen schon in der Gegenwart eine neue Ausgangslage – die Zukunft, die die Algorithmen vorhersagen, würde ohne sie gar nicht eintreten."

"Vorhersagetechnologien sind mit daran beteiligt, die Zukunft herbeizuführen, die sie berechnen", sagt die Kulturwissenschafterin Lotte Warnshold.

In ihrer Arbeit legt Warnsholdt auch einen Schwerpunkt auf die Geschichte dieser Technologien. Wie sie mit Rückgriff auf den Wissenschaftshistoriker Peter Galison beleuchtet, gehen sie insbesondere auf den Zweiten Weltkrieg zurück. Was uns heute als App auf dem Smartphone unauffällig begleitet, stammt demnach maßgeblich aus dem militärisch-industriellen Komplex der USA.

Anfang der 1940er-Jahre etwa arbeitete der Mathematiker Norbert Wiener für das US-Militär an einem "anti-aircraft predictor". Während die Nationalsozialisten großflächige Angriffe auf Großbritannien flogen, forschte er an einer Maschine, die die Flugbahn feindlicher Flieger vorausberechnen sollte, um sie automatisiert vom Himmel zu schießen. Die Herausforderung bestand dabei darin, auch die Ausweichmanöver des Piloten nach Abschuss des Projektils vorherzusehen.

Kybernetik und Feedbackschleifen

Obwohl das Gerät letztlich nicht zum Einsatz kam – mit den damaligen technischen Mitteln ließen sich nur zehn statt der erforderlichen 20 Sekunden vorausberechnen –, entstanden während seiner Entwicklung die Grundlagen für die heute allgegenwärtigen Überwachungs- und Vorhersagetechnologien. Weil sich Pilot und Kanone gegenseitig aneinander ausrichten, mussten sie als ein System verstanden werden, in dem sie durch Feedbackschleifen miteinander verbunden sind. Wieners Kriegsforschung wurde so zur Geburtsstunde für die Kybernetik, die aus solchen Feedbackstrukturen eine allgemeine Theorie auch sozialer Systeme machte und über die er nur wenig später Standardwerke vorlegte.

Wiener begann damals, menschliches Verhalten in Analogie zur Reaktion von Maschinen als berechenbare Größe zu verstehen. Dabei erkannte er, dass sich zuverlässige Vorhersagen nur für jeden einzelnen Flieger aufgrund seines früheren Verhaltens treffen ließen. Wie heute bei den großen Techkonzernen wusste man so schon im Krieg um "die Vorzüge großer Mengen personenbezogener Daten – je mehr man davon hatte, desto präziser konnte man die Ausweichmanöver der Piloten vorhersagen", sagt Warnsholdt.

In den Fängen des Überwachungskapitalismus

Heute sind diese Daten in den Händen weniger Unternehmen konzentriert, die daraus unsere Wünsche und unser Verhalten immer exakter vorauszuberechnen wissen. Droht im Überwachungskapitalismus also die Offenheit der Zukunft aus unserer Welt zu verschwinden? Wie kann in einer Welt, deren Verlauf präziser denn je vorhersehbar scheint, noch ein Horizont von Möglichkeiten aufrechterhalten werden?

Warnsholdt sieht in diesen Fragen das Kernproblem ihrer Arbeit. Die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse sieht sie durch die Vorhersagetechnologien vor neuen Herausforderungen: "Kritik beruhte bisher auf der Vorstellung einer offenen, gestaltbaren Zukunft – darauf, dass die Welt auch ganz anders sein könnte. Für sie ist die Erfah- rung entscheidend, dass das, was ist, nicht so sein muss."

In ihrer weiteren Arbeit will sie Bedingungen erforschen, die diese Erfahrung noch zulassen. Sie verweist hier auf Räume des Ungewissen und Uneindeutigen, des Nichtwissens und Nichtmaschinenlesbaren, wie sie etwa im Kontext geteilter Geheimnisse oder der Kunst bestünden. In ihnen sieht sie Sphären, in denen sich Unvorher- gesehenes ereignen und Neues erprobt werden kann – und damit Impulse zur Kritik an einer Welt, in der die Zukunft vermeintlich immer schon feststeht.  


