Freitag, 28. Juni 2019

Die neolithische Erbsünde.

aus nzz.ch, Mauerreste von Uruk in Mesopotamien

Mit den ersten Staaten entstand die Sklaverei, sagt der Politologe James C. Scott. Vielleicht wären wir besser Nomaden geblieben
Getreide pflanzen, sesshaft werden, Staaten bilden: Das nennt man Fortschritt. James C. Scott erzählt, wie die ersten Stadtstaaten entstanden sind. Und bürstet den Zivilisationsmythos gegen den Strich.

von Thomas Ribi 

Ab und zu bei Rot die Strasse überqueren, das muss einfach sein. Warum geduldig am Strassenrand warten, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist, nur weil die Ampel gerade nicht auf Grün zeigt? Für James C. Scott gehören solche kleinen Übertretungen zur mentalen Hygiene, die jeder Mensch pflegen sollte. Mehr noch, sie sind ein politisches Statement. «Anarchistische Freiübungen» nennt der amerikanische Politologe das. Jeden Tag, empfiehlt er, sollte man gegen irgendein belangloses Gesetz verstossen. Als Übung im selbständigen Denken. Als Pflicht, sich bei jedem Verbot zu überlegen, ob es vernünftig und gerecht ist.


Nur so sei man bereit für den grossen Tag, sagt der 81-jährige Yale-Professor. Den Tag, an dem der Staat uns vielleicht einmal auffordert, etwas zu tun, das grundlegenden menschlichen Geboten widerspricht, vielleicht sogar unter Androhung von Gewalt. Dann braucht es Widerspruchsgeist. Und wie, fragt Scott, solle man sich dem Zwang des Staates entziehen können, wenn man sich immer rückhaltlos allen Gesetzen und Verordnungen fügt, die er erlassen hat? Bei Rot die Strasse überqueren als Zeichen der Distanz also gegenüber dem Staat, der dazu tendiert, Bürger als Untertanen zu betrachten und immer weitere Bereiche des Lebens zu reglementieren, wenn man ihm keine Grenzen setzt. 

Auch Jäger pflanzen Gerste

Nun endet James C. Scotts Staatsskepsis natürlich nicht bei Rotlichtern. Sie geht tiefer. Jahrelang hat er sich mit Praktiken des Widerstands gegen den Staat beschäftigt, unter anderem mit denen von Bauern in Asien. Er hegt Sympathie für die Unangepassten, die sich keiner Macht und keiner Verwaltung beugen wollen – Menschen, deren Ziel darin besteht, in den Archiven der staatlichen Verwaltung gar nicht präsent zu sein. In seinem neuen Buch «Die Mühlen der Zivilisation» geht er die Frage nach dem Wesen der Staatlichkeit an, indem er sich an die historische Wegmarke begibt, an der die ersten Stadtstaaten entstanden: ins Mesopotamien des 4. Jahrtausends v. Chr.


«Against the Grain» lautet der Titel des Buches im englischen Original, und Scott hält, was der Titel verspricht. Er bürstet die Urgeschichte der Staatenbildung gegen den Strich und rückt die fast zum Dogma erstarrten Vorstellungen von den Anfängen der Getreidewirtschaft zurecht. Scott ist Politologe. Aber er kennt die archäologischen Untersuchungen genau, die in den letzten zwei Jahrzehnten im Zweistromland durchgeführt wurden. Und ihre Befunde zeigen: Wer Getreide anbaute, musste nicht zwingend sesshaft leben. Rund viertausend Jahre lang betrieben Menschen in der Schwemmlandebene Mesopotamiens Ackerbau, mit Gerste oder Emmer, bevor die ersten festen Siedlungen entstanden.

Die Menschen bestellten zwar Äcker und hielten Haustiere, gaben aber ihre nomadische Lebensweise nicht auf. Und zwar, weil der Ackerbau nicht so viele Vorteile bot, dass sich das gelohnt hätte. Den Nomaden sei es meist besser gegangen als den sesshaften Bauern, sagt Scott. Sie hatten einen vielseitigeren, ausgewogeneren Speisezettel und lebten gesünder. Ackerbau war arbeitsintensiv und anstrengend. Die Skelette von Frauen aus frühen agrarischen Siedlungen zeigen charakteristische Verformungen an den Zehen – eine Folge von Arthritis, die davon herrührt, dass die Frauen zum Mahlen des Getreides auf den Zehen sassen. Auch Infektionskrankheiten wurden zum Problem, weil die Menschen auf engem Raum mit ihren Nutztieren lebten. 

Städte brauchen Krieger

Kein angenehmes Leben also. In vielem deutlich weniger angenehm als das Leben der nomadisierenden Jäger, auch wenn man dessen Gefahren nicht verkennen darf. Aber dass sich Menschen ohne äusseren Zwang dazu entschlossen, in festen Siedlungen zu leben, hält Scott für unwahrscheinlich. Welcher Zwang sie dazu bewog, darüber lässt sich nur spekulieren. Eine Dürre vielleicht, die dazu führte, dass man sich in der Nähe von Wasser niederliess. Vielleicht gingen die Wildbestände zurück, oder die Bevölkerung stieg an – jedenfalls war man darauf angewiesen, höhere Erträge aus dem Boden zu holen.

Aber grosse Siedlungen wie die Stadt Uruk, die Ende des 4. Jahrtausends in Mesopotamien entstand, sind anfällige Gebilde. Wo viele Menschen auf so engem Raum leben, braucht es politische Strukturen. Arbeiten müssen zentralisiert werden, es braucht Verwalter, Priester und Schreiber, die Inventare, Gesetze und Verträge verfassen – in Uruk wurden die ältesten bekannten Keilschrifttafeln gefunden. Es braucht Arbeiter, welche die Lebensgrundlagen für die Menschen schaffen, die nicht mehr selber für ihre Nahrung sorgen.

Städte brauchen aber auch Krieger. Die Siedlungen mit ihren Getreidespeichern waren für marodierende Banden ein gefundenes Fressen und mussten verteidigt werden. Man musste sie befestigen. Nach der Legende baute König Gilgamesch selber die gewaltigen Mauern von Uruk – in Wirklichkeit wird es wohl, wie überall, Baumeister, Maurer und Handlanger gebraucht haben. Für einen grossen Teil der Einwohner, schliesst Scott, bedeutete das Leben in einem Stadtstaat also Zwangsarbeit, Wehrpflicht und Steuern. 

Sesshaft sein ist kein Naturgesetz

Nicht alle wollten sich der Macht des Staates fügen. Es ist auffällig, dass in der ältesten bekannten Gesetzessammlung der Welt, dem Codex Hammurabi aus dem 18. Jahrhundert v. Chr., Bestimmungen zur Bestrafung von Flüchtlingen breiten Raum einnehmen. Mit den Siedlungen entstand für Scott auch die Sklaverei, denn die Stadtstaaten mussten Menschen von aussen aufnehmen, um existieren zu können, und das hiess oft: entführen und versklaven. Die Menschen, die sich dem Zwang des Staates widersetzten, sind in der Geschichtsschreibung allerdings nur selten präsent.

