Die ewige Deutsche Frage.

Gartenzwerge gegen Deutschland.

stern


Die Unterscheidung zwischen asylberechtigten politischen und nicht asylberechtigten Wirtschaftsflüchtlingen hat allenfalls die pragmatische Rechtfertigung, in diesem Augenblick die Zahlen wenigstens ein kleines bisschen drücken zu können. Aber auf weite Sicht ist sie unvernünftig und wird sich außerdem als nicht praktikabel erweisen. 

Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge überqueren auch nicht aus Fernweh mit ihren Kindern im Schlauchboot das Mittelmeer, sondern weil sie vor dem Elend fliehen. Wenn sie ihr und ihrer Kinder Leben riskieren – glaubt denn einer, dann werden sie sich von ein paar zusätzlichen bürokratischen Schikanen abschrecken lassen? Es werden immer mehr kommen. Das würde sich auch mit einem Ende der Bürgerkriege im Nahen Osten nicht ändern. 


Syrien, der Irak und der IS haben die Sache akut gemacht. Aber die Aufgabe ist eine dauernde: ein Einwanderungsland Europa zu schaffen. Das ist das Signal, das Frau Merkel gesetzt hat, und sie hat allen Grund, nicht locker zu lassen und in der Sache nicht einen Fußbreit preiszugeben. Wenn Deutschland nicht in Europa führt, tut es keiner, und Europa zerfällt. 
Vielleicht sollte Schröder sich gleich nochmal zu Wort melden und dies nachtragen: Wer jetzt der Merkel in den Rücken fällt, stellt sich gegen Europa und gegen Deutschland.





Leitkultur? Aber ja doch!


n-tv

In der heutigen Ausgabe der FAZ veröffentlich Hans-Georg Soeffner einen langen Artikel unter der Überschrift Vergesst eure Leitkultur! Die Quintessenz lässt sich leicht zusammenfassen: Eine deutsche Leitkultur könne es nicht geben, weil sie nicht weniger als die religiösen Fundamentalismen jeglicher Konfession im Widerspruch stünde zu den universalistischen Prinzipien der westlichen Gesellschaft, die ihrerseits Grundlage und einzige Rechtfertigung eines vereinten Europas sein können.

Er hat sogar mehr Recht, als er denkt. Denn das historisch Auszeichnende der deutschen politischen und Geistes-geschichte ist unsere säkulare Zerrissenheit, die ihren Anfang nahm in der Vereinigung der deutschen Königswürde mit dem römische Kaisertum, und in der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges ihre historische Beglaubigung fand. Wir Deutschen sind immer sowohl das Eine als auch sein Gegenteil; aber das gründlich.


Hans-Georg Soeffner irrt sich aber, wenn er meint, das könne keine Basis für eine Leitkultur abgeben. Es ist die Basis einer Leitkultur, die auch er als gültig ansieht; nur eben nicht einer spezifisch deutschen, sondern der gemeinsamen abendländischen. Wir stehen nach allem, was wir getan und erlitten haben, diesem Kern der abendländischen Identität näher als irgendeine europäische Nation. Wir sind Kronzeugen und stehen als solche mehr in der Verantwortung als andere.





Jetzt sind wir nicht mehr nur uns selbst ein Rätsel.
aus Süddeutsche.de, 3. Januar 2016, 09:10 Uhr

Die Welt blickt ratlos bis euphorisch auf Deutschland

Von Gustav Seibt

Es passiert nicht oft, dass es die Stadt München in den New Yorker schafft, das Intelligenzblatt der amerikanischen Ostküste. Und wenn, dann muss vom Oktoberfest die Rede sein und gleich Thomas Wolfe zitiert werden, dessen Bericht über das wilde, orgiastische Bierfest von 1928 unvergessen bleibt. So geschah es in diesem Dezember, als der englische Schriftsteller Martin Amis eine Story mit dem schlichten Titel "Oktober" (mit k) im New Yorker publizierte, illustriert mit beschwingten Lederhosen- und Dirndlbeinen. Und doch war alles anders als sonst.
 


Im Hintergrund der Trachtenfüße erkennt man eine mit Kopftuch bedeckte Frau, die ein Kind im Arm hält. Denn während des Oktoberfests 2015 liefen ja die Flüchtlingsströme von der Balkanroute weiter vorbei an München, teilweise weiter durch München. Und Martin Amis hat diesen historischen Moment in einem ebenso beeindruckenden wie ratlosen Text festgehalten - für die ganze Welt, wie man feststellen muss, wenn man an den Ruhm des Autors und den Rang seines Publikationsorts denkt. 

Amis beschreibt sich darin als Autor auf Lesereise, der auch durch München kommt. Er sitzt im Hotel, behütet von Agenten und Übersetzern. Daher kann er sich ganz der Betrachtung überlassen, über das nachsinnen, was sich vor den Fenstern der Hotellobby abspielt. Ähnlich der Schichtentechnik im Landwirtschaftsfest von Flauberts "Madame Bovary" lässt er die Stimmen und Töne der gleichzeitig ablaufenden Vorgänge durcheinanderspielen: Vorne Klavierklang und Telefonierstimmen des Hotels, darüber ein Nachrichtensender auf dem Bildschirm. 

Draußen der Strom der aufgebrezelten Trachtenträger, die zum Fest eilen, dazwischen und dahinter die Flüchtlinge mit ihrem Gemisch aus arabischer Frauenmode und internationaler Jugendkluft. 

Eine weitere Bedeutungsschicht ist eingetragen, weil der beobachtende Autor sich die Zeit mit der Lektüre von Vera Nabokovs Briefen an ihren Mann Vladimir vertreibt - zwei weltberühmte Flüchtlinge, aus ihrer Heimat verjagt von den Bolschewisten, aus ihrem Exil weitergejagt von den Nazis: Vera Nabokov ist Jüdin, ein Bruder von Vladimir Nabokov kommt in einem deutschen KZ zu Tode. Vera und Vladimir retten sich an jenes atlantische Ufer, an dem der New Yorker und die meisten seiner Leser zu Hause sind. Amis, der all das mit naturalistischer Treue ineinanderklingen lässt, lässig klimpernd auf dem Klavier der Eindrücke, die er zu Akkorden bündelt - er kennt auch Goethe und zitiert dessen berühmten Satz über die Deutschen aus dem Jahr 1813, den englische Leser am leichtesten in Thomas Manns übersetzten Reden finden können. Es ist Goethes entnervtes Wort vom deutschen Volk, das "so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen" sei.

Der von dem Emigranten Thomas Mann ins Englische transportierte Goethe-Satz grundiert die Geschichte von Amis mit einer letzten historischen Tiefenschicht: Diese reicht nun durch zwei ganze Jahrhunderte, während draußen sich das Gewühl des Augenblicks vollzieht, der ungeheure Moment der Gegenwart. Beeindruckend ist dieser Text aber vor allem, weil er ein klares Urteil verweigert - Amis verkündet keine Meinung. Ist das, was er sieht, Irrsinn? Ist es ein Moment ergreifender Menschlichkeit, wie die Nabokov-Parallele zu verstehen geben könnte? Sind die im Einzelnen so achtbaren Deutschen wieder einmal kollektiv verrückt geworden? Der Text beantwortet die Frage nicht. 

"So achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen" - Goethe über das deutsche Volk 
Mit Mühe schafft es der Schriftsteller durch den von Menschenmassen paralysierten Verkehr zum Flughafen und dann weiter nach New York. Dort angekommen, befällt ihn das Gefühl tiefer Erleichterung - auch er hat ein rettendes Ufer erreicht, einen anderen Kontinent, der nicht von Fliehenden überrannt werden kann. "Oktober" muss gleich danach geschrieben worden sein. 

Die Bilder aus München sind berührend. Aber es gibt auch viele, denen unwohl ist angesichts der Aufgabe, Hunderttausende Flüchtlinge zu integrieren. Ignoriert man sie, werden die Probleme nur größer.

Erst in vielen Jahren wird man wissen, ob das, was 2015 begann - und was zu beginnen wohl noch lange nicht aufhören wird -, gut oder böse endet. Was man jetzt schon weiß, ist, dass kaum ein anderer Beobachter Deutschlands sich 2015zu einer so heroischen Suspension des Urteils aufraffen konnte. Wenn jetzt viele hierzulande sagen, besorgniserregend sei weniger die Flüchtlingskrise als die Spaltung der Gesellschaft darüber, dann darf man erwidern: Unseren Nachbarn geht es in Bezug auf Deutschland nicht anders. Selten war die Amplitude, der Ausschlag der Urteile so groß wie in diesem Moment. 