Nota. - Ob und wie weit sein Verhalten berechenbar ist, liegt offenbar weitgehend an jedem selbst. Wenn es ein zu lösendes Problem gibt, liegt es hier.
JE

Donnerstag, 16. Januar 2020

Hier stehe ich und kann auch anders.

 
aus nzz.ch, 12. 1. 2020

In Moskau wurde seit den dreissiger Jahren eine umfangreiche Kaderakte zu Bertolt Brecht geführt 
Der parteilose Schriftsteller galt als Trotzkist und weckte darum den Argwohn. Trotzdem wurde ihm in den fünfziger Jahren der Stalin-Preis verliehen.

von Reinhard Müller 


Mit der allmählichen Öffnung der Moskauer Archive wurden ab den neunziger Jahren auch sorgsam gehütete und als «streng geheim» klassifizierte Dokumente zugänglich. Dazu gehören die sogenannten Kaderakten, die in der Kaderabteilung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale und nach Auflösung der Komintern im Zentralen Archiv der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gesammelt wurden. Diese sekretierten Archivbestände wurden in zweifach versiegelten Stahlschränken und Archivräumen aufbewahrt und umfassen allein für Deutschland nahezu 14 000 Kaderakten.

Hier finden sich Personalakten von prominenten Funktionären der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Komintern, beispielsweise von Walter Ulbricht, Herbert Wehner, Willi Münzenberg sowie dem Schweizer Fritz Platten. Aber auch die verwischten Spuren von zahlreichen namenlosen kommunistischen Emigranten, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden, lassen sich durch Dokumente aus Kaderakten nachzeichnen.
 
In der bürokratisch organisierten Parteifeme lieferten Autobiografien, Auskünfte, Fragebogen, Eingaben, Briefe und parteitreue Denunziationen den Nachweis für «bolschewistische Wachsamkeit» oder für Abweichungen von der «Generallinie» und für «Verbindungen» zu «trotzkistischen Parteifeinden». Permanenter Verdacht und allgegenwärtige Wachsamkeitsparanoia produzierten ein selbstreferenzielles System von wechselseitiger Kontrolle, in dem «der Wächter selbst wieder überwacht wird» (Elias Canetti). 

Verbreitetes Denunziantentum
 

Man könnte verwundert sein, dass für den parteilosen Bertolt Brecht in der Kaderabteilung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale eine Kaderakte angelegt wurde. Jedoch sammelte das Überwachungs- und Kontrollsystem der Komintern, das Stalins Geheimpolizei NKWD auf dem Dienstweg zuarbeitete, auch Informationen aus unterschiedlichsten Quellen über parteilose Emigranten wie Zenzl Mühsam und den Schauspieler Ernst Busch.

Zwei deutsche Referenten, die 1937 und 1938 selbst verhaftet wurden, erfassten mündliche und schriftliche Berichte und Denunziationen von wachsamen Parteimitgliedern. Sie stellten Listen von «schädlichen Elementen» zusammen, werteten Protokolle der inquisitorischen Parteisäuberungen aus und verfertigten Exzerpte über die «geschlossene Schriftstellerversammlung» im September 1936. Während dieser vier nächtlichen Sitzungen berichtete Ernst Ottwalt, dass sich bereits 1933 in Berlin um Brecht ein «Kreis» gebildet habe, zu dem auch «zwei Figuren», nämlich Fritz Sternberg und Karl Korsch, gehörten.

Der KPD-Reichstagsabgeordnete Korsch wurde 1926 als linker Kritiker Stalins aus der KPD ausgeschlossen und galt wie der marxistische Ökonom Fritz Sternberg für Brecht als «Lehrer». Vor allem die «Beziehung» zu Karl Korsch wurde von der Kaderabteilung und von wachsamen Schriftstellerkollegen permanent verfolgt. So meldete der ungarische Dramatiker Julius Hay in der Schriftstellerversammlung, dass 1933 bei Brecht «miesester Defaitismus und Liquidatorentum» herrschten. Nicht nur der parteilose Bertolt Brecht, sondern auch die Parteigenossin Helene Weigel seien diesen «Stimmungen» vollkommen erlegen.

Eine erste, nicht datierte Notiz in der Kaderakte ernennt Brecht sogar zum Parteimitglied: «Professor Korsch soll in Dänemark bei den Parteimitgliedern Bert Brecht und Helene Weigel wohnen. Letztere ist bestimmt Parteimitglied. Wenn ihr es für notwendig erachtet, gebt bestimmte Anweisungen.» Nähere Auskünfte finden sich in einem Vermerk der Kaderakte, den die Referentin Grete Wilde am 16. Oktober 1936 an den Leiter der Kaderabteilung richtet:
 
«Betr. Bertold Brecht. Derselbe ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift das ‹Wort›, die in Moskau erscheint. Berthold Brecht befindet sich im Ausland, Dänemark. Wie uns mitgeteilt wird, wohnte im Jahre 1934, in der Wohnung von Berthold Brecht der aus der K. P. D. 1926 ausgeschlossene Trotzkist Professor Korsch. Die Frau Berthold Brechts soll mit den Kopenhagener Trotzkisten in enger Verbindung stehen. Wie wir erfuhren, will Berthold Brecht im Oktober in die S. U. kommen in Verbindung mit der Zeitschrift ‹Das Wort›. Wenn seine Frau mitkommt, besteht die Möglichkeit, dass sie Aufträge der Trotzkisten besitzt. Berthold Brecht ist nicht Mitglied der K. P. D., sondern sympathisierender Schriftsteller.»