James C. Scott rüttelt mit Lust, aber fundiert an einem Narrativ, das Sesshaftigkeit als höchste Lebensform des Menschen versteht und Staatenbildung einhellig als Erfolgsgeschichte präsentiert. Ob wir besser Nomaden geblieben wären? Scott weist jedenfalls darauf hin, dass das Leben ausserhalb des Einflussbereichs von Staaten seine Vorteile hat. Und dass eine gewisse Distanz zum Staat gut tun kann. Auch wenn sie sich nur in kleinen Übertretungen äussert. Übrigens schränkt James C. Scott seine Empfehlung, bei Rot über die Strasse zu gehen, in einem wichtigen Punkt ein – tun Sie es bitte nur, wenn keine Kinder in der Nähe sind. Sie wären ein schlechtes Beispiel. Vielleicht nicht in politischer Hinsicht, aber ganz sicher, was die Verkehrssicherheit betrifft.

James C. Scott: Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten. Aus dem Amerikanischen von Horst Brühmann. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 329 S., Fr. 46.90.

Donnerstag, 27. Juni 2019

Toolmaking animals - auch sie.

Kapuziner mit Steinwerkzeug 
aus scinexx                                                                                               Kapuzineraffen im brasilianischen Capivara-Nationalpark


Kapuzineraffen: Werkzeuge schon vor 3.000 Jahren
Erster Beleg für eine sich verändernde Werkzeug-Kultur bei einem nichtmenschlichen Wesen

Steinzeit auf Affenart: Der Mensch ist nicht mehr das einzige Wesen mit einer langen Werkzeug-Tradition. Denn schon vor rund 3.000 Jahren nutzten auch Kapuzineraffen Steinwerkzeuge – sie knackten damit Nüsse und Samen, wie Ausgrabungen in Brasilien enthüllen. Und wie beim Menschen veränderten die Affen ihre Steinwerkzeuge im Laufe der Zeit. Dies sei der erste Beleg für einen solchen langfristigen Wandel der materiellen Kultur bei einem nichtmenschlichen Wesen, berichten die Forscher.

Die Rückenstreifen-Kapuziner (Sapajus libidinosus) im Capivara-Nationalpark in Brasilien sind als geschickte Werkzeugnutzer bekannt: Sie verwenden Steine, um Cashewnüsse zu knacken, um zu graben oder um Rivalen und Paarungspartner mit lauten Schlaggeräuschen zu beeindrucken. Bei ihren Schlägen von Qarzit-Brocken auf den Felsuntergrund produzieren die Affen sogar Abschläge, die denen unserer Vorfahren verblüffend ähneln, wie kürzlich eine Studie enthüllte.

„Diese wilden Kapuzineraffen zeigen eine breitere Palette der Werkzeugnutzung als jedes andere heute lebende Tier außer dem Homo sapiens“, sagen Tiago Falotico von der Universität von Sao Paulo und seine Kollegen. Doch wie weit reicht dieses Verhalten bei den Affen schon zurück? Für unsere menschlichen Vorfahren ist die Entwicklung der Werkzeugnutzung gut untersucht. Archäologen haben aus den Artefakten wertvolle Erkenntnisse über die Ernährung und Lebensweise früher Menschenformen und Kulturen gewonnen.

450 Generationen der Werkzeugnutzung

Anders bei tierischen Werkzeugmachern: „Bisher gibt es für keine tierische Stammeslinie Langzeitdaten über die Variation der Werkzeugnutzung“, berichten die Forscher. Deshalb haben Falotico und sein Team nun erstmals Methoden der menschlichen Archäologie auf die Artefakte der Kapuzineraffen angewendet. Sie führten Ausgrabungen in einer der „Steinwerkstätten“ der Affen durch und untersuchten die 122 gefundenen Artefakte eingehend. Mittels Radiokarbondatierung der Fundschichten konnte sie das Alter der Hammersteine bestimmten.

Das Ergebnis: „Wir haben Affen-Steinwerkzeuge identifiziert, die schon zwischen 2.400 und 3.000 Jahre alt sind“, berichten die Wissenschaftler. Schon vor mehr als 450 Generationen nutzten die Kapuzineraffen demnach Hammersteine, um ihre Nahrung zu knacken. „Das vervierfacht die bisher bekannte Zeitlinie für die Werkzeugnutzung bei Nicht-Menschenaffen“, berichten die Forscher. Nur bei Schimpansen wurden bisher Artefakte entdeckt, die ähnlich alt sein könnten.

Wandel der Technik

Das Besondere jedoch: Die Werkzeuge der Kapuzineraffen blieben nicht gleich, sondern wandelten sich im Laufe der Zeit. So zeigen die ältesten Hammersteine auffallend viele Macken und Abschläge. Sie waren zudem kleiner und leichter als die heutigen Werkzeuge der Kapuzineraffen. „Dies könnte darauf hindeuten, dass die Affen in dieser Phase kleinere, weniger harte Nahrung als die Cashewnüsse zerkleinerten“, sagen die Wissenschaftler. Wegen der geringen Größe der Samen wäre der Hammerstein dabei stärker in Kontakt mit der Ambossfläche gekommen.

Vor rund 2.500 Jahren begannen sich die Hammersteine jedoch zu wandeln: Sie wurden immer schwerer und größer und waren vor rund 300 Jahren dann sogar größer als die heute verwendeten Werkzeuge der Affen. „Das spricht dafür, dass sich die Kapuzineraffen in dieser Zeit weniger ausschließlich Cashewnüsse konzentrierten, sondern eher härtere Nahrung knackten“, schlussfolgern Falotico und sein Team.

Triebkraft noch unklar

Damit besitzen die Kapuzineraffen nicht nur eine lange Tradition der Werkzeugnutzung – sie veränderte sich auch im Laufe der Zeit. „Die Affen passten die Technologie verschiedenen Zwecken an“, sagen die Forscher. „Dies repräsentiert den ersten Nachweis einer solchen langfristigen Veränderung der Werkzeugnutzung außerhalb der menschlichen Stammeslinie.“ Der Mensch sei damit in Bezug auf solche Entwicklungen nicht mehr einzigartig. 

Unklar ist allerdings noch, was die Triebkraft hinter den sich verändernden Hammersteinen der Kapuzineraffen war. „Der Wandel könnte die archäologische Signatur verschiedener Kapuzinerpopulationen repräsentieren, die die Steine zum Knacken jeweils unterschiedlicher Nahrung nutzten“, mutmaßen die Wissenschaftler. Möglich wäre aber auch, dass sich die ortsansässige Population an ein sich veränderndes Nahrungsangebot anpasste. (Nature Ecology & Evolution, 2019; doi: 10.1038/s41559-019-0904-4)

Quelle: Nature

Mittwoch, 26. Juni 2019

Ein abgekartetes Spiel?