Das Jahr begann mit der gefeierten Ausstellung "Germany - Memories of a Nation" im Britischen Museum. Als Neil MacGregor, ihr Macher, im Mai den Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung entgegennahm, berichtete er von dem gewaltigen Erfolg. Er zeigte sich nicht nur in Zehntausenden Besuchern, sondern auch in den Hunderttausenden, die die begleitende Radioserie der BBC anhörten und herunterluden. Bewegt hätten ihm in England beheimatete Deutsche geschrieben, zum ersten Mal in ihrem Leben werde positiv über die Geschichte ihres Herkunftslands berichtet. 

Damals, im Frühjahr, noch vor dem großen Ansturm, erklärte MacGregor, die eigentliche Entdeckung für die Engländer sei die Geschichte der Vertreibungen aus dem Osten gewesen, der - so wörtlich - "größten Menschenverschiebung der Weltgeschichte". 

Die Briten sprechen von "verwirrender Naivität" - und meinen damit, die Deutschen seien durchgedreht 

Zu sehen war im Britischen Museum auch ein "Käfer" von Volkswagen (Baujahr1953), mit seiner ambivalenten Bedeutung als Produkt von Hitlers Volksstaat, aber auch als Symbol des Wirtschaftswunders und der deutschen Ingenieurskunst. Diese Symbolkraft für modernes Design und "german engineering" erklärt auch die Wirkung der jüngsten Betrugsaffären von VW in der angelsächsischen Welt. Sie reicht über die Wirtschaftsteile der Zeitungen weit hinaus. Das korrupte Deutschland, das ist spätestens jetzt mit dem VW-Skandal (und mit den Manipulationen und Geldwäschen der Deutschen Bank, den Machenschaften im Fußball) eine etablierte Tatsache.
Ankunft von Flüchtlingen am Hauptbahnhof MünchenFlüchtlingshelfer am Münchner Hauptbahnhof

Behaglich wird sie auch im Süden Europas registriert, wo noch im ersten Halbjahr 2015 die deutsche Härte in der Euro-Krise Wutwellen auslöste, die um den Globus gingen. Sie wirkten nach im jüngsten Auftritt des Vorsitzenden der spanischen Podemos-Partei, Pablo Iglesias, der nach seinem Wahlsieg erklärte: Spanien sei eine souveräne Demokratie und gehöre nicht zur "Peripherie Deutschlands" - ein Credo, das kaum variiert zwischen Italien, Griechenland und dem französischen Front National ertönt. 

Das "lateinische Europa", das sich in der Euro-Krise vom angeblich protestantischen Ethos der deutschen Austerität so bedrängt fühlte, reagiert auf die Flüchtlingskrise kühl. In Italien verlassen die im Freien übernachtenden Fremden die Plätze und Bahnhöfe, das freut den Bürger. Dass in Berlin geradezu italienische Verwaltungszustände herrschen, erscheint weniger wichtig als die unheimlich effizient vernetzte deutsche Helferszene, zu der es im Süden kaum Parallelen gibt - schickt man italienischen Freunden Links zur Übersichtsseite der Bedarfslisten aller Berliner Notunterkünfte, erntet man ungläubiges Staunen. 

Britische Freunde dagegen neigen durchaus dazu, die neue "german fraternity" als bedauerlichen Anfall von verwirrender Naivität (baffling naiveté) zu verstehen - so höflich formuliert man es, wenn man meint: Ihr seid verrückt geworden. Die Gegenrede, es spreche wenig dafür, Angela Merkel sei über Nacht naiv geworden, enthüllt den ganzen Abgrund der Meinungen. Realpolitisch, so lässt sich eine durchaus verbreitete britische Diagnose zusammenfassen, wäre es klüger gewesen, den griechischen Steuersündern etwas mehr entgegenzukommen und die syrischen Flüchtlinge etwas mehr auf Abstand zu halten - um der Raison Europas willen. Es sind unerquickliche Gespräche, die wieder tief zurück in Stereotype auf beiden Seiten führen. 

Wäre es wirklich möglich und für Deutschland klug gewesen, im Herbst 2015auf dem Balkan einen Rückstau von 700 000 Flüchtlingen zuzulassen, mit all den humanitären Katastrophen, die sich damit verbunden hätten? Diese Frage hat soeben Herfried Münkler in einem Interview gestellt. Zum Jahresende hat Roger Cohen, der legendäre, überaus kritische Deutschland-Experte der New York Times einen geradezu hymnischen Leitartikel über unser Land verfasst: "Germany, Refugee Nation". 

Mit bitterem Seitenblick auf Amerikas Ängste und seine fehlende Bereitschaft, Verantwortung für ein miterzeugtes Chaos zu übernehmen, prophezeit Cohen: "Im Ergebnis wird Deutschland in der nächsten Generation ein stärkeres, vitaleres, dynamischeres Land werden." Ein Wunsch, den wir gern mitnehmen. 



4. Januar 2016









Die Sozialdemokraten und ihre nationale Frage.



Aus leider allzu triftigem Grund weist die heutige FAZ darauf hin, dass Angela Merkels Politik in der Flüchtlings-frage die Sozialdemokratie in eine viel tiefere Zerreißprobe* treiben wird als ihren eigenen KanzlerInnenwahlverein.

"SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi warf Merkel vor, keine ausreichende Antwort auf die Herausforderungen der Krise zu haben. 'Angela Merkel steht nicht dafür, dass sie ausgereifte Gesellschaftskonzepte auf den Tisch legt, sondern dafür, kurzfristig zu agieren und auf Sicht zu fahren'"   womit sie, sei hinzugefügt, sich von der SPD nicht unterscheidet.

"Mit Blick auf die CSU-Position und die Willkommensgeste der Kanzlerin sagte Fahimi, die Union erzeuge 'eine politische Bipolarität, wie sie extremer kaum sein könnte', sie sei innerlich zerrissen. Die Stimmung im Land werde umschlagen, wenn die Kommunen den Alltag nicht mehr bewältigen könnten, so Fahimi weiter. 'Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Wohnverhältnisse vor Ort schwieriger werden, dass das Schwimmbad oder die Turn-halle für Flüchtlinge genutzt werden, die Schulen aber nicht saniert werden können oder zu wenig Lehrer für unsere Kinder da sind, weil die Kommunen das Geld für die Unterbringung oder Integrationskurse brauchen', warnte Fahimi."

Erkennen Sie, in welches Dilemma die SPD schliddert? Seit dem Abgang Schröders wieder ganz zurückgeführt auf Lippendienst am Gutmenschentum, Bedürftigenkümmerei und politisch korrekter Minderheitenpflege, aber nie, wenn's hart auf hart geht - ist sie urplötzlich von der eisernen Kanzlerin überrollt und weiß nicht einmal mehr, was sie sagen soll. Und in ihrer Verlegenheit plaudert Frau Fahimi aus, was ach so viele von diesen Gerechten im Herzen schon immer dachten: Klar wolln wir helfen, jederzeit; es darf uns bloß nix kosten.

Natürlich werden die Wohnverhältnisse "vor Ort" schwieriger werden, natürlich werden die Kommunen Geld, das (unter anderm) für Infrastrukturarbeiten vorgesehen war, für die Flüchtlingshilfe umlenken müssen. Ja wie soll es denn anders gehen? Da sind sie auf dem falschen Fuß erwischt: Ihre Wohltaten waren ja immer für die eigne Klien-tel gedacht; dass der nun selber Unbequemlichkeiten aufgebürdet werden sollen, war nicht vorgesehen. Da dauert's nicht mehr lange, dann hören wir auch von dieser Seite: Unsere Menschen sind noch nicht so weit!

Denn die energische und an dieser Stelle einzig angemessene Antwort steht ihnen ja nicht zu Gebot: dass es sich um eine nationale Aufgabe handelt. Dass wir als Nation herausgefordert sind, zum ersten Mal wieder, und wir können von Glück reden, dass uns das an einer Stelle passiert, wo wir sogar noch Bella figura machen.

Dass der erzkonservative Kardinal Woelki aus Nächstenliebe mitmachen will, ist sein christlicher Job und völlig in Ordnung. Aber die allein würde wahrlich nicht ausreichen, um die Politik einer Bundesregierung zu begründen. Deren Grund ist vielmehr ein historischer: Europa muss sich vereinigen, sonst wird es in der Welt untergehen. In Europa ist aber der Punkt erreicht, wo nur noch ein Land einen unmittelbaren Vorteil davon hat, die Vereinigung voranzutreiben, und das ist naturgemäß das stärkste; während alle andern gern noch das eine oder andere Sonder-recht mit hinüberretten wollen, und die treten auf die Bremse. Es ist nicht so, dass Großdeutschland die eigenen Interessen gegen die Interessen rivalisierender Prätendenten durchsetzen müsste. Es ist so, dass niemand in Europa die Führung übernehmen wird, wenn Deutschland es nicht tut. Aber so unfertig, wie Europa noch ist, hält es nicht lange. Mit andern Worten, wenn Deutschland vor seiner Führungsaufgabe kneift, zerfällt Europa.