Brecht macht sich verdächtig


Wie in anderen Fällen üblich, wurde diese Auskunft übersetzt und als «streng geheime» Meldung «Über Brecht, Bertolt und Alexander Bessmertny» vom Leiter der Kaderabteilung Alichanow an den NKWD-Offizier Korniljew, den Leiter der 3. Abteilung des NKWD in der Geheimdienstzentrale Lubjanka, weitergegeben. Diese Meldung an den NKWD wurde durch einen bedrohlichen Hinweis ergänzt: «Unter den Mitarbeitern der Zeitschrift ‹Wort› gibt es ausser Brecht noch das verdächtige Element Alexander Bessmertnyi. Unserem Wissen nach arbeitete der Letztere 1934 für den tschechischen Nachrichtendienst.»

Da Korsch 1934 bei Brecht unter dem «dänischen Strohdach» in Skovsbostrand bei Svendborg wohnte, wurde Brecht nach dem Prinzip der Kontaktschuld für die Kaderabteilung und den NKWD verdächtig. Helene Weigel geriet durch ihre «Verbindungen mit den Trotzkisten in Kopenhagen» in den Verdacht, als Botin Aufträge von Trotzkisten nach Moskau zu überbringen. Nach dieser Meldung wurde in der Lubjanka über Bertolt Brecht eine bisher nicht zugängliche NKWD-Akte angelegt. Registriert wurden hier ebenso Brechts «Beziehungen» zu Carola Neher und Ernst Ottwalt, die 1936 verhaftet wurden. Hier sind wahrscheinlich auch die Einladungen, Grenzübertritte und Berichte über Brechts Moskau-Besuche in den Jahren 1932 und 1935 verzeichnet.

Bei seinem zweiten Besuch 1935 war Brecht wie viele Russland-Reisende fasziniert von den Schauseiten Moskaus. Die Demonstrationen am 1. Mai hinterliessen einen «ungeheuren Eindruck» wie auch die Fertigstellung der ersten Metrolinien, die Brecht in einem Gedicht rühmte. Zu seinen Ehren wurden im Klub für ausländische Arbeiter und im Haus der Sowjetschriftsteller Brecht-Abende veranstaltet, auf denen Carola Neher Lieder und Songs Brechts vortrug. Er war – fürsorglich betreut und abgeschirmt durch den befreundeten Sergei Tretjakow – ein «embedded writer», der die allgegenwärtige Propaganda als «Literarisierung der Massen» begriff.

Eine weitere, für 1937 geplante Moskau-Reise führte Brecht jedoch nicht durch. Er las im dänischen Svendborg die Protokolle der drei Schauprozesse, verfolgte die Berichte in der bürgerlichen Presse und kannte auch Leo Trotzkis Schriften. Anders als Lion Feuchtwanger veröffentlichte Brecht jedoch nicht seine Rechtfertigung der Anklagen und seine gleichzeitigen Zweifel an den Geständnissen. Brieflich äusserte er sich gegenüber Walter Benjamin, dass nach der Lektüre von Trotzkis Schriften «ein gerechtfertigter Verdacht» bestehe, der «eine skeptische Betrachtung der russischen Dinge» erfordere.


Im März 1937 wurde die Kaderabteilung sogar für die Genehmigung der Herausgabe der Gesammelten Werke Brechts zuständig. Nachdem die Moskauer Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter den Druck abgelehnt hatte, fragte Wieland Herzfelde vom Prager Malik-Verlag an, ob «Einwendungen prinzipieller Art» vorlägen, die eine Ablehnung der Herausgabe seiner Schriften rechtfertigten. «Streng vertraulich» teilte die Kaderabteilung mit: «Bert Brecht ist parteilos, bei ihm in der Schweiz hat ein Führer der Trotzkisten, Korsch, gewohnt. Die Frau von Brecht wollte 1936 in die SU kommen und es bestand der Verdacht, dass sie u. a. als Kurierin für die Trotzkisten hier herkommt. Aber diese Mitteilungen, die wir bekamen, konnten von uns nicht geprüft werden.»