 
Stelln Sie sich vor, Macron haut auf die Pauke, bloß damit Angela Merkel sagen kann, sie müsse nun doch Kom- missionspräsidentin werden, weil der Franzose sie genötigt hätte!

Sagen Sie bloß nicht, das könnten Sie sich gar nicht vorstellen.




Dienstag, 25. Juni 2019

National-sozial : Dänemark machts möglich.

K.Kollwitz
 
Seit Jahr und Tag tippe ich mir die Finger wund, aber die Neugruppierung einer energischen Mitte will in Deutsch- land nicht zum Thema werden.

Vielleicht hilft ihnen ja die andere Seite auf die Sprünge. In der sächsich-anhaltinischen CDU macht man sich Ge-danken über mögliche Koalitionen ab 2021, Sigmar Gabriel denkt sowieso und vernehmlich nach - worüber? Ob man nicht irgendwie die SPD zu seinem Besten doch noch retten kann, und Sarah Wagenknecht lässt Die Linke links liegen. Wenn da zusammenwächst, was zusammengehört - wird dann wieder keiner was geahnt haben?


Dass bei jenen der Bauch schneller reagiert als der Kopf, gehört zu ihrer Ausstattung. Bei diesen müsste es umge- kehrt sein, sonst wäre an ihrem Überleben gar nichts gelegen.





Heut vor zehn Jahren.


Warum hier bei Öffentlichen Angelegenheiten, warum nicht auf Geschmackssachen?

Er war nicht bloß eine Geschmackssache, sondern eine öffentliche Angelegenheit.

Ich atme tief durch und sage: Er war der bedeutendste Künstler des zwanzigsten und der erste des einundzwan- zigsten Jahrhunderts. Ich sage nicht 'der größte', denn das wäre wirklich Geschmackssache und ließe sich kaum irgendwie objektivieren. Aber kulturgeschichtlich bedeutsam war in den vergangnen hundert Jahren kein anderer Künstler wie er, nicht einmal Charlie Chaplin; das lässt sich objektivieren, nicht bloß mit Umsatzzahlen und Publi- kumsimpakt, sondern auch mit öffentlichem Gerede.


Nein, die Kindesmissbrauchgerüchte verschweige ich nicht, wie andere Gedächtnisredner am heutigen Tag. Im Gegenteil, sie machen in ihrem Ausmaß ja einen Gutteil meiner Behauptung aus: bedeutendster Künstler des ver- gangenen Jahrhunderts.

Unumstritten war er nie, dann hätte er's auch gar nicht unter die ganz Großen geschafft. Und schon gar nicht wäre er auch postum der Größte geblieben, wenn man ihm nur eine #MeToo-Lappalie oder Steuerhinterziehung nachsa- gen würde. Es muss schon das sein, was zu unserer Zeit durch nichts zu überbieten ist.





Montag, 24. Juni 2019

Sie werden's nicht packen.

samy-aichtal
aus welt.de, 24. 6. 2019

Die Welt bringt heute ein Interview mit dem sächsischen Landesvorsitzenden und Ostbeauftragten der SPD, Martin Dulig. Daraus:

WELT: Braucht es 30 Jahre nach dem Mauerfall also noch eine spezifische Politik für Ostdeutschland?

Dulig: Ja, weil es noch immer strukturelle Ungleichheiten gibt, die beseitigt werden müssen: Löhne und Renten von vielen Berufsgruppen zum Beispiel, die in der DDR schlecht verdient haben, aber Ansprüche auf Zusatz- renten hatten, die es dann nicht in den Einigungsvertrag geschafft haben. Und jetzt steht vor mir der Bergwerks- kumpel und sagt: Ich habe jetzt 700 Euro weniger Rente als mein Kollege in Westdeutschland, habe aber die gleiche Arbeit unter schlechteren Bedingungen gemacht. Für die Flüchtlinge habt ihr’s aber, das Geld.

Hinzu kommt ein teils anderes Verständnis von Demokratie. Wir haben Leute in Ostdeutschland, die halten Demokratie für einen Pizzaservice: Ich bestelle, ihr liefert. Das führt zu einer permanenten Unzufriedenheit. Um das klar zu sagen: Das sind keine Antidemokraten. Aber sie sind enttäuscht. Diesen Leuten muss die SPD ein Angebot machen, ohne Sprache oder Haltung an die AfD anzupassen.


Nota. - Der merkt gar nicht, dass er dem Bild vom Pizza-Service selber aufgesessen ist. Sein Bergwerkskumpel mit der verlorenen Zusatzrente ist ein Sonderfall, der als solcher regelbar wäre. Dulig spricht aber von der gan- zen Räbuplick. Die vestehen sich als eine Menge von lauter Sonderfällen, die alle einen Anspruch haben, be- dient zu werden. Aber gegen wen denn? Wenn sie alle Ansprüche haben, muss es doch einen geben, der bei ihnen Schulden hat. Wer das ist? War ihnen immer wurscht.

Antidemokraten sind es nicht, aber Undemokraten, unpolitische Ohnemichels, für die Verantwortung immer nur andere tragen. Das ist das Erbe der DDR, und unglücklicherweise hat ihnen die Vereinigung mit der Bundesre- publik erlaubt, sich recht bequem aus ihr davonzustehlen, statt sie sich radikal aus dem Herzen zu reißen. Was an Revolution bei ihnen nötig war, haben sie... na wem wohl? Dem Westen haben sie's überlassen, und jetzt maulen sie, dass die Pizza schon kalt war, als sie ankam; und erwarten ein neues Angebot.
JE




Sonntag, 23. Juni 2019

Mehr als eine zweite Renaissance.

Botticelli
aus getabstract

Rezension

Ian Goldin und Chris Kutarna
Die zweite Renaissance
Warum die Menschheit vor dem Wendepunkt steht
FinanzBuch,

Die beiden Ox­ford-Ge­lehr­ten Ian Goldin und Chris Kutarna glauben, dass wir in Europa um das Jahr 1990 her- um in eine zweite Renaissance eingetreten sind – eine Periode großer Blüte, vieler Mög­lich­kei­ten, aber auch Risiken. Sie ziehen Parallelen zu der Zeit von 1450 bis 1550 und erweitern mit dem Blick in die Geschichte unser Verständnis der Gegenwart. Dazu fächern sie ein breites Spektrum an Themen auf und verknüpfen sie miteinander: von Seefahrt, Ent­de­ckun­gen und Buchdruck bis Internet, Welthandel und Na­no­tech­no­lo­gie. Diese Ge­gen­über­stel­lung ist spannend zu lesen und bietet sehr erhellende Schluss­fol­ge­run­gen. getAbstract meint: Ein Werk für alle, die durch einen Blick in die Geschichte eine klarere Sicht auf Gegenwart und Zukunft bekommen möchten.
  • In der Renaissance (etwa von 1450 bis 1550) pros­pe­rier­te Europa.
  • Damals vernetzten sich die Menschen. Der Ideenstrom nahm zu, die Anzahl gebildeter Menschen stieg, und es gab Anreize, wagemutig Neues aus­zu­pro­bie­ren.
  • Viele Einzelne brachten in einer Art kollektiver Genialität die Ge­sell­schaft voran.
  • Das Zeitalter befähigte Individuen, her­aus­ra­gen­de Werke zu schaffen, die mit herr­schen­den Paradigmen brachen.
  • Unsere Gegenwart weist ähnlich ver­hei­ßungs­vol­le Merkmale auf, die darauf hindeuten, dass Paradigmen hinterfragt und Grenzen über­schrit­ten werden können.
  • Grenzen der Sprache und der Da­ten­ana­ly­se gilt es zu überwinden.
  • Die immer engere weltweite Verknüpfung, ihre Komplexität und ihre Kon­zen­tra­ti­on, birgt jedoch auch systemische Gefahren.
  • Komplexität erschwert es, Kau­sa­li­tä­ten und Risiken zu erkennen.
  • Die Kon­zen­tra­ti­on auf attraktive Ver­bin­dungs­punk­te belastet die dortige In­fra­struk­tur und Ressourcen.
  • Jeder Einzelne kann dazu beitragen, dass sich die Ver­hei­ßun­gen der zweiten Renaissance erfüllen und die Gefahren gemindert werden.