Es ist eine nationale Aufgabe, und da muss man unsern Menschen auch schon mal was zumuten. Dem Wutbürger ist sowieso alles zuviel. In Dresden krakeelen sie schon auf der Straße um ihre ungestörte Ruhe auf der Datsche im stillen Winkel, wenn ihnen das einer nehmen will, werden sie rabiat. Das ist der DunkelDeutsche Rest, sie wünschen sich Deutschland warm und eng wie einen Kuhstall.

Ob sich die Sozialdemokraten wirklich nicht entscheiden können, auf welcher Seite sie mitmachen?

*) Magdeburgs sozialdemokratischer Oberbürgermeister Lutz ist heute wegen der parteioffiziellen Flüchtlingspolitik aus der SPD ausgetreten, und die eben erst bestallte Frau Wagenknecht pustet auch schon in dies Horn.

Donnerstag, 15. Oktober 2015



National.

dieter klössing

Heute lebt die dritte Generation von Deutschen, die das Wort 'national' aus schlechtem und allzu gewichtigen Grund nicht mehr aussprechen durften. 

Dies ist ein Epochenwechsel: Wir stehen jetzt vor einer nationalen Aufgabe, vor der wir uns nicht drücken können. Wer in Europa müsste sich noch aufgefordert fühlen, wenn wir kneifen wollten?

Die Frage, ob wir das schaffen, stellt sich doch gar nicht. Es bleibt uns ja nichts anderes übrig. Wenn wir uns in der Sache nicht bewähren, steht es uns gar nicht zu, in Europa oder sonstwo eine führende Rolle zu spielen.

Die Bremser und Bedenkenträger, so laut sie unken, sind antinationale Blindschleichen. Sie wollen Deutschland kleinhalten. 

8. Oktober 2015



Wessen Boot ist voll?

Géricault, Das Floß der Medusa

Unter der Überschrift Deutschlands moralische Selbstüberschätzung brachte die FAZ unlängst einen Beitrag des Histo-rikers Heinrich August Winkler zum Flüchtlingsthema.

Er ist für einen Historiker ungewöhnlich kleingeistig. Ein Journalist, der gelesen, ein Politiker, der gewählt werden will, kann und muss es sich wohl erlauben, das Ding zum Gegenstand deutscher Nabelschau zu machen. Da sagen die einen: Was wird das Ausland denken! Und andre sagen, wir müssen aufhören, immer daran zu denken, was das Ausland denkt.

Das ist doch nicht der Horizont des Historikers. Der Historiker muss die Anzeichen bemerkt haben, dass uns eine neue Epoche von Völkerwanderungen bevorsteht, und dann stellt sich das Problem ganz anders. Es ist keine Frage mehr, was wir Deutschen anders oder nicht anders machen sollen als die andern (Europäer), sondern die Frage ist, was Europa nicht anders zu tun übrigbleiben wird. Er könnte – das ist ja die erste und die ernsteste der Fragen – erörtern, ob die Zeichen vielleicht fehlgedeutet werden. 


Aber damit sollte er warten, bis die Fachleute sich festzulegen wagen; denn es wäre nicht mehr eine Sache von Gutmenschen, politisch Korrekten und Bigotten, und es wäre nicht mehr die Zeit, zu unterscheiden zwischen willkommenen Kriegs- und Tyranneiflüchtlingen und unwillkommenen Elendsflüchtlingen. Sondern man müsste erwägen, was Europa tun muss, um sich zu wappnen. Und wer ist am ehesten gefordert und auch am ehesten berechtigt, auf diese Erwägung zu drängen, als der, der nach menschlichem Ermessen selbst den größten Beitrag wird leisten müssen, weil er es kann?

Dann werden alle, die meinen, Europa müsse die Schotten dicht machen und alle Fremden, Gerechte wie Unge-rechte, ins Meer zurücktreiben, genau das sagen müssen, und nicht irgendeinen Brei. Dem wird die FAZ ihre Spal-ten 
dann aber hoffentlich nicht öffnen. Nicht weil es unkorrekt wäre, sondern schlichter unrealistischer Schwach-sinn ist: Das geht nicht. Wenn Europa das versuchte: Daran würde es zerbrechen. Zu Recht übrigens. 

3. Oktober 2015



Die neue Deutsche Frage.

  munzeo

aus nzz.ch, 28.9.2015, 06:00 Uhr

Europa auf dem Prüfstand 

Deutschlands Janusgesicht, 1989–2015

von Harold Holmes

Steht Europa ein Vierteljahrhundert nach dem Aufbruch von 1989 vor dem Kollaps? Der britische Historiker Harold James analysiert die Diskussion, in der die ambivalente Wahrnehmung Deutschlands eine prominente Rolle spielt. 

2015 ist eine bizarre Wiederholung von 1989. 1989 war ein Frühling der Völker, 2015 ist das Ende – der graue Herbst – der Illusionen jenes Frühlings. Im August 1989 lösten die über die ungarisch-österreichische Grenze strömenden Flüchtlinge aus Ostdeutschland eine scheinbar unaufhaltsame Dynamik aus, die zur friedlichen Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik, zum Fall des Eisernen Vorhangs, zum Ende der DDR und zum Zerfall der Sowjetunion führte. Im August und September 2015 unterminieren das Leid und die unaufhaltsame Dynamik der an die Grenzen Europas und insbesondere an die ungarisch-österreichische Grenze brandenden Flüchtlingsströme die Legitimität der EU. Könnten die Migrationsströme von 2015 die EU genauso zerstören, wie jene von 1989 das sowjetische System zerstörten?


Was ist Europa?


Die hitzige Flüchtlingsdebatte in Osteuropa dreht sich auch um das Erbe von 1989. Die damalige Revolution war eine klare Absage an die Diktatur des Kommunismus, aber sie war ambivalent im Blick auf das, was folgen sollte. Stärkte sie die nationale Vision eines wiederbelebten polnischen, tschechischen oder ungarischen Staats – oder stand sie vielmehr im Zeichen eines kollektiven europäischen Gedankens und einer grenzübergreifenden Identität? Diese Dichotomie ist aber nur Schein, denn faktisch gehen Europa und die Wiederbelebung des Nationalgedankens Hand in Hand. Der Irrtum, der jener alten Diskussion zugrunde lag, affiziert nun ganz Europa, vor allem, weil die Interpretation dessen, was Europa ist und bedeutet, sich zunehmend auf die Verhandlung der «deutschen Frage» fokussiert. 


Die Debatte über das Erbe von 1989 dreht sich ganz besonders um die Erfahrung Deutschlands. In kritischen Momenten der Wendezeit von 1989/90 versuchten führende deutsche Politiker, die Entwicklungen in ihrem Land in einen weiteren europäischen Rahmen einzupassen. Hans-Dietrich Genscher und andere wurden nicht müde, die Formulierung Thomas Manns zu zitieren, dass sie ein europäisches Deutschland anstrebten und nicht ein deutsches Europa. Aber sie machten kaum je deutlich, auf welche Art und Weise Deutschland europäischer werden sollte, und die Empfehlungen, die sie abgaben, waren letztlich sehr deutsch. Aber was ist überhaupt Europa? Und sind Politiker fähig, eine Vision auszuformulieren, die über den Nationalstaat hinausgeht? 


Früher sahen manche Europa als metaphysisches Konzept, in dem sich die Probleme der Vergangenheit auflösten und lösten: als Hort der Vergebung und des Heils. Charles de Gaulle dagegen betrachtete Europa im Zeichen eines französisch-deutschen Psychodramas: Er beschrieb die Beziehung der beiden Länder als endlose Geschichte von Verrat und Dekadenz. Das Szenario von Deutschlands Triumph und Frankreichs selbstverschuldeter Unterlegenheit, das de Gaulle 1940 beschwor, feiert derzeit in Europa wieder Urständ. Aber worin liegt die Beziehung zwischen jener grossen Vision von Europa und dem faktischen, aus Reformunfähigkeit und dem Eigennutz der Eliten resultierenden wirtschaftlichen Drama, das Europa in eine bittere Vergangenheit zurückzudrängen droht? 


Deutschlands wirtschaftliche Übermacht warf ihren Schlagschatten auf jede Debatte – schon lange vor 1989. Deutschland gerierte sich auch als Vorbild für Europa. 1976, als infolge der Ölkrise die Weltwirtschaft erstmals nach Kriegsende in Schockzustand verfallen war, sprach Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner Wahlkampagne vom «Modell Deutschland». Dieser exemplarische Charakter ist heute ausgeprägter denn je – er zeigt sich in Deutschlands Arbeitsmarktreform, den Beziehungen zwischen den Tarifpartnern, dem Ausbildungssystem für Lehrlinge, dem Augenmerk auf Währungsstabilität und Budgetdisziplin («Schuldenbremse» ist, wie «Angst», «Kindergarten» und «Schadenfreude», ein Begriff, der über die deutschen Sprachgrenzen hinaus Verbreitung gefunden hat). Die damit bewusst oder implizit vermittelte Botschaft heisst: Andere Europäer sollten deutscher werden – aber Deutschland wird immer noch definieren, was recht und billig ist. Und alle werden davon profitieren, aber die Deutschen mehr als die andern. 