Von Brechts Gesammelten Werken erschienen zwei Bände 1938 im Londoner Malik-Verlag. Im Januar 1939 musste Brecht feststellen, dass mehrere Freunde und Bekannte in Moskau verhaftet wurden und spurlos verschwanden. «Auch Kolzow verhaftet in Moskau. Meine letzte russische Verbindung mit drüben. Niemand weiss etwas von Tretjakow, der ‹japanischer Spion› sein soll. Niemand etwas von der Neher, die in Prag im Auftrag ihres Mannes trotzkistische Geschäfte abgewickelt haben soll. Reich und Asja Lacis schreiben mir nie mehr, Grete bekommt keine Antwort von ihren Bekannten im Kaukasus und in Leningrad. Auch Béla Kun ist verhaftet. Der einzige, den ich von den Politikern gesehen habe. Meyerhold hat sein Theater verloren, soll aber Opernregie machen. Literatur und Kunst scheinen beschissen, die politische Theorie auf dem Hund, es gibt so etwas wie einen beamtenmässig propagierten dünnen blutlosen proletarischen Humanismus.» 

Ausreise in die USA

Trotz diesen bedrückenden Nachrichten bat Brecht den stellvertretenden Leiter der Auslandskommission des sowjetischen Schriftstellerverbandes, Michail Apletin, um finanzielle und logistische Hilfe für die Transitreise von Leningrad nach Wladiwostok. Bereits im Juni 1940 hatte Brecht an Apletin geschrieben: «Wie ich aus Stockholm höre, ist uns die Durchreise durch die Sowjetunion gestattet.» Die Fahrt bis nach Wladiwostok hoffte Brecht aus seinen Rubel-Honoraren bezahlen zu können.

Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Dänemark im April 1940, nach der Besetzung Norwegens und der Internierung deutscher Emigranten in Schweden, entschied sich Brecht für die Flucht von Schweden nach Finnland. Im Dezember 1940 wurde Brecht in Finnland «von Stockholm aus verständigt», dass «mexikanische einwanderungsvisen» bewilligt wurden. Brechts Einreise in die Sowjetunion und die Weiterreise mit seinem «Tross» in die USA bedurften jedoch auch der Zustimmung durch die KPD-Führung.

Dieser Vorgang ist in der Kaderakte ausführlich dokumentiert. Auf Anfrage des Zentralkomitees (ZK) der KPD befürwortete Johannes R. Becher die Einreise in die Sowjetunion: «Brecht hat sich im antifaschistischen Kampf als einer der bedeutendsten Schriftsteller bewährt und in seinen zahlreichen Arbeiten seiner Sympathie für die Sowjetunion Ausdruck gegeben.» Brecht werde jedoch sehr bald das Bedürfnis haben, «aus schöpferisch literarischen Gründen» zu seinen Freunden in den USA weiterzureisen. Brechts frühere Beziehungen zu Fritz Sternberg und Karl Korsch seien der KPD-Führung selbst bekannt. Abschliessend betonte Becher, dass Brecht als «verdienter antifaschistischer Schriftsteller und Emigrant das unbedingte Anrecht auf ein Asyl in der Sowjetunion beanspruchen darf».

Nach einem Gespräch mit dem «wachsamen» Willi Bredel fertigte Walter Ulbricht eine handschriftliche Aktennotiz an: «Betrifft Einreiseantrag des Schriftstellers Bert Brecht. Mir wird vom Gen. Bredel mitgeteilt, dass noch 1937 bei Brecht der Trotzkist Korsch verkehrt haben soll. Es wäre auch notwendig Erkundungen einzuziehen über die politische Meinung und über die Verbindungen seiner Frau, die Schauspielerin Weigelt [!].»

Zu der Anfrage der Kaderabteilung wegen Brechts Einreise beschlossen die Mitglieder des Zentralkomitees (ZK) der KPD in ihrer Sitzung am 19. Juli 1940: «Bert Brecht ist ein parteiloser Schriftsteller, der Mitglied der Zeitschrift ‹Das Wort› ist. Da es sich um einen parteilosen Schriftsteller handelt und die Frage seiner Wohnung und seiner hiesigen Tätigkeit geregelt werden muss, könnte die Einladung an Bert Brecht nur vom Verband der Sowjetschriftsteller erfolgen. Wenn von Seiten des Sowjet-Schriftstellerverbandes die Einladung erfolgt, haben wir keine Einwendungen gegen die Einreise. Wir bemerken, dass uns über die politische Stellung von Bert Brecht in den letzten Jahren nichts bekannt ist. Nach Mitteilungen der deutschen Sektion des Sowjet-Schriftstellerverbandes liegen keine politischen Bedenken vor.»