Zusammenfassung 
Die Renaissance: Zeit der Prosperität

Im Zeitalter der Renaissance, etwa zwischen 1450 und 1550, rückte die Welt enger zusammen: Seefahrer stießen auf neuen Routen in bislang unbekannte Gebiete vor und berichteten davon. Neue Schiffe, Instrumente und Techniken er­leich­ter­ten ihnen die Navigation. Und das erlaubte wiederum Gerhard Mercator, die Karte der Welt in einer nie dagewesenen Exaktheit zu zeichnen. Der Handel mit anderen Welt­re­gio­nen wuchs an Größe und Vielfalt, auch weil sich das Finanzwesen wandelte. Die Menschen reisten mehr, und in der Hoffnung auf ver­läss­li­che­res Einkommen und Schutz migrierten sie vermehrt in die Städte. Frieden, das Abebben der Pestwelle und zunehmender Wohlstand trugen zur steigenden Le­bens­er­war­tung bei. Die Menschen wandten sich von der Vorstellung ab, dass ihr Schicksal gottgegeben sei: Sie begannen, es selbst in die Hand zu nehmen.
„Aus Unkenntnis der großen Richtung lassen wir uns von un­mit­tel­ba­ren Krisen und den Ängsten, die sie auslösen, bedrängen, um nicht zu sagen, ty­ran­ni­sie­ren.“
Diese Prosperität bildete die Basis für her­aus­ra­gen­de Er­run­gen­schaf­ten in Kunst, Wis­sen­schaft und Philosophie, die häufig mit bis dahin gültigen Paradigmen brachen. Einige Beispiele: Die Künstler Leonardo da Vinci und Mi­che­lan­ge­lo erschufen bleibende Werke voller Ori­gi­na­li­tät. Zuvor waren Künstler eher darauf bedacht gewesen, religiöse Geschichten zu verbreiten, als darauf, etwas neu zu in­ter­pre­tie­ren. Der Astronom Kopernikus re­vo­lu­tio­nier­te unsere Vorstellung vom Kosmos. Der Mediziner und Theologe Servetus deutete das Herz um, vom Sitz der Seele zu einem bloßen Muskel. Damit ermöglichte die Anatomie ein neues, nicht mehr spi­ri­tu­el­les Verständnis des Körpers. Der Philosoph Machiavelli begründete mit seiner Abhandlung Der Fürst unter anderem die modernen Po­li­tik­wis­sen­schaf­ten. Gutenbergs Erfindung der Dru­cker­pres­se machte Bildung einer breiteren Öf­fent­lich­keit zugänglich.

Genialität bei Individuen und im Kollektiv

Teilweise können besondere kreative Leistungen Individuen zu­ge­schrie­ben werden, die sich stark auf ein Thema oder Fachgebiet fokussieren. Manche dieser Durchbrüche wären aber ohne eine kollektive Genialität nicht zustande gekommen: Viele Menschen arbeiteten mit ihren un­ter­schied­li­chen Fähigkeiten am selben Problem und trugen durch originelle Ideen zu dessen Lösung bei. So stützten sich die her­aus­ra­gen­den Per­sön­lich­kei­ten der Renaissance auf das, was ihr Zeitalter her­vor­brach­te. Es lassen sich drei wesentliche Bedingungen erkennen, die die Renaissance so fruchtbar machten:
  1. Der Ideenstrom nahm zu – an in­halt­li­cher Man­nig­fal­tig­keit, an Verbreitung und an Ge­schwin­dig­keit. Dazu trug das neue Printmedium maßgeblich bei.
  2. Ebenso stieg die Anzahl gut gebildeter und aus­ge­bil­de­ter Menschen, die sich für neue Ideen in­ter­es­sier­ten, sie diskutieren und nutzen konnten.
  3. Wagemut wurde durch private und soziale Anreize belohnt: Europäische Staaten standen miteinander im Wettbewerb, teilweise sogar im Krieg. Deshalb waren Neu­ent­de­ckun­gen, die mi­li­tä­ri­sche, wirt­schaft­li­che oder kulturelle Vorteile versprachen, besonders gefragt.
Parallelen zwischen der Renaissance und heute

Wer unsere Gegenwart aufmerksam beobachtet, der findet ähnlich günstige Umstände und Bedingungen wie in der Renaissance: Global vernetzen die Menschen sich immer mehr. Mittels der rasant ver­brei­te­ten digitalen Medien ist fast die ganze Menschheit miteinander per Stimme oder Da­ten­ver­kehr verbunden – und das zu tragbaren Kosten. Viele haben Zugang zu einer riesigen In­for­ma­ti­ons­fül­le und können an deren Gestaltung teilhaben.
„Wer die Zukunft voraussehen will, muss sich mit der Ver­gan­gen­heit be­schäf­ti­gen, denn menschliche Ereignisse ähneln stets denen vergangener Zeiten.“
Seit 1990 hat der grenz­über­schrei­ten­de Handel stark zugenommen, ebenso die Diversität der Waren, Güter und Beziehungen. Auch sind die in­ter­na­tio­na­len Fi­nanz­strö­me bis zur Krise 2007/2008 stark angestiegen. Dann sanken sie, allerdings noch immer auf ein höheres Niveau als 1990. Die weltweiten Pas­sa­gier­auf­kom­men auf Flughäfen und die Anzahl der Über­nach­tun­gen in Gäs­te­un­ter­künf­ten wuchsen zwischen 1990 und 2014 deutlich. Ebenso hält der Zuzug in Städte an. Seit 2008 leben mehr als 50 Prozent der Welt­be­völ­ke­rung in Städten.
„Eine Renaissance ist ein Wettkampf um die Zukunft in einem Moment, in dem au­ßer­or­dent­lich viel auf dem Spiel steht.“
Gemessen am Stand von 1990 sind die Armuts- und die An­alpha­be­ten­ra­ten weltweit zu­rück­ge­gan­gen. Die durch­schnitt­li­che Le­bens­er­war­tung ist im letzten halben Jahrhundert stärker gestiegen als in den 1000 Jahren davor. Krankheiten können viel effektiver bekämpft werden als früher. Computer und Internet haben die Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on und die Mög­lich­kei­ten der Kooperation verbilligt und glo­ba­li­siert. Die Re­chen­leis­tung nimmt, wie von Moores Gesetz vor­her­ge­sagt, ex­po­nen­ti­ell zu. Davon profitieren viele Wis­sens­ge­bie­te, etwa Mathematik, Astronomie, Biologie, Geologie, Me­teo­ro­lo­gie oder Wirtschaft. Heute wird an Themen, Ideen und Konzepten gearbeitet, an die vor 20 Jahren noch nicht zu denken war.