Verschwörungstheorien 


So spitzt sich die Debatte auf die Frage zu, ob die Währungsunion faktisch eine Umsetzung deutscher – und nicht in erster Linie europäischer – Interessen war. 


Weil der Vertrag von Maastricht nach massiven geopolitischen Verwerfungen ausgehandelt wurde, steht sein Resultat im Licht zweier äusserst wirkungsmächtiger, aber völlig verkehrter theoretischer Sichtweisen. Diese dominieren die gegenwärtige Diskussion über das Wie und Warum beim Beschluss der Einheitswährung; sie befeuern politische Leidenschaften, ohne auch nur das Geringste zu einer Lösung beizutragen. Beide sind nachgerade obsessiv auf die Rolle Deutschlands bei der Durchsetzung der Währungsunion fixiert, und sie stehen einander spiegelbildlich gegenüber: Die eine zeigt Deutschland als durch und durch tugendhaft, die andere lässt es rein bösartig erscheinen. 


In der ersteren Variante ist die Währungsunion ein von hohem Geist getragenes europapolitisches Projekt, bei dem man über die ökonomischen Realitäten hinwegsah. Es war nötig, um den Teufelskreis der deutsch-französischen Kriege zu durchbrechen. 


Die zweite Variante dagegen portiert die Verschwörungstheorie eines verborgenen deutschen Masterplans: Da Deutschland eine niedrigere Lohninflation als Frankreich und eine wesentlich niedrigere als die Mittelmeerländer hatte, würde eine Einheitswährung mit fixem Kurs dem Land wachsende Importüberschüsse garantieren, für die andere den Preis bezahlen mussten. Im Auge der Kritiker verfolgte Deutschland eine merkantilistische Strategie, die dem Land dauerhafte Kontrolle über die Ressourcen sichern sollte und deren Resultat eine erneute Vormachtstellung Deutschlands in Europa sein würde. 


Dass die europäische Elite eine Art fallweises Krisenmanagement betreibt, lässt den Anschein entstehen, die grösseren Zusammenhänge würden bewusst aus dem Blick gerückt; das wiederum ruft den Verdacht hervor, dass die Krisen instrumentalisiert werden. 


Die heftigen Gefühle, die im Lauf der nicht enden wollenden europäischen Schuldenkrise aufkamen, schwappen nun über in andere Diskussionen.Deutschlands Reaktion auf die Flüchtlingskrise polarisiert, genauso wie zuvor die Schuldendebatte. Für Kritiker wie etwa den ungarischen Staatschef Viktor Orban hat Deutschland die Krise verschuldet: Seine wirtschaftliche Stärke und seine grosszügige Sozialpolitik entfalteten eine gewaltige Sogwirkung. Marine Le Pen ist der Ansicht, dass Deutschland moderne Arbeitssklaven importiert: Sie nannte Angela Merkel eine «Kaiserin», die dem restlichen Europa ihren Willen aufzwinge – zuvörderst dem glücklosen französischen Präsidenten. In anderen Augen – natürlich denen der syrischen Flüchtlinge, aber auch denjenigen einstiger Kritiker im In- und Ausland (sogar Yannis Varoufakis liess sich die Gelegenheit zu einer Stellungnahme nicht entgehen) – ist Angela Merkel eine Heldin, und ihr zorniger Bescheid an die CSU eine Art neuer Nationalhymne: «Dann ist das nicht mein Land.» 


Das neue Deutschland wird genauso hochgejubelt – und dämonisiert – wie einst das alte. Seit 1989 sieht sich Deutschland selbst als weltoffener und flexibler, aber auch vermehrt als moralische Instanz. Doch dieser Moralismus, diese deutsche Überheblichkeit, macht es nicht einfacher, Antworten auf globale Probleme zu finden. 


Keine gemeinsame Stimme 


Am einfachsten ist es, die Schuld jemand anderem – und zwar ausserhalb Europas – zuzuschieben. Und bis zu einem gewissen Grad ist das auch zulässig: ganz offensichtlich etwa bei Krisen, die ihren Ursprung anderswo haben, wie die amerikanische Hypothekenkrise, die politischen Ausfälle Putins, der Arabische Frühling und der Aufstand gegen Asad. Aber diese Erschütterungen und ihr politisches Fallout riefen in Europa unterschiedliche Reaktionen hervor, und die einzelnen Länder formulierten ihre Politik entlang ganz unterschiedlicher Linien. Die Euro-Krise kann als Konflikt zwischen den wirtschaftspolitischen Visionen Frankreichs und Deutschlands oder zwischen Europas Norden und Süden angesehen werden. Die baltischen Staaten und Polen fühlen sich von Russland in ihrer Sicherheit akut bedroht, Südosteuropa dagegen betrachtet einen möglichen Bruch mit Russland mit Sorge. Osteuropa und Grossbritannien gehen mit der Flüchtlingskrise völlig anders um als Deutschland oder Frankreich. 


Als das geeinte Europa im Zenit seines Selbstvertrauens stand, war eine seiner stolzesten Behauptungen, dass es einen stabilen Ankerpunkt für den Rest der Welt bieten würde. Mittlerweile aber wirkt das europäische Modell arg gezaust, und das hat auch negative Implikationen für die Stabilität in anderen kritischen Regionen, etwa in Ostasien oder dem Nahen Osten. Dazu kommen Probleme, die eindeutig hausgemacht sind: die Fehlkonzeptionen oder Strukturdefekte der Währungsunion, die Überalterung in vielen Teilen Europas, die Wachstumsschwäche. 


Im modernen Europa gibt es keine schlüssige Möglichkeit, die grundsätzlichen Interessen der Europäer zu artikulieren und in die Politik einzubringen. Doch wäre ein Mechanismus vonnöten, der es erlaubt, diese grösseren Zusammenhänge zu erfassen – eine Art Zoom, der sich von der Fixierung aufs Nationale losreisst und stattdessen Europa als Ganzes ins Bild rückt. Aber wie vermittelt man den Europäern dieses grössere Bild, wie bringt man sie dazu, die Welt nicht mehr primär im Licht nationaler Interessen und eines nationalen Egoismus zu sehen? 


In Deutschland wurde die sich wandelnde Dynamik zumindest auf Verfassungsebene wahrgenommen. Nach der Wende von 1990 wurde Artikel 23 des Grundgesetzes, in dem die Wiedervereinigung mit den ostdeutschen Bundesländern präfiguriert war, in einer Weise modifiziert, die Deutschland auf die Mitwirkung bei Aufbau und Entwicklung der Europäischen Union verpflichtet. Mächtige und respektierte Institutionen wie das deutsche Verfassungsgericht und die Bundesbank anerkennen diesen Passus als Einschränkung ihrer Deutungshoheit; sie sind nicht gewillt, um der problematischen nationalen Tradition willen eine europäische Krise zu riskieren. 


Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und die derzeitige Katastrophe im humanitären Bereich setzen Europa einer harten Belastungsprobe aus. 1989 war ein unvorhersehbarer Schock gewesen; 2015 wissen wir, dass mit zahlreichen weiteren Schocks zu rechnen ist. 1989 lehrte uns, dass der Nationalstaat eine Art psychischer Rückversicherung in unruhigen Zeiten sein kann; 2015 realisieren wir, dass ein weit grösseres Versicherungssystem vonnöten ist. Wie jede Versicherung muss es mit Bedacht aufgebaut und gegen Missbrauch geschützt werden. Aber ohne einen solchen Schutzmechanismus dürfte auch der psychologische Rückhalt, den ein Nationalstaat schaffen kann, nicht mehr genügend tragfähig sein. 


Harold James lehrt Geschichte an der Princeton University. Deutschland und europäische Wirtschaftsgeschichte sind Schwerpunkte seiner Studien. – Aus dem Englischen von as. 



Nota. -Dass Deutschland doch wieder ein politischer und nicht bloß ein geographischer Begriff geworden ist, ist erst anderthalb Jahrhunderte her. Und weil es so spät kam, als andere den Kuchen schon aufgeteilt hatten, konnte es nur ein problematischer Begriff werden, denn es kam als Störenfried. Man muss ja nur auf die Landkarte schauen: Wenn Deutschland sich stabilisiert, ist es das Kernland dieses Kontinents. Und jetzt hat sich Deutschland stabilisiert.