Die versammelten ZK-Mitglieder schoben die Verantwortung für Brechts Einreise dem Schriftstellerverband der Sowjetunion zu, der sich wahrscheinlich für die Einreise Brechts eine Genehmigung beim ZK der KPdSU einholte.

Nach dem Erhalt der Einwanderungsvisa am 2. Mai 1941 reiste Brecht mit Helene Weigel, den Kindern Barbara und Stefan, Margarete Steffin und Ruth Berlau über Leningrad nach Moskau. Empfangen wurden sie in Moskau am 17. Mai 1941 von Michail Apletin und von Maria Osten, die sich um die todkranke Margarete Steffin kümmerte. Unter dem Schutzschirm des Schriftstellerverbandes konnte Brecht mit Helene Weigel und beiden Kindern – trotz den bedrohlichen Meldungen in der Kader- und der NKWD-Akte – in die USA weiterreisen. Bei der todkranken Margarete Steffin liess Brecht einen Koffer zurück und bat Apletin, die «Manuskripte (versiegelte und unversiegelte), die Fotografien, sowie die Briefe» zu verwahren.

Dieser Koffer konnte in den Moskauer Archiven ebenso wenig aufgefunden werden wie Briefe, die Brecht aus den USA unter dem Namen K. Kinner an Apletin senden wollte. Noch in Moskau richtete Brecht an Apletin und den Schriftstellerverband seinen «herzlichsten Dank für die Gastfreundschaft». Wenige Wochen nach Brechts Abreise am 30. Mai 1941 wurde Maria Osten verhaftet und 1942 als «angebliche Agentin des deutschen und französischen Geheimdienstes» erschossen. Obwohl Brecht in Maria Ostens NKWD-Akten als «Trotzkist» geführt wurde, konnte er unter dem politisch rückversicherten Schutzdach des Schriftstellerverbandes mit der Transsibirischen Eisenbahn über Wladiwostok in die USA weiterreisen.

Trotzkis enger Mitarbeiter Heinz Epe wurde hingegen 1941 bei seiner Flucht von Schweden zum Schwarzmeerhafen Odessa zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn im Zug verhaftet und 1942 wegen «konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit» zum Tode verurteilt. In einem offenen Brief hatte Epe 1938 das Schweigen Brechts zu den Verhaftungen seiner Moskauer Freunde und Bekannten scharf kritisiert. 

Der alte Verdacht kehrt wieder

Während Brechts Aufenthalt in den USA wurde 1943 vom Schriftstellerverband der Sowjetunion nur eine Auskunft an die Kaderabteilung übermittelt, die neben biografischen Daten allenfalls einige Werke Brechts aufführt. Über Brechts öffentliche Aktivitäten wurde darin aus einem Sammelbericht von F. C. Weiskopf zitiert. Brecht habe 1942 eine «vorsichtige Erwartungshaltung» eingenommen. Weitere Eintragungen über Brechts Jahre in den USA, etwa seine Verhöre vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe, finden sich nicht in der Kaderakte.

Nach Brechts Übersiedlung in die DDR erscheint 1951 in einer «streng geheimen» Notiz erneut das alte Verdachtsmuster: «Hatte Verbindungen mit den Trotzkisten Korsch und Sternberg. Wie weit sich diese Verbindungen entwickelten, ist uns nicht bekannt. Brechts Frau, die Schauspielerin Weigel, war 1936 wegen Verbindungen mit Trotzkisten verdächtig.»

Im Gegensatz zur Moskauer Kaderabteilung, die Brechts Freundschaft mit seinem «Lehrer» Korsch immer wieder registrierte, wurde dies in der Brecht-Forschung der DDR als «Korsch-Legende» abgetan. Der Kaderabteilung war 1951 völlig unerklärlich, dass Brecht angesichts dieser «Verbindungen» in die Sowjetunion einreisen konnte: «1940 wurde die Frage seiner Einreise in die UdSSR gestellt, es gibt keine Informationen darüber, wie diese Frage gelöst wurde.»