Pa­ra­dig­men­wech­sel in den Na­tur­wis­sen­schaf­ten

Ähnlich wie in der Renaissance brechen Wis­sen­schaft­ler heute auf etlichen Gebieten mit Paradigmen. Beispiele aus den Na­tur­wis­sen­schaf­ten belegen dies. In der Medizin hat die Kombination aus Me­di­ka­men­ten, Chirurgie und präventiver Aufklärung in den letzten Jahrzehnten Hei­lungs­chan­cen verbessert und Krankheiten verhindert. Sie arbeitet auch daran, die natürlichen Grenzen des Alters und der Gene zu verschieben oder gar aufzuheben. So fanden die Mediziner heraus, dass die DNA nicht allein – wie ur­sprüng­lich angenommen – den Organismus bestimmt. Auch die Epigenetik (nicht in der DNA kodierte Erb­in­for­ma­tio­nen) spielt eine Rolle.
„Die Neu­ar­tig­keit der Welt der Renaissance reichte weit über den physischen Raum hinaus; sie erstreckte sich bis auf die Ge­dan­ken­welt.“
Andere Forscher erkunden, wie sich die DNA ver­schie­de­ner Spezies kombinieren oder wie sich ein syn­the­ti­scher Organismus entwerfen lässt. Die Macht, Leben zu erschaffen oder zu verändern, die bisher der Natur vorbehalten war, ist aufregend und gefährlich zugleich. Deshalb wird sie in einigen Ländern gesetzlich beschränkt.

Grö­ßen­be­schrän­kun­gen im Kollektiv durch­bre­chen

Nicht nur Paradigmen gilt es, zu wechseln. Auch tra­di­tio­nel­le Grö­ßen­be­schrän­kun­gen sind zu überwinden. Zum einen hindern un­ter­schied­li­che Sprachen die Menschen am ge­gen­sei­ti­gen Verständnis. Nur etwa 25 Prozent der Welt­be­völ­ke­rung verstehen die am weitesten verbreitete Sprache, Englisch. So bleiben bei­spiels­wei­se Themen, die im nich­teng­li­schen Teil des Internets diskutiert werden, vielen verborgen. Alle Inhalte zu übersetzen, würde zu viel kosten und zu lange dauern – trotz Com­pu­ter­un­ter­stüt­zung. Allerdings machen sich mitt­ler­wei­le viele Menschen daran, kleinere Teile des World Wide Web in andere Sprachen zu übertragen, so etwa Untertitel für Filme, Un­ter­richts­vi­de­os und TED Talks.
„Erst seit Kurzem wird uns klar, dass die Summe der in­di­vi­du­el­len Strategien und Ent­schei­dun­gen zur Verfolgung privater und kom­mer­zi­el­ler Ziele unsere kollektive Ver­wund­bar­keit für Scho­cker­eig­nis­se erhöht hat.“
Zum anderen wachsen die Ver­ar­bei­tungs­ka­pa­zi­tä­ten nicht mit der gleichen Ge­schwin­dig­keit wie die Daten. Wis­sen­schaft­ler kommen mitunter nicht nach, Daten auszuwerten und zu nutzen. Und Computer allein können nicht so gut wie­der­keh­ren­de Muster iden­ti­fi­zie­ren oder Wichtiges von Be­deu­tungs­lo­sem trennen wie das menschliche Gehirn. Deshalb suchen Wis­sen­schaft­ler nun Un­ter­stüt­zung bei Ama­teur­for­schern. Auf sogenannten Ci­ti­zen-Sci­ence-Web­platt­for­men können diese bei Projekten mitmachen. Beispiele sind Zooniverse für Astronomen, Chimp & Sea für Erforscher der Tierwelt Afrikas, Old Weather für die Tran­skrip­ti­on alter Schiffs­log­bü­cher, die Auskunft über Klimadaten geben, Tomnod, um illegale Fischerei zu bekämpfen, und EyeWire zur Kartierung des mensch­li­chen Gehirns.

Lässt sich Genialität quan­ti­fi­zie­ren?

Manche zweifeln daran, dass das heutige Zeitalter Genialität her­vor­bringt. Diese Skeptiker ar­gu­men­tie­ren etwa, dass eine zweite Mona Lisa das Einkommen nicht wachsen lässt. Und dass die Ar­beits­pro­duk­ti­vi­tät – also der Wert, den eine Ar­beits­stun­de produziert – trotz des technischen Fort­schritts mitt­ler­wei­le nur noch langsam zunimmt. Zudem sind einige Zu­kunfts­er­war­tun­gen der Ver­gan­gen­heit nicht Realität geworden: So fliegen, trotz des tech­no­lo­gi­schen Wandels, Autos zur allgemeinen Ent­täu­schung immer noch nicht. Mög­li­cher­wei­se haben neue Er­kennt­nis­se also nur noch in­kre­men­tel­len Nutzen; von Genialität ließe sich dann nicht mehr sprechen.
„Das Internet stellt eine ganz neue Quelle für systemische Risiken im 21. Jahrhundert dar.“
Dagegen ist erstens einzuwenden, dass sich au­ßer­ge­wöhn­li­che in­di­vi­du­el­le und kollektive Leistungen nicht immer in wirt­schaft­li­chen Zahlen fassen und messen lassen. Genialität kann mit In­no­va­tio­nen zur Wirt­schafts­ak­ti­vi­tät beitragen, sie kann aber auch in ganz anderen Dimensionen Ver­än­de­run­gen anstoßen und vor­an­trei­ben, etwa in der Gesundheit, der Kunst oder in Fragen der Ge­rech­tig­keit.
„Komplexität überfordert unsere Wahrnehmung; Kon­zen­tra­tio­nen überfordern unsere Ur­teils­fä­hig­keit.“
Zweitens wirkt sie mög­li­cher­wei­se lang­fris­ti­ger, als die Mess­kon­zep­te reichen. Drittens kann Genialität auch mittelbaren Nutzen stiften, der bei einer Messung un­be­rück­sich­tigt oder verborgen bleibt. Viertens täuscht mitunter der eigene Maßstab: So un­ter­schätz­te Robert Metcalfe, Miterfinder des Ethernets, im Jahr 1995 die zukünftige Bedeutung des Internets massiv, sagte sogar seinen Zu­sam­men­bruch für das folgende Jahr voraus. Ein weiterer Irrtum ist der Glaube, dass alle Probleme durch In­no­va­tio­nen gelöst werden können.