Soll Deutschland in Europa führend sein? Historisch hieß die Frage so: Deutschland oder Frankreich; oder England; oder Russland... Ausgangspunkt war die Rivalität mehrer Prätendenten. Das ist aber vorüber. Wenn Deutschland in Europa nicht führend ist, wer dann? Eben: keiner. Es ist nicht so, dass mehrere mögliche Wege offenstehen: Die einen wollen hierlang, die andern wollen dalang, mehrere Führungen streiten um den Vortritt, da muss man sich konsensuell auf was verständigen...; sondern es geht entweder voran, und sei's auch nur Schritt für Schritt, oder es stagniert und zerbröselt. Das war in der Schuldenfrage so, das ist mit den Flüchtlingen nicht anders. Die Gefahr ist nicht, dass Deutschland führt, sondern dass es kneift. Man kann nur hoffen, dass Merkel und ihr Finanzminister in der Flüchtlingsfrage mindestens so standhaft bleiben wie bei den Schulden. Das ist die neue Deutsche Frage.


JE, Mittwoch, 30. September 2015




Völkerwanderung?


Das Völkerrecht ist im 17. Jahrhundert entstanden, aus gegebenem Anlass: Der 30jährige Krieg hatte Mitteleuropa verwüstet und die Staaten des Kontinents tief erschüttert. Seine Pfeiler sind darum Unverletz-lichkeit der Grenzen und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. 


Zu einer Völkerwanderung war es damals aber nicht gekommen, dazu hatten zu wenige überlebt. Wenn es nun aber stimmt, dass uns eine Zeit der Völkerwanderung bevorsteht, dann sind, wie in diesen Tagen, die Grenzen, und seien es die Außengrenzen Europa, eben nicht unverletzlich, und die heilige Kuh Nichteinmischung muss vom Eis: Der militärische Eingriff im Irak war richtig, und ein rechtzeitiger Eingriff in Syrien wäre richtig gewesen. –  Oh, das wird ein Geschrei geben um das Völkerrecht! Aber erst hinterher, wenn sich nicht mehr übersehen lässt, dass es sich um eine Völkerwanderung gehandelt haben wird. Heute lesen wir noch, die Migratiosnsströme hätten aus globaler Sicht gar nicht zugenommen. (1618 wusste man in Prag und Wien auch noch nicht, dass der Westfälische Frieden erst 1648 geschlossen werden würde.)


21. September 2015





Das neue Deutschland

aus Tagesspiegel.de, 13. 9. 2015, 15.19 Uhr

Macht der Moral
 

Von Herfried Münkler

Spricht man in diesen Tagen mit Vertretern der ausländischen Presse in Berlin, dann ist vor allem von dem widersprüchlichen und verwirrenden Bild die Rede, das Deutschland in ihrer Sicht während der letzten Monate geboten habe.

Auf der einen Seite ist da das strenge, ja geradezu hartherzige Deutschland bei den Verhandlungen über ein weiteres Rettungspaket für Griechenland und auf der anderen Seite ein Deutschland, das als einziges EU-Land auf die katastrophale Situation der Flüchtlinge in Ungarn und Mazedonien reagiert und sie in einem Akt buchstäblich grenzenloser Großherzigkeit ins Land gelassen hat. 

Diese Verwunderung ist nicht aufs Regierungshandeln beschränkt: einerseits eine Gesellschaft, in der die Redewendung von den „faulen Griechen“, die jetzt „den Gürtel enger schnallen müssen“, durchaus mit beifälliger Zustimmung quittiert worden ist, und andererseits eine Gesellschaft, die Flüchtlinge empfängt, als handele es sich um eine nationale Sportequipe, die gerade einen großen Titel errungen hat. Man werde, so die ausländischen Journalisten, aus Deutschland nicht schlau. 

Die Verwirrung über Deutschland ist vor allem eine Krise der Klischees. 

Selbstverständlich sagt dieses Erstaunen auch etwas über die Beobachter und nicht nur über Deutschland aus, denn gerade bei der Griechenlandrettung hat sich die Bundesregierung durchaus solidarisch gezeigt. Im Unterschied zu Frankreich und Italien wäre sie vom Zusammenbruch der griechischen Banken nur am Rande getroffen worden. Viel weniger als die französische und die italienische gründete sich die deutsche Solidarität auf eigene Interessen. Deswegen konnte sie auch den Grexit ins Spiel bringen. 

Aber deswegen handelte es sich auch sehr viel mehr um Solidarität als um ökonomisches Kalkül. Und ansonsten hat die Bundesrepublik schon das gesamte Jahr über mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle anderen europäischen Länder zusammen. Die Kontrastbeschreibung Deutschlands, die als so verwirrend und widersprüchlich bezeichnet wird, zeigt vor allem die Klischees, die im Deutschlandbild der Nachbarn immer noch virulent sind. Die Verwirrung über Deutschland ist vor allem eine Krise der Klischees. 

Und doch ging es den Menschen, die in München, Frankfurt und Dortmund zu den Bahnhöfen eilten, um die ankommenden Flüchtlinge willkommen zu heißen, nicht wesentlich darum, das Deutschlandbild des Auslands zurechtzurücken. Vielmehr waren sie Akteure in einem innerdeutschen Kampf um das dominante Bild des Landes. Nicht brennende Asylbewerberheime, sondern Willkommensplakate, nicht Pegida-Demonstranten, sondern aufgeschlossene und weltoffene Menschen sollten für Deutschland stehen – und das haben die Begrüßungsdemonstranten tatsächlich geschafft. 

Wenn ein englischer Wissenschaftler danach von einer Hippiekultur in Deutschland sprach, dann hat er von den politischen Kämpfen, die hier um die Deutungshegemonie ausgefochten werden, nichts begriffen. Es ging jetzt vor allem darum, dem rechtsterroristischen Untergrund, der gezielt und systematisch Asylantenheime in Brand gesteckt hatte, nicht die Macht der Bilder zu überlassen. Gegen die menschenverachtenden Zeichen der Abweisung haben sie die Symbole des Willkommens gesetzt. Ihnen dürfte durchaus klar gewesen sein, dass mit einem freundlichen Empfang die Integration der Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft noch lange nicht erfolgt ist. Die „Mühen der Ebene“, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, stehen den Deutschen noch bevor, und die werden langwierig und mit Enttäuschungen gespickt sein: Enttäuschungen für die Ankömmlinge, denen Deutschland wie das Gelobte Land vorgekommen sein mag, aber auch Enttäuschungen für die Aufnahmegesellschaft, weil sich die Flüchtlinge keineswegs so umstandslos anpassen und integrieren werden, wie sich das mancher vorgestellt haben dürfte. 

Die Bundesregierung hat beim Flüchtlingsproblem einen Führungsanspruch bekommen, den sie gar nicht angestrebt hat 

Die Bilder des Willkommens werden dann als Zeichen der Schadenfreude gegen Deutschland gewandt werden. Alle, die jetzt durch diese Bilder beschämt worden sind, werden sich dann obenauf fühlen und ihre jetzige Beschämung mit Häme zurückzahlen. Insofern ist Deutschland auch eine Selbstverpflichtung eingegangen: die, sein Bestes zu geben, um die Integration der Flüchtlinge hinzubekommen. 

Dies hat Deutschland auch politisch verwundbar gemacht. Repräsentiert durch die Bahnhofsdemonstranten, hat das Land ein Versprechen abgelegt, das kaum einzuhalten sein dürfte. Das hat bei manchem zu einer skeptischen Distanz gegenüber den Euphorikern geführt, und vermutlich hatte das auch besagter Engländer im Sinn, als er von der Hippiekultur in Deutschland sprach: Aus einer kaum zu meisternden Herausforderung wird ein Freudentanz gemacht; wo ernste Sorgen durchaus angebracht sind, wird leichtsinnige Freude inszeniert. 

Ob diese Begrüßung ein erster Schritt bei der Traumatabearbeitung der Angekommenen sein könnte, mag dahingestellt bleiben. Sie verschafft freilich der deutschen Regierung politische Spielräume, die sie vorher nicht gehabt hat: zum einen gegenüber den anderen Regierungen der EU, sich doch noch in Richtung verbindlicher Aufnahmeregeln zu bewegen. Zum anderen im Hinblick auf die Flüchtlinge aus dem Westbalkan, die jetzt in großer Zahl und beschleunigtem Tempo wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können. 

Die Demonstranten haben der Regierung einen riesigen Kredit verschafft 

Das haben die Willkommensdemonstranten vermutlich nicht beabsichtigt, aber es gehört auch zu den Folgen dieser Szenen: dass die Bundesregierung bei der Bearbeitung des Flüchtlingsproblems einen Führungsanspruch bekommen hat, den sie eigentlich gar nicht angestrebt hat. Die Demonstranten haben der Regierung einen riesigen Kredit verschafft, aber das verpflichtet die Regierung auch dazu, mit diesem Kredit zu wirtschaften. Man wird es ihr verübeln, wenn sie ihn verspielt. 

Der Ansehensgewinn Deutschlands hat nämlich noch einen weiteren Einflussgewinn der Bundesregierung in Europa zur Folge. Dazu hat die Kanzlerin mit der Entscheidung, das Registrierungsverfahren nach dem Dublin-Abkommen auszusetzen und die Flüchtlinge ohne weitere Formalitäten einreisen zu lassen, entscheidend beigetragen. Die säuerlichen Reaktionen einiger europäischer Regierungen darauf zeigt, dass ihnen die Folgen dessen für die Verteilung der politischen Gewichte in Europa schnell klar geworden sind. 