In Brechts Kaderakte sind Zeitungsausschnitte und Zeitschriftenbeiträge gesammelt, die im Vorfeld und im Nachgang zur Verleihung des Stalin-Preises an Brecht 1955 erschienen. Für die Mitglieder der neunköpfigen Auswahlkommission (u. a. Anna Seghers und Louis Aragon) wurde über Brecht 1954 eine zweiseitige geheime Auskunft zusammengestellt, die den Trotzkismus-Verdacht nicht mehr enthält.

Wie auch bei anderen prominenten Moskau-Besuchern (z. B. Lion Feuchtwanger) wurde über Brechts Aufenthalt im Mai 1955 von einer sprachkundigen Begleiterin Gussewa detailliert berichtet. So habe er sich über die Mitarbeiter der DDR-Botschaft «überhaupt sehr bissig» geäussert. Über den Geschäftsträger der Botschaft meinte Brecht: «Oh Gott, der wird sich vermutlich wirklich einbilden, dass er ein Diplomat ist.» In einem Gespräch über die Toasts in der DDR-Botschaft meinte Brecht, dass es besser wäre, wenn sich die deutsche Diplomatie vom Verstand und nicht von wohlmeinenden Gefühlen leiten liesse.

Brechts Treffen mit Schriftstellern und seine Theaterbesuche wurden in zwei Berichten referiert. Ausführlich informiert wurde über Brechts Treffen mit Bernhard Reich, und dabei wurde anfangs auf dessen Lagerhaft von 1943 bis 1951 hingewiesen. Brecht und Reich hätten sich für eine Arbeitserlaubnis am «Berliner Ensemble» an Apletin gewandt. Apletin verwies dafür an die Regierung der DDR.

Auf Bitten Brechts habe Käthe Rülicke eine Liste seiner ehemaligen Mitarbeiter am Theater angefertigt, die 1932/33 in die UdSSR emigrierten und 1937 verhaftet wurden. Diese Liste sei einem Referenten der Auslandskommission übergeben worden, und Brecht wollte wissen, «was mit ihnen los ist und wo sie sich jetzt aufhalten».

Nach der Verleihung des Stalin-Preises im Kreml für «hervorragende Verdienste im Kampf für die Erhaltung und Festigung des Friedens» besuchten Brecht und Helene Weigel das Lenin-Mausoleum. Ausgestellt wurde hier neben Lenin auch der einbalsamierte Stalin. Die opulente Preissumme von 100 000 Rubel liess Brecht zur Hälfte an die Ostberliner Sparkasse und zur anderen Hälfte zur Rückversicherung an eine Schweizer Bank überweisen.

Doch erst nach Kenntnis von Chruschtschows Geheimrede und kurz vor seinem Tod galt Stalin für Brecht in einem erst später veröffentlichten Gedicht als der «verdiente Mörder des Volkes». Als Widerspruch und «sacrificium intellectus» entschlüsselt sich so Brechts Dilemma zwischen privater Entrüstung und öffentlichem Schweigen.

Reinhard Müller, geb. 1944, ist Historiker und Soziologe. Er war u. a. von 1991 bis 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zu den Spezialgebieten seiner Forschungen zählt die Geschichte der deutschen Emigration in die Sowjetunion. 2016 war er Mitherausgeber von «Carola Neher. Gefeiert auf der Bühne, gestorben im Gulag».


Nota. - Karl Korsch war ein sogenannter "Ultralinker" mit anarchosyndikalistischen Sympathien und hatte Trotzki in keiner Hinsicht je ideologisch noch gar fraktionell nahegestanden. Fritz Sternberg dagegen war gemeinsam mit Paul Frölich ein Führer des linken Flügels der Sozialistischen Arbeiterpartei und hat mit durchgesetzt, dass die SAP 1934 den Aufruf zur Bildung einer Vierten Internationale unterschrieb.

Bertolt Brecht war kein gutbürgerlicher Fellow traveller wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger und hat sich auch nie seinen Lebensunterhalt von der GPU bezahlen lassen. Er war aber auch kein gläubiger kommu- nistischer Parteisoldat, der die Zähne zusammenbiss in der verzweifelten Gewissheit, dass die Partei immer Recht haben musste. Er war, wie er vor McCarthys Ausschuss betonte, nie KP-Mitglied und legte stets wert auf seine persönliche Unabhängigkeit. Doch öffentlich hat er Stalin die Stiefel geleckt, und das ist es, was politisch gewirkt hat. Dass er privatim seine Vorbehalte hatte, hat die Welt nicht erfahren, sondern nur, dass er an seiner Seite stand. Während Galilei lediglich wider besseres Wissen einer wissenschftlichen Lehrmeinung abgeschwo- ren hat, hat Brecht wissentlich einem der größten Verbrecher der Geschichte und Totengräber der Weltrevolution als Vater der Völker gehuldigt. Er hat ohne jede Not seine Verbrechen auf sein Gewissen geladen. Das sei ihm nie vergessen, dem Schwein.
JE

Mittwoch, 15. Januar 2020

Der Große Terror.