Gefahren und Risiken genialer Ideen

Neuerungen, die durch geniale Gedanken entstehen, können auch Gefahren mit sich bringen. In diesem Punkt haben die Skeptiker recht. In der Renaissance wurden in Europa erstmals Schuss­waf­fen eingesetzt – zunächst in Form von Kanonen, später als Hand­feu­er­waf­fen, die im Lauf der Zeit für immer breitere Ge­sell­schafts­krei­se er­schwing­lich wurden. Heute stellt Bio­ter­ro­ris­mus die größte neue Gefahr dar. Denn im Gegensatz zu Atomwaffen ist der Wir­kungs­ra­di­us von Viren räumlich nicht begrenzt. Die technischen Mög­lich­kei­ten zur syn­the­ti­schen DNA-Pro­duk­ti­on eines ge­fähr­li­chen Virus sind in ent­wi­ckel­ten Ländern vorhanden und kos­ten­güns­tig zugänglich. Die Wahr­schein­lich­keit, dass sie genutzt werden, steigt stetig. Eine weitere Gefährdung erwächst durch das Internet: Anstatt die Menschheit im positiven Sinn zu verbinden, können mit dem Internet auch kriminelle Aktivitäten besser koordiniert und Hetz­kam­pa­gnen weiter und schneller verbreitet werden als zuvor.
„Tugend, so hatte Aristoteles erklärt, ist die cha­rak­ter­li­che Qualität, so zu handeln, wie man sollte, selbst wenn das schwierig und unpopulär ist oder bestimmte Interessen stört.“
Nicht nur das Internet, auch die Finanz- und Han­dels­strö­me unterliegen der globalen Vernetzung. Doch je enger alles miteinander verknüpft ist, desto anfälliger wird ein System für Störungen. Das liegt zum einen an seiner Komplexität, die dazu führt, dass ein scheinbar un­we­sent­li­ches Ereignis an ganz anderer, un­er­war­te­ter Stelle im System Wirkungen zeigt. Kausale Zu­sam­men­hän­ge lassen sich nur schwer erkennen und Risiken deshalb kaum im Voraus abschätzen. Ein weiterer wunder Punkt komplexer Systeme ist ihre Kon­zen­tra­ti­on auf besonders attraktive Ver­bin­dungs­punk­te, an denen sich In­fra­struk­tur, Ressourcen und das soziale Miteinander kreuzen. Krankheiten wie Sars oder Ebola können sich in solchen Zentren viel schneller ausbreiten. Diese Netzknoten zu isolieren, ist im Ernstfall einerseits schwierig, an­de­rer­seits für das System insgesamt eine Belastung.

In welcher Welt wollen wir leben?

Durch die ver­schie­de­nen Neuerungen sind wir immer wieder gefordert, Ent­schei­dun­gen zu treffen über die Welt, in der wir leben wollen. Bei­spiels­wei­se sind durch die fort­schrei­ten­de Au­to­ma­ti­sie­rung viele der ge­gen­wär­ti­gen Ar­beits­plät­ze bedroht. Unklar ist, ob neue Jobs geschaffen werden oder es zukünftig viel mehr Un­ter­be­schäf­tig­te oder Arbeitslose geben wird. Ebenso unklar ist, ob die durch Au­to­ma­ti­sie­rung ent­stan­de­nen Gewinne nur wenigen zu­gu­te­kom­men oder mit den am Ar­beits­le­ben weniger beteiligten Menschen geteilt werden. Ein anderes Beispiel ist die Frage, wie unsere Ge­sell­schaft die öffentliche Sicherheit und die Pri­vat­sphä­re von Individuen aus­ba­lan­cie­ren möchte. Wir haben es in der Hand, ob sich die Risiken oder die Chancen unserer Zeit realisieren werden. Einiges, was Sie beitragen können:
  • Seien Sie offen für neue Ideen. Fragen Sie bei Meinungen nach Argumenten und stützenden Fakten; hin­ter­fra­gen Sie, ob es nicht noch andere Sichtweisen gibt.
  • Fördern Sie Kreativität, auch mit fi­nan­zi­el­len Mitteln, zum Beispiel durch Crowd­fun­ding.
  • Haben Sie Mut zum Ex­pe­ri­men­tie­ren, Erforschen, Probieren, auch außerhalb Ihrer fest­ge­füg­ten Lebensbahn. Haben Sie keine Angst vor dem Scheitern.
  • Nehmen Sie eine lang­fris­ti­ge Perspektive ein, die Ihnen Vertrauen in die Zukunft jenseits negativer Schlag­zei­len gibt. Tauschen Sie sich mit anderen dazu aus.
  • Folgen Sie Ihrer Lei­den­schaft an Orte, an denen viele Menschen diese teilen. Wenn Sie noch keine Passion für sich entdeckt haben, schauen Sie sich danach in einer der größten oder wachs­tums­stärks­ten Städte der Welt um – „finden Sie Ihr Florenz.“
  • Schließlich: Handeln Sie tugendhaft, ehrlich, wagemutig und mit Würde. Letzteres setzen Sie um, indem Sie sich lebenslang in un­ter­schied­lichs­ten Gebieten fortbilden, sich für An­ders­ar­ti­ges in­ter­es­sie­ren und der Kunst in Ihrem Alltag einen Platz einräumen.

Über die Autoren 

Ian Goldin ist Professor und Direktor der Oxford Martin School der Universität von Oxford in England. Von 2003 bis 2006 war er Vi­ze­prä­si­dent der Weltbank. Chris Kutarna hat in Oxford promoviert und bei der Boston Consulting Group in Fragen der in­ter­na­tio­na­len Politik und Wirtschaft beraten.


Nota. - Ich setze voraus, dass getabstract korrekt zusammengefasst hat. Da fällt mir als erstes die eigenwillige Epochenbestimmung auf. 1450 bis 1540 - nur neunzig Jahre? Literaturwissenschaftler würden die Renaissance mit Petrarca, Kunsthistoriker mit Giotto beginnen lassen - rund hundert Jahre früher. 

Da fällt mir ein: Die Schwarze Pest wütete 1346 bis 1353, nachdem im Jahr 1342 gewaltige Überschwemmun- gen weite Teile Europas verheert hatten - Ost- und Zentralfrankreich, die Provence, Norditalien, das ganze heu- tige Deutschland sowie Böhmen, Österreich und Ungarn; in Süddeutschland die Magdalenenflut. In Europa kam es zu einem Niedergang des Ackerbaus, der, indem er die Feudalität schwächte, einen Aufschwung des städti- schen Bürgertums begünstigte.   