Das wirtschaftlich und fiskalisch ohnehin übermächtige Deutschland ist damit auch zur europäischen Vormacht in humanitären Fragen geworden, und das heißt, dass sie zum einflussreichsten Interpreten der europäischen Werte geworden ist. Das war die politische Schwachstelle der deutschen Politik, wie sich das während der Griechenlandkrise gezeigt hat. Die Bundesrepublik hatte zwar große ökonomische Macht, aber kaum moralischen Kredit. Den hat sie jetzt. 

Freilich muss die Führungsrolle in der EU, die Deutschland nach der Ukraine- und der Griechenlandkrise nun auch in der Flüchtlingskrise zugefallen ist, auch ausgefüllt werden. Die Reaktion vom letzten Wochenende, bei der Deutschland das Problem zeitweilig löst, indem es dessen Hauptlast selbst übernimmt, lässt sich nicht beliebig wiederholen und ist nur als Notmaßnahme in einer besonderen Notsituation anzusehen. Und auch eine Quotenregelung innerhalb der EU kann nur ein Zwischenschritt sein, wenn, womit zu rechnen ist, die Migrationsbewegung aus dem Nahen Osten und Afrika weiter anhält. Die Euphorie wird sich bei der Arbeit an diesen Problemen ebenfalls schon bald als ein bloßer Zwischenschritt erweisen – allerdings als ein wichtiger, der die Lage grundlegend verändert hat. 


Nota. - Stelln Sie sich das bloß mal vor: Sie könnten eines Tages sagen, ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, und es ist so harmlos, als würde  - sagen wir: ein Uruguayer so reden!
JE










Auf deutschem Sonderweg.

Wallenstein, nach van Dyck

Eigentlich hätte der Gegensatz zwischen Kaiser und Papst ein Hebel zur Ausbildung einer deutschen Nation sein müssen; wenn es nämlich nur um den Investiturstreit gegangen wäre. Es ging aber viel mehr um die Präsenz des Reichs in Italien, um derentwillen jeder Reichsfürst, der sich gegen den Kaiser stellte, auf einen mächtigen ultramontanen Verbündeten zählen konnte. 

Auf die Spitze getrieben wurde die Sache durch die Reformation, die den habsburgischen Kaiser zum Anführer der katholischen Partei und Gefolgsmann des Papstes machte. Der förderte die faktische Erblichkeit der Kaiserwürde, die aber nicht dem Reich, sondern Österreich zugute kam. Der Kaiser selbst wurde zum Ersten Reichsfeind.


Der Schlusspunkt war der Dreißigjährige Krieg. Die Protestanten holten den Schwedenkönig ins Land, und Habsburg konnte an einem deutschen Cromwell in Gestalt des Militärdiktators Wallenstein kein Interesse haben, so katholisch er sein mochte. Er wurde beseitigt. Im Ergebnis war Deutschland "nur noch ein geographischer Begriff".

Dienstag, 24. März 2015




Ein Heiliges Römisches Reich deutscher Nation

À propos. Varoufakis hat einen Vorschlag fürs europäische Selbstbewusstsein, denn wir haben eine große Vergangenheit; er empfiehlt uns ein Zurück zu den Ursprüngen, zum Heiligen Römischen Reich, dem man auch erst nach einem halben Jahrtausend den Beinamen deutscher Nation zu geben wagte. Ein Europa unter deutscher Hegemonie. Es ist weiland ganz gut damit gefahren. Nur für Deutschland war es eine Katastrophe; aber dann für Europa erst recht.

23. 3. 2015



Varoufakis hat für Deutschland einen Plan.

...Wer [in der eben neu gewählten griechischen Regierung unter Alexis Tsipras]  den Ton angibt, weiß man noch nicht. Varoufakis macht gar keinen schlechten Eindruck, und dass er das Spiel mit der öffentlichen Meinung beherrscht, gibt höchstens Anlass zur Hoffnung. Aber er gehört dem Parteienbündnis von Tsipras nicht einmal an, man weiß nicht, wen er außer sich noch vertritt. Er jedenfalls meint nicht, dass Deutschland in Europa eine zu große Rolle spielt, sondern im Gegenteil, dass Deutschland zu ängstlich ist, in Europa den Platz einzunehmen, der ihm durch die bloßen Fakten zukommt. Deutschland beschränke sich auf die Rolle eines kleinlichen Kontrolleurs, des Zuchtmeisters, der immer nur nein zu sagen weiß, wenn ein Risiko auftaucht. Stattdessen müsse es die Zügel in die Hand nehmen und dem ganzen Tross zeigen, wo es lang gehen soll. Und er fügt ganz klug hinzu: Die deutschen Steuerzahler haben bislang schon viel zu viel berappt, aber alles in ein Fass ohne Boden. Wenn die Deutschen einen Plan hätten für Europa, dann bräuchte es viel weniger Steuergelder, aber die wären besser angelegt.

Und hier ist die Stelle, wo es allerdings politisch wird, und wirklich heikel: In Europa gäbe es viel zu viel Geld, das auf irgendwelchen Konten nutzlos herum liegt (und zur Zeit nicht einmal Zinsen trägt); das müsse energisch in Länder wie Griechenland gelenkt werden, wo Millionen Menschen nur darauf warteten, es verwerten zu dürfen.

Der Haken ist nur: Wenn es 'dem Geld selber' aber nicht lukrativ erscheint, dorthin zu gehen...? Denn das tut es ja einstweilen nicht. Soll ihm dann 'die Politik' auf die Sprünge helfen? Europa als ein sozialdemokratischer Superstaat, in dem Deutschland die Hegemonie - so nennt es Varoufakis ausdrücklich - ausübt? Da läuft es uns Deutschen nicht einmal als Steuerzahler, sondern als Staatsbürger kalt - ach nein, eigentlich: ganz lau über den Rücken.

4. 2. 2015






Muss Deutschland führen?

 
aus nzz.ch, 17.1.2015, 09:00 Uhr                                                                                Spitzweg, Sonntagsspaziergang

Deutschland darf wieder führen
Biedermeierseele und Aufklärungspatriotismus
Deutschland ist zum Symbol und Schrittmacher europäischer Zivilisation geworden. Gedrückt von historischer Last, wagt es Selbstbewusstsein nur zaghaft. Die Verteidigung der Aufklärung gibt ihm die Chance, Europa verantwortungsbewusst zu inspirieren. 

von Ulrich Schmid, Berlin

Der sinnfälligste, der deutscheste Moment der letzten Jahre? Keine der Pegida-Demonstrationen. Der Verdruss und die Angst, die sich hier manifestieren, sind europäische Phänomene, nicht spezifisch deutsche. Nein, die Auszeichnung geht an die Demonstration der Schuhwerfer vor dem Schloss Bellevue vor ziemlich genau zwei Jahren. Ein paar Dutzend gut gekleidete Bürger, meist ältere Semester, die ihr poliertes, in Plastictüten mitgebrachtes Schuhwerk in die Höhe reckten im Bemühen, möglichst südländisch, möglichst «authentisch» zu wirken. Sie wirkten nur saturiert, manierlich und überaus biedermeierlich deutsch, und in den kommenden Monaten sollte ihre «Wut» auf den damaligen Präsidenten Wulff und dessen ungeheuerliche Verfehlungen langsam, aber sicher verebben im Zuge der Erkenntnis, dass der mediokre Mann an der Spitze des Staates entgegen allen Beteuerungen der Medien eben doch kein Kapitalverbrecher war. Als Wulff ging, war er schon vergessen. 

Döner – ohne Beilage 

Der Biedermeier vergisst schnell, das ist vielleicht sein menschlichster Zug. Sein Kleingeist kam den literarischen Schöpfern des fiktiven Gottlieb Biedermeier, dem Juristen Ludwig Eichrodt und dem Arzt Adolf Kussmaul, schon viel verdächtiger vor. Auch dem Biedermeier, der in den letzten Jahren in Deutschland wieder erwacht ist, gebührt Argwohn. Weltabgewandtheit, die Sehnsucht nach Heimat und Überschaubarkeit, die spitzwegartige Ausblendung der ach so garstigen Realität, der Rückzug in eine liebliche, oft mythisch, oft nationalistisch überhöhte Idylle: Der Biedermeier nimmt die Komplexität der Welt nicht wahr, und das ist, leider, nicht nur sein Problem. Man sieht den Teil und entrüstet sich, dem Ganzen verweigert man sich. Die Grundlagen des Wohlstandes sind so selbstverständlich geworden, dass sie nicht mehr mitgedacht werden. Man will reich sein und vom Welthandel profitieren, aber man hasst die Globalisierung. Man will den Döner, aber nicht den Türken. Man will «Freiheit», aber man verachtet Wettbewerb und Markt. Man behauptet, man sei gegen den spähenden «Big Brother» Staat, dabei liebt man ihn heiss, zumindest solange er in Gestalt des Steuerfahnders in Erscheinung tritt. Die Grünen auf Bundesebene wünschen, dass der erneuerbare Strom aus dem Norden in den Süden gebracht werde – aber vor Ort protestieren Grüne gegen jeden einzelnen Strommast.