Der in Mexico im Exil ermordete Trotzki 
aus welt.de, 21.08.2017

Als Stalin die Quoten für Todesurteile erhöhte 
Nachdem er seine innerparteilichen Rivalen vernichtet hatte, eröffnete Stalin im Sommer 1937 den Großen Terror gegen vermeintliche Verräter und Abweichler. Ein blutiger Wettbewerb entspann sich.



Das Gräberfeld von Lewaschowo ist ein bedrückender Ort. Kiefern überragen den unebenen Boden voller Hügel und Gräben. In den Massengräbern am Stadtrand von St. Petersburg liegen 19.450 Menschen. Viele wurden 1937/38 ermordet, als der Terror des sowjetischen Diktators Josef Stalin seinen Höhepunkt erreichte.

Von August 1937 bis November 1938 wurden in der Sowjetunion etwa 1,5 Millionen Menschen als angebliche Volksfeinde, Verräter oder Spione verhaftet, vielleicht die Hälfte von ihnen wurden hingerichtet, viele überlebten ihre Deportation in den Gulag nicht. Es gibt in Russland viele solcher Stätten, an denen die Henker des damaligen Geheimdienstes NKWD ihre Opfer verscharrten: Butowo und Kommunarka bei Moskau, Sandarmoch und Krasny Bor im nordrussischen Karelien.

Kälte, Qualen und Terror in Stalins Lagern
 
Gulag Workuta auf einem Foto aus den Dreißigerjahren. Workuta liegt 120 km südlich des Polarkreises.
Gulag Workuta auf einem Foto aus den Dreißigerjahren. Workuta liegt 120 km südlich des Polarkreises
. So sahen die Baracken in den sowjetischen Arbeitslagern aus. Das Foto zeigt das Innere eine dieser Baracken im Lager Panischewski.
So sahen die Baracken in den sowjetischen Arbeitslagern aus. Das Foto zeigt das Innere eine dieser Baracken im Lager Panischewski Das Lager 125 im Gulag Workuta, das 1945 gebaut wurde.
Das Lager 125 im Gulag Workuta, das 1945 gebaut wurde

 
Kanalbau, Weißmeer-Ostsee-Kanal, 1932

In Leningrad, wie St. Petersburg zur Sowjetzeit hieß, fielen dem Großen Terror 45.000 Menschen zum Opfer. Es gibt keine genauen Totenlisten für Lewaschowo, aber wahrscheinlich liegen hier der Religionsphilosoph Pawel Florenski und der Dichter Boris Kornilow.
 

„Einmal im Jahr kommen wir hierher, um die Toten zu ehren“, sagt Irina Tyrul. Die 84-Jährige lettischer Abstammung hat aus den Akten erfahren, dass ihr 1944 ermordeter Vater Alfred Tyrulis in Lewaschowo beerdigt wurde. Sie hat ihm einen kleinen Grabstein gesetzt. Zu Sowjetzeiten waren die Massengräber streng geheim, seit 1989 ist Lewaschowo eine Gedenkstätte. Mit Bildern an Bäumen, mit Kreuzen und Steinen geben seitdem Hinterbliebene den Opfern ihre Namen zurück.

Grabkreuze und Gedenksteine in der Gedenkstätte Lewaschowo bei St. Petersburg (Russland), aufgenommen am 13.08.2017, erinnern an deutsche Opfer des Terrors unter dem Sowjetdiktator Josef Stalin. In den Massengräbern von Lewaschowo liegen 19 500 Opfer des Terrors, der vor 80 Jahren 1937/38 seinen Höhepunkt erreichte. (zu dpa «Vor 80 Jahren erreichte der Stalin-Terror seinen Höhepunkt» vom 17.08.2017) Foto: Friedemann Kohler/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++
Grabkreuze und Gedenksteine auf den Gräbern der Stalin-Opfer in Lewaschowo bei St. Petersburg
 
Die heutige Führung wolle über den Stalin-Terror möglichst nicht reden, sagt Tyrul. Russland feiert dieses Jahr den 100. Jahrestag der Februarrevolution und der Oktoberrevolution 1917. Dazwischen liegt der blutige 1937er Sommer vor 80 Jahren als unbequemes drittes Datum. „Der Große Terror ist ein Schlüsselmoment im Streit über Stalin und darüber, was sein Erbe für die heutige Entwicklung des Landes bedeutet“, sagt der Historiker und Stalin-Biograf Oleg Chlewnjuk.