Es gibt Anlass, im 14. Jahrhundert den Beginn der Neuzeit wahrzunehmen. Ein besonderes Datum its die Herr- schaft Philipps des Schönen in Frankreich, der sein Land als kontinentale Großmacht etablierte, indem er im Innern den Absolutismus begründete.  

Und sogleich fällt auf, dass wirtschaftshistorische Erwägungen bei Goldin und Jutarna kaum eine Rolle spielen. Aber ohne die ist Sozial- und Kulturgeschichte nicht wohl möglich.

Gehen wir von der anderen, von unserer Seite an den Vergleich heran, so wurde der Umbruchcharakter der Gegenwart zunächst mit dem Ausdruck neue industrielle Revolution bezeichnet, wobei man gleich mitentschei- den musste, ob des die zweite, dritte oder schon vierte wäre. Das war aber, je weiter die Digitalisierung um sich griff, kleinlich und unangemessen. Der Vergleich mit der Gutenberg-Revolution hat ihrem Ausmaß und ihrer kulturellen Reichweite Rechnung getragen, doch die produktionstechnische und ökonomische Dimension, die alles Dagewesene in den Schatten stellt, ging wieder verloren.

Im Grunde ist die noch immer an Tempo und Tiefe gewinnende Digitale Revolution aber nur mit der Neolithi- schen Revolution, mit der Einführung des Ackerbaus und der Entstehung der Arbeits- und Wirtschaftsgesell- schaft zu vergleichen. Also, wenn wir von der Vorgeschichte der Jäger- und Sammler-Kulturen absehen, mit dem Anfang der Geschichte.

Also ein Neu anfang, indem sie unser bisherige Geschichte zu einem Abschluss bringt. Das ist mehr als bloß eine Renaissance.
JE 

Samstag, 22. Juni 2019

Selbstachtung.


aus Tagesspiegel.de, 20.06.2019

Menschen sind ehrlicher als sie selbst glauben
Werden verlorene Geldbörsen eher eingesteckt, wenn sie viel Geld enthalten? Genau das haben Forscher jetzt untersucht. Das Ergebnis überraschte nicht nur sie.

Wie Menschen mit einer gefundenen Geldbörse umgehen, und ob es einen Unterschied macht, ob viel oder wenig Geld darin ist, haben Forscher aus der Schweiz und den USA in 355 Städten in 40 Ländern untersucht. Das Resultat: Je mehr Geld in der Brieftasche war, desto ehrlicher waren die Menschen. Das berichtet das Team um Michel André Maréchal von der Universität Zürich im Fachblatt "Science".

Menschen erwarteten wenig von Menschen

Die Wissenschaftler befragten zudem Top-Ökonomen und Bürger nach ihrer Einschätzung, wie Menschen mit gefundenen Geldbörsen umgehen würden. Beide Gruppen erwarteten mehrheitlich, dass Menschen größere Beträge eher behalten würden. "Die Studie zeigt, dass wir ein zu negatives Menschenbild haben", sagt Mitautor Christian Lukas Zünd von der Universität Zürich der Deutschen Presse-Agentur. Menschen seien ehrlicher als gedacht.

Zu dem Versuch gehörten gut 17.000 Geldbörsen mit Visitenkarten, teils mit Schlüsseln und Geldbeträgen verschiedener Höhe. Helfer der Forscher behaupteten, sie gefunden zu haben, und gaben sie am Empfang von Institutionen ab – etwa an Hotelrezeptionen, Banken, Kinokassen, Poststellen, Polizeiwachen oder Ämtern. Die Forscher achteten darauf, wie oft die Brieftaschen ihren Weg zurück zum vermeintlichen Besitzer fanden.

Schlüssel im Portemonnaie erhöhen die Rückgabequote

Die Resultate: Zum einen wurden Geldbörsen mit Schlüssel unabhängig vom Geldbetrag öfter zurückgegeben als solche ohne Schlüssel. Die Forscher schließen daraus, dass Finder – in diesem Fall also die Menschen am Empfang von Institutionen – oft selbstlose Motive haben, denn der Schlüssel hat für den Besitzer Wert, nicht für den Finder.

Die große Überraschung für die Forscher war aber, dass zwar der Geldbetrag in der Börse einen Unterschied machte, aber umgekehrt wie erwartet: Je höher die Beträge waren, desto mehr Geldbörsen wurden zurückge- geben. Die Besitzer von 51 Prozent der Geldbörsen, die etwa zwölf Euro enthielten, wurden kontaktiert, bei den Börsen ohne Geld wurden nur 40 Prozent kontaktiert. In einer kleineren Nachstudie in Polen, den USA und Großbritannien stieg die Quote bei 80 Euro im Portemonnaie sogar auf 71 Prozent.

Ehrlichkeit kennt keine Grenzen – aber Länderunterschiede

Dieses Muster fanden die Forscher zwar in nahezu allen 40 Ländern. Allerdings waren die Rückgabequote doch unterschiedlich: Bei Geldbörsen ohne Geld waren die Schweizer am ehrlichsten, bei größeren Geldbeträgen Dänen, Schweden und Neuseeländer. Deutschland lag bei Börsen ohne Geld an neunter, bei Börsen mit Geld an elfter Stelle.

Die Autoren – Verhaltensforscher und Ökonomen – erklären das Resultat damit, dass Menschen sich beim Einbehalten größerer Beträge eher als Diebe fühlen. Mit diesem Selbstbild könnten viele aber schlecht leben. "Die psychologischen Kosten sind gewichtiger als der materielle Gewinn", folgert Mitautor Alain Cohn von der Universität von Michigan. "Menschen wollen sich als ehrliche Personen sehen, nicht als Diebe", sagt Maréchal.

Insgesamt fanden mehr als 8.000 der gut 17.000 Börsen zu ihren vermeintlichen Besitzern zurück. Nicht wieder aufgetaucht sind unter anderem Fundstücke, die bei zwei Korruptionsbehörden abgegeben worden waren.

Eine Studie aus dem echten Leben

Was bringt die Studie? Einzelne Studien hätten wiederholt gezeigt, dass Menschen ehrlich sein wollten, sagt Zünd. "Unsere Studie zeigt nun, dass dies ein globales Phänomen ist, in armen und reichen Ländern, bei Männern und Frauen, bei jung und alt."

Nutzen aus solchen Studien könnten Behörden und Unternehmen ziehen. "Man kann Menschen besser moti- vieren, ehrliche Antworten zu geben, wenn man sie bei ihrer Ehre packt", so Zünd. Der häufig am Ende von Formularen gedruckte Zusatz "Ich versichere, alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet zu haben" sollte besser am Anfang stehen, dann gebe es mehr wahre Antworten. Und Studenten schummelten weniger, wenn sie vor der Prüfung einen Ehrenkodex unterzeichnen müssten. Auch Steuerbehörden könnten prüfen, wie sie mit solchen einfachen Mitteln Betrügereien verhindern können.

Johannes Haushofer von der Universität Princeton in den USA spricht von einer "wirklich hervorragenden Studie" – auch weil die Untersuchung von Ehrlichkeit in einer Alltagssituation erfolgt sei und nicht im Labor. "Die Größenordnung dieses Experimentes ist wirklich außergewöhnlich und sucht in der Sozialwissenschaft ihresgleichen", sagt der Psychologe und Wirtschaftsökonom, der nicht an der Arbeit beteiligt war. "Meine Vorhersage ist, dass diese Studie eine ganze Reihe von Folgeuntersuchungen anregen wird, die uns mehr über die Faktoren sagen, die ehrliches Verhalten ermöglichen."

(dpa/rif)


Nota. - Dass angelsächsische Forscher meinen, Moralität sei eine Variation über das Thema des größten Vorteils der größten Zahl, würde niemand überraschen. Bei mitteleuropäischen Schweizern, denen allerdings eine beson- ders enge Beziehung zum Geld nachgesagt wird, erstaunt es schon eher.

Dabei geht es nicht einmal beim Recht um den gegenseitigen Vorteil, sondern um die gegenseitige Anerkennung als Gleiche. Seinen unübertrefflichen Ausdruck findet dieser Gedanke in der mittlerweile allgemein gültigen Fiktion vom Gesellschaftsvertrag.

Ganz anders in der Moral. Da muss sich keiner mit mir vertragen als ich selbst. Moralität ist das Verlangen nach Anerkennung durch mich. Nicht was ich andern schulde lehrt mich "die Moral", sondern was ich mir selber schuldig bin, gebietet mir mein Gewissen auf Schritt und Tritt immer wieder neu.

Für einen faulen Schluderer halte ich mich sowieso, bei kleinen Summen lass ich fünfe gerage sein. Aber mich für einen Dieb halten müssen will ich nicht.
JE



Donnerstag, 20. Juni 2019

Arbeit ist viel weniger als das halbe Leben.

Millet
aus scinexx

Ein Tag Arbeit reicht für das Seelenheil
Arbeit fördert das Wohlbefinden - doch mehr als ein paar Wochenstunden braucht es dafür nicht 

Ein bisschen Arbeit tut gut: Arbeitenden Menschen geht es seelisch besser als Nicht-Erwerbstätigen. Dieser Effekt zeigt sich schon bei acht Arbeitsstunden oder weniger pro Woche deutlich, wie eine Langzeitstudie enthüllt. Demnach sinkt bereits bei diesem geringen Pensum das Risiko für psychische Probleme signifikant – und mehr braucht es offenbar auch nicht. Denn der positive Effekt nimmt durch längere Arbeitszeiten nicht weiter zu. 

In Zeiten von Stress, Leistungsdruck und Überstunden erscheint ein Leben ohne Arbeit oft verlockend: Ohne Verpflichtungen und Termine in den Tag hineinleben und nur das tun, worauf man gerade Lust hat – ein Traum! Was in der Fantasie paradiesisch klingt, ist für unsere Psyche auf Dauer allerdings gar nicht gut. Langfristig, das belegen zahlreiche Studien, braucht der Mensch Arbeit für sein Wohlbefinden. Denn einen Job zu haben, fördert die Selbstachtung, wirkt sinnstiftend und gibt uns das Gefühl, gesellschaftlich eingebunden zu sein.
 
Doch wie viele Arbeitsstunden sind für diesen positiven Effekt nötig? „Es gibt für fast alles Dosierungsemp- fehlungen – von der Vitamin-C-Zufuhr bis hin zur Schlafdauer. Wir haben uns nun zum ersten Mal gefragt, wie eine solche Empfehlung für bezahlte Arbeit aussehen würde“, erklärt Daiga Kamerade von der University of Cambridge. 

Acht Stunden pro Woche genügen

Um dies herauszufinden, werteten die Forscherin und ihre Kollegen Daten einer britischen Langzeitstudie mit 70.000 Teilnehmern aus. Die Probanden im Alter zwischen 16 und 64 waren über einen Zeitraum von neun Jahren begleitet worden und hatten währenddessen regelmäßig Angaben zu ihrer beruflichen Situation gemacht. Außerdem wurden sie zu Problemen wie Ängsten oder Schlafstörungen befragt, um ihre psychische Gesundheit einschätzen zu können.
 
Würde sich ein Zusammenhang zwischen dem Seelenzustand und dem Arbeitspensum der Studienteilnehmer zeigen? Tatsächlich offenbarten die Analysen: Personen, die nach einer Phase der Arbeitslosigkeit oder Elternzeit ins Arbeitsleben zurückkehrten, ging es in der Folge psychisch besser. Schon acht Arbeitsstunden oder weniger pro Woche reduzierten das Risiko für psychische Probleme im Schnitt um 30 Prozent, wie die Wissenschaftler berichten.

Mehrarbeit bringt keinen Mehreffekt

Mit steigendem Arbeitspensum wurde dieser Effekt allerdings nicht stärker: Mit einem Vollzeitjob landete zwar mehr Gehalt auf dem Konto, doch für die seelische Gesundheit ergaben sich keine signifikanten Unterschiede im Vergleich zu weniger arbeitenden Personen. „Wir haben nun eine Vorstellung davon, wie viel bezahlte Arbeit nötig ist, um die bekannten psychosozialen Vorteile der Erwerbstätigkeit zu erzielen. Es ist nicht sehr viel“, sagt Kamerades Kollege Brendan Burchell.
 
„Das traditionelle Modell, nach dem jeder rund 40 Stunden wöchentlich arbeitet, war nie darauf basiert, wie viel Arbeit den Menschen guttut“, ergänzt Mitautor Senhu Wang. „Unsere Untersuchung legt nahe, dass Mikrojobs den gleichen Nutzen für die Psyche bringen wie Vollzeitjobs.“ 

Verkürzte Woche als Option

Die Wissenschaftler halten ihre Ergebnisse vor allem angesichts des sich rasant wandelnden Arbeitsmarktes für relevant. So gehen Prognosen davon aus, dass durch technische Fortschritte in Form von Robotern oder künstlichen Intelligenzen künftig in vielen Bereichen Arbeitsplätze wegfallen könnten.
 
In diesem Zusammenhang diskutieren Experten unter anderem die Einführung von Grundeinkommen, aber auch die Kürzung der wöchentlichen Arbeitszeit. „Unseren Erkenntnissen zufolge könnte die Arbeitswoche deutlich verkürzt werden, ohne der seelischen Gesundheit und dem Wohlbefinden der Arbeitnehmer zu schaden“, kommentieren Kamerade und ihre Kollegen.

Auch auf die Qualität kommt es an

Eines aber darf bei der Diskussion um die Quantität nicht vergessen werden, wie die Forscher betonen: Auch die Qualität der Arbeit ist entscheidend. „Wo Angestellte nicht respektiert werden oder unter unsicheren Verträgen leiden, hat die Arbeit natürlich nicht denselben positiven Effekt auf die mentale Gesundheit – und das wird auch in der Zukunft gelten“, so ihr Fazit. (Social Science & Medicine, 2019; doi: 10.1016/j.socscimed.2019.06.006)
 
Quelle: University of Cambridge