Dauerhaft abgelenkt und empört, neigt der Biedermeier dazu, jede Politik, die nicht mit der Produktion des Paradieses beschäftigt ist, als unbrauchbar zu qualifizieren. Er liebt die Verdammung, und die Medien servieren ihm das Gewünschte, liebevoll zugespitzt und überhöht. Doch mit einem vernichtenden finalen Paukenschlag kann sich der Korrespondent dem Biedermeier zuliebe von Deutschland nicht verabschieden. Ja, wenn es um Frankreich oder Russland ginge! In Paris ein Phrasen dreschender Präsident, der reale Politik kaum mehr zu gestalten vermag, in Moskau ein törichter, aufgeblasener Neoimperialist mit mächtiger Liebe zur untergegangenen Sowjetunion. In Berlin dagegen herrscht die kluge, nüchterne Kanzlerin Merkel, die Pomp ebenso verabscheut wie das Anmassende. Sie hat zwar keine Visionen. Scharfsichtig ist sie dennoch. 

Deutschland gedeiht. Die Wirtschaft gedeiht. Man ist reich, man ist Exportweltmeister oder dann doch ganz an der Spitze. Die Tarifpartner reden, man schiesst nicht, man streikt, und dann einigt man sich. Die Institutionen funktionieren, Korruption ist rar. Deutschland ist bussfertig geblieben, welches andere Land baute seinen einstigen Opfern Denkmäler? Als Oppositioneller, als Hedonist, als Lesbe, Schwuler, Transsexueller, als Gottloser oder Querdenker lebt es sich ganz gut hier. 

Russische Politiker, erschreckt vom Bild der Conchita Wurst, die ihnen zum Symbol westlicher Dekadenz geworden ist, haben das Ende Europas ausgerufen. Deutschland lächelt und begrüsst die Vielfalt. Der Mittelstand überlebt, trotz einem extrem hungrigen Staat, das Zusammenleben ist gut organisiert. Es gibt eine schöne Grundsolidarität in der Gesellschaft, nichts beweist es besser als die kaum je erwähnte und doch so unerhört eindrückliche Bereitschaft von Millionen Bürgern, ehrenamtlich Gutes zu tun. 

Liberaler Suizid 

Das Land ist gut, seine Regenten sind es nicht so ganz. Die letzten sieben Jahre waren ein einziger kontinuierlicher Abstieg. Der breite gesellschaftliche Konsens hat nach den mühsamen christlich-liberalen Jahren endlich seine parlamentarische Entsprechung gefunden. Das Resultat ist ein strukturell und ideell verödeter Bundestag, der fast nur noch aus einem breiten, sozialdemokratischen Mittelfeld besteht. Das liberale Element ist endgültig exorziert, der Kult des Staates und der Umverteilung mit ganz grosser Kelle kann fortan ungestört betrieben werden. So mancher Feuilletonist jubelte, als es so weit war: Endlich ein Parlament ohne FDP, endlich ein Parlament, das intellektuell verarmt! Helle, sprudelnde Freude an der Einfalt: Biedermeier pur, auch hier. Merkel ist zur Leiterin einer blassrosa sozialdemokratischen GmbH avanciert, die sich die Gunst der Massen durch permanente Abgabe von immer neuen Geschenken sichert. Sozialreformerische Ambitionen sind passé. Der Letzte, der solches schaffte, war Gerd Schröder mit seiner Agenda 2010, ironischerweise ein Sozialdemokrat. 

Die Liberalen hätten sich retten können, und das hätte nicht nur ihnen, sondern dem Land gutgetan. Wären sie damals Frank Schäffler gefolgt, hätten sie sich mutig gegen ein Europa gestemmt, das Schulden, Haftung und Verantwortung vergemeinschaftet, und hätten sie für dieses urliberale Aufbegehren zur Not auch den Bruch mit der Union gewagt, sie sässen heute noch im Bundestag. In der Opposition zwar, aber stark, erkennbar, attraktiv und mit einem Echo in den Medien. Die Alternative für Deutschland (AfD) dagegen hätte es sehr viel schwerer gehabt. Das Thema der liberal inspirierten Euro-Kritik wäre besetzt gewesen, die Alternative für Deutschland hätte sich genötigt gesehen, von allem Anfang an den garstigen, ressentimentgeladenen Rechtspopulismus zu pflegen, mit dem sie jetzt gross zu werden hofft. 

Und Rechtspopulismus heisst die Gefahr, die Deutschland jetzt bedroht. Der islamistische Terror ist ernst zu nehmen, natürlich, doch siegen wird er ebenso wenig wie einst der linke Terror, falls die Politik kühlen Kopf bewahrt. Rechtes Gedankengut aber gedeiht auf heimischem Boden, und leider gedeiht es gut. Der breite Konsens beginnt zu bröckeln. Ein neues «Die da oben, wir da unten»-Denken hat sich etabliert. Ganz Linke und ganz Rechte entdecken, wieder einmal, ihre reaktionären Gemeinsamkeiten, an erster Stelle, dass Amerikaner und Juden an vielem schuld sind, eigentlich an allem. 

Autoritarismus erscheint attraktiver als demokratischer Streit. Die Partei, die vom verbreiteten Unbehagen am meisten profitieren wird, ist die AfD. Die Vorstellung, man werde ihren Aufstieg mit einigen Aktionen zur «Einbindung» der Grollenden verhindern können, ist töricht. Deutschland, bisher neben der Ukraine das einzige grosse europäische Land, das ohne starke rechtspopulistische Bewegung ausgekommen ist, wird spätestens 2017 mit den übrigen Grossen Europas – mit Frankreich, Italien und Grossbritannien – gleichziehen. 

Ab dann geht es hart auf hart. Das reaktionäre Rollback, das den Kontinent seit einigen Jahren heimsucht, geht einher mit einer bedenklichen Abwendung von europäischen Grundwerten. In der Levante erstarkt der Islamismus, parallel dazu gedeihen in ganz Europa die Rechtspopulisten. Marine Le Pen will mit Putin die «christliche Zivilisation» retten, nicht die Demokratie. Und welche Rolle Humanisten, frechen Karikaturisten und generell aufmüpfigen Geistern in einem von Putin und Le Pen «geretteten» Europa zugedacht ist, kann man sich ausmalen. Die Pariser Anschläge haben den letzten Beweis geliefert: Denen, die am lautesten zum Widerstand gegen die Barbarei des Islamischen Staats aufrufen, liegt nicht etwa die Aufklärung am Herzen, sondern im Gegenteil deren Liquidierung. Weg mit den Menschenrechten, her mit der Todesstrafe. Im Kampf gegen die Terrororganisation «Islamischer Staat» sieht die Rechte die einmalige Chance, auch gleich die verhassten Errungenschaften der aufgeklärten Moderne endgültig loszuwerden. 

Vorbild, nicht Vorreiter 

Neue Kreuzzüge aber wären eine Katastrophe. Nirgendwo wird das besser verstanden als in Deutschland, und deshalb kommt Deutschland im Kampf gegen den reaktionären Trend in Europa eine zentrale Rolle zu. Deutschland ist eine Grossmacht. Kein Land vertritt die Grundpostulate der Rechtsstaatlichkeit glaubwürdiger. In Russland werden Kritiker des Präsidenten in Sippenhaft genommen – in Deutschland wird ein Präsident vor Gericht geschleift, weil er in Verdacht geraten ist, einem Freund einen Freundschaftsdienst zu viel erwiesen zu haben. Das internationale Vertrauen ist seit Merkels Amtsantritt noch angewachsen, die bewegenden Tage der Wiedervereinigung sind ein wunderbarer Gründungsmythos für ein Land, das in mühseliger politischer Alltagsarbeit stets aufs Neue beweist, dass die Ideale der Aufklärung lebbar sind. Macht korrumpiert auch in Deutschland, sicher. Aber der Wille, Missbrauch einzudämmen, ist grösser als anderswo. 

Die Trommel rühren für ideelle Werte – wäre Berlin damit nicht überlastet? Deutsches Werben für hehre Ziele löst ja nicht immer Entzücken aus; Merkels Sparappelle sind in Südeuropa verhasst. Zu versuchen ist es dennoch. Sicher, Deutschland misstraut allem, was nach Sendungsbewusstsein aussieht. Seit dem Krieg sträubt man sich gegen die Vorreiterrolle, in Brüssel tritt man noch immer zurückhaltend auf. Jahrzehntelang hatte sich der Deutsche mit Sternbergers und Habermas' «Verfassungspatriotismus» zu begnügen. So etwas wie Vaterlandsliebe versagte sich die Elite nach den Erfahrungen des Krieges, und sie untersagte es – sehr hoheitsvoll – auch dem Volk, das darüber nicht immer glücklich war. 

Berlin kann vorangehen 

Nun wäre es an der Zeit für einen Aufklärungspatriotismus. Er ist unverdächtig, da ureuropäisch – Voltaire, Diderot, Rousseau, Hume – und gleichsam genetisch unaggressiv. Religionstoleranz und Respekt vor individuellen Lebensentwürfen sind Gebote der Aufklärung, nicht des Christentums. Europa braucht nach all seinen Pannen und Missgriffen dringend Inspiration: Hier ist sie. «Zu abstrakt» ist an der aufklärerischen Ideenwelt gar nichts – Begriffe wie strikter Säkularismus, Religionstoleranz und juristische Neutralität beginnen im Ansturm von Religionsfanatikern ebenso hell zu leuchten wie in den Shitstorms engstirniger Nationalisten und Rassisten. Keinem Land würden Kosten auferlegt, keines käme zu kurz. Und Deutschland, so oft aufgefordert, in Europa wieder zu «führen», hätte endlich Gelegenheit, ohne schlechtes Gewissen Begeisterung zu zeigen und internationalen Schwung aufzubauen. Ein Europa als intellektueller Erlebnisraum jenseits von Euro-Zone und Transitverkehr: Um den Ansturm der dumpfen Allianz rechter und linker Demokratieverächter, von Putin bis Le Pen, aufzuhalten, darf Deutschland in Europa ruhig wieder vorangehen.






Der deutsche Sonderweg.

Krone des heiligen Römischen Reichs

Die Süddeutsche brachte zu Silvester eine launige Glosse zu der Meldung, dass Deutschland von internationalen Meinungsforschern erneut als das beliebteste Land der Welt ermittelt wurde.

Dazu habe ich einen Kommentar geschrieben, den Sie womöglich übersehen haben. Darum hier nochmal, zugleich als Kommentar zum gestrigen Eintrag:


Der deutsche Sonderweg begann im neunten Jahrhundert, als die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reichs an den deutschen König fiel, weil sein französischer Kollege nur noch über einen Schrebergarten rund um Paris herrschte.


Machen wirs kurz: Der Papst in Rom (und dann erst in Avignon!) hatte den deutschen König zum Gegner, nicht die andern europäischen Fürsten, ihn verwickelte er in Norditalien in endlose Scherereien, ihn hinderte er am Aufbau eines nationalen Staats.

Mit der Reformation wurde dann der deutsche König - inzwischen ein Habsburger Dynast - zum ultramontanen Stipendiaten, während die deutschnationale Karte in die Hände der protestantischen Reichsfürsten fiel. Und mit dem Dreißigjährigen Krieg war mit einem deutschen Staat Schluss.

Ohne Rivalität mit der (noch) einig einzigen Kirche, ohne deutsch-römische Königs- und Kaiserkrone konnte in Mitteleuropa ein Nationalstaat entstehen, der sich gegen Richelieu und gegen den Sonnenkönig hätte aufrichtenkönnen, hätte England keine Gelegenheit gefunden, zum Schiedsrichter und Garanten des "europäischen Gleichgewichts" aufzusteigen, und wäre Großbritannien womöglich nie zum Herren der Meere und der Welt geworden.

Oder das alles doch, aber unter ganz anderen Umständen und zu ganz anderer Zeit...

Ganz unwahrscheinlich ist aber, dass unter diesen anderen Umständen ein deutscher Nationalstaat am Anfang des zwanzigsten Jahrhundert sich in der Lage eines Zuspätgekommenen befunden hätte, der um seinen Platz an der Sonne gegen alle andern Krieg führen musste.

Der erste Weltkrieg ist an der Erschöpfung aller beteiligten Parteien zu Ende gegangen. Nein, zu Ende eben nicht, nach einer Verschnaufpause musste Deutschland einen zweiten Anlauf nehmen, wenn ihm die Weltrevolution nicht zuvor kam. Sie kam es nicht, und beim zweiten Mal war Deutschland wirklich am Ende. Am Ende? Mitnichten. Die Westmächte brauchten es dringend, um ihren Bestand gegen Stalins Russland zu wahren, und so stieg Deutschland auf wie Phönix aus der Asche. Das Deutsche Jahrhundert ist so zu seinem Abschluss gekommen.

Wenn es nicht pompös klänge, möchte man sagen, ein tausendjähriger Zyklus sei abgeschlossen, und Deutschland steht in seiner teuer erkauften Bescheidenheit größer da, als es sich in seinen wahnsinnigsten Momenten hat träumen lassen. Wenn das mal gutgeht! Wenn wir jemand anders als Mutti Merkel an der Spitze hätten, müsste uns mulmig werden.

10. Januar 2015





Ein deutscher Held.

Süddeutsche.de


Wenn er sich eines Tages aus dem politischen Geschäft zurückzieht - vorher müsste er es ablehnen -, sollte man ihm das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse mit Eichenlaub und Schwertern verleihen. Kein anderer hat sich um die Wiedervereinigung der Deutschen nach vierzig Jahren Trennung so verdient gemacht wie Gregor Gysi. Jetzt haben die Restbeständigen der gewesenen DDR einen Westler zu ihrem ersten Ministerpräsidenten im Osten gewählt, und er glaubt sogar an GOtt .

Hätte man nach 1945 jeden, der mit dem vorangegangenen Regime kompromittiert war, von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, hätte man gar keinen Staat machen können. Im Osten haben sie das Problem damals operativ geregelt, im Westen haben Globke und Oberländer immerhin Skandal gemacht. Im Westen haben sie 1968 mit der Generation der Väter abgerechnet, so gut das eben ging, im Osten haben sie in diesem Jahr die Tschechoslowakei besetzt. Da war die Spaltung Deutschlands komplett.


Wer es zu etwas bringen wollte im Leben, musste in der Partei sein. Wem mehr an seiner Selbstachtung lag, der hielt sich überall raus, aber Verantwortung konnte er nicht tragen. Die Grenze zwischen anständig und unanständig kann man so nicht ziehen. Man kann nicht ein ganzes Volk austauschen, weil es mitgemacht hat: Die, die nicht mitmachen, werden immer und überall nur eine kleine Minderheit sein.


Aber dann gibt es noch einen großen Unterschied. Die DDR hat unglücklicherweise so lange gedauert, dass eine ganze Generation heranwachsen konnte, die sie für den Normalzustand halten musste. Frau Merkel war auch in der FDJ, ja wie denn anders? Man muss mit den Leuten weitermachen, die man eben hat. In Thüringen haben sie sicherheitshalber einen aus dem Westen genommen. Der Gysi ist ein deutscher Nationalheld, aber sagt ihm das nicht, solange er noch tätig ist! 





9. November 2014
Fünfundzwanzig Jahre.


Es ist ein Gedenktag heute, nicht wahr?

Ich entsinne mich: Ich werde wohl einer der letzten gewesen sein. Dass die Zweiteilung der Deutschen nicht das letzte Wort der Geschichte war, stand für mich jederzeit außer Frage. Es wird gegen Herbst 1988 gewesen sein, als auch ich mich schließlich damit abfand: Aber ihr Ende werde wohl ich nicht mehr erleben. Ein rundes Jahr später habe ich es erlebt, so ungläubig wie alle andern.

Die Spaltung Deutschlands war der Schlussstein des Systems von Jalta - in dem Sinn, dass er es nicht nur krönte, sondern, er und nichts sonst, zusammenhielt.

Die Aufteilung der Welt in zwei Blöcke, mit einem Sumpf dazwischen, in dem sie beide fischten - ach wie trivial. Nein, das sozialistische Lager war die Formel, in der der Sozialismus in einem Land und Stalins Liquidierung der proletarischen Revolution ihren Abschluss und ihre dauernde Gestalt gefunden hatten. Die "friedliche Koexistenz" und die "Konkurrenz der Systeme", das war's, was von der pp. Weltrevolution übriggebleiben war.

Staatseigentum an den Produktionsmitteln, Außenhandelsmonopol, "Planwirtschaft" - das sind leere Hülsen, solange die politische Macht das Monopol einer Kaste von Feudalmagnaten bleibt, deren respektive Gefolgschaften die Gesellschaft durchdringen, konkurrieren, kombinieren, teilen und schachern und schieben. Aus den tausendfältig bedingten Formen grundherrlichen Feudalbesitzes bildet sich langsam, aber sicher das bürgerliche Privateigentum wieder aus, und aus der Asche des Volkeigentums steigt wie ein Phoenix der OligarchDie bürokratische Konterrevolution hatte ihren natürlichen Abschluss erreicht.

Mit dem