Für die Stalin-Gegner in Russland beweisen die Terroropfer klar, wie verbrecherisch seine Herrschaft war. Die andere Seite unterstreicht Stalins Rolle als Sieger über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg. Die politische Konjunktur stärkt eher diese Seite. Präsident Wladimir Putin wehrt sich gegen zu viel Kritik. „Eine übermäßige Dämonisierung Stalins ist ein Mittel, um die Sowjetunion und Russland anzugreifen“, sagte er vor der Kamera des amerikanischen Filmregisseurs Oliver Stone.

In mehreren russischen Städten sind dem Gewaltherrscher Stalin in den letzten Jahren Denkmäler gesetzt worden. Wer die Vergangenheit aber aufarbeiten will, wird behindert. Den angesehenen Forscher Juri Dmitrijew von der Gesellschaft Memorial, der die geheimen Massengräber des Terrors in Karelien gefunden hat, haben die Behörden wegen angeblicher Kinderpornografie den Prozess gemacht.

Die sowjetische Herrschaft und Stalin seien ohne Gewalt nicht denkbar, sagt Chlewnjuk. 

Wie Stalin alte Weggefährten liquidierte

Zur alten Garde gehörten auch Grigori Sinowjew (1883-1936) und ...
Zur alten Garde gehörten auch Grigori Sinowjew (1883-1936) und ..


... Lew Kamenjew (1883-1936). 
 
Mit dem NKWD-Befehl Nr. 00447 vom 30. Juli 1937 „zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer anti-sowjetischer Elemente“ begannen die sogenannten Massen-Operationen. Wegen des Spanischen Bürgerkriegs, wegen der Aufrüstung Hitler-Deutschlands habe Stalin Kriegsgefahr gewittert und jedweden Gegner ausschalten wollen, sagt Chlewnjuk. „Es ging um die Vernichtung einer Fünften Kolonne, die es eigentlich nicht gab, nur in Stalins Denken.“

Die Verfolgung traf Bauern, ehemalige zaristische Beamte, Priester und Gläubige und Kommunisten, denen ein Abweichen von der reinen Lehre unterstellt wurde. Sie wurden verhaftet, gefoltert und von sogenannten Troikas aus drei Richtern verurteilt. Todesurteile wurden umgehend vollstreckt. Jede Sowjetrepublik, jedes Gebiet bekam vorgegeben, wie viele Menschen verhaftet, wie viele erschossen werden mussten. Und jede örtliche Führung bat noch um höhere Quoten, um sich vor Stalin und seinem blutgierigen Geheimdienstchef Nikolai Jeschow auszuzeichnen. Die grotesken Geständnisse, die den Verurteilten abgepresst worden waren, bestärkten den Diktator nur in seiner Paranoia, von Verrätern, Saboteuren, Trotzkisten und anderen Abweichlern umgeben zu sein.

Stalin und sein wichtigster Helfer Nikolai Jeschow (r.). Nach Jeschows Sturz wurde er aus dem Bild retuschiert

Massenoperationen richteten sich auch gegen nationale Minderheiten – gegen die Russlanddeutschen, Polen, Letten, Esten, Finnen, Griechen, Iraner, Koreaner und Chinesen. Bis November 1938 wuchsen die Listen der Verurteilten und Hingerichteten in ungeahnte Größenordnungen, dann beendete Stalin den Großen Terror so plötzlich, wie er ihn begonnen hatte. Geheimdienstchef Jeschow fiel in Ungnade und wurde bald liquidiert. Sein Nachfolger wurde Lawrenti Beria.

In kleinerem Umfang ging das Töten bis zu Stalins Tod 1953 allerdings weiter, in Lewaschowo wurden 1954 die letzten Hingerichteten begraben. Auf dem elf Hektar großen Gelände hat jede verfolgte Volksgruppe ihr Denkmal bekommen. Auch an einzelne Fabrikbelegschaften oder Berufsgruppen wird erinnert. Tyrul, ihr Mann und eine Nichte aus Wladiwostok laufen die Denkmäler ab. In der Schule sei sie noch als „Tochter eines Volksfeindes“ verunglimpft worden, erinnert sie sich. Lehrerin durfte sie nicht werden, nur im Kindergarten arbeiten. „Und trotzdem bin ich verdiente Vorschullehrerin Russlands geworden.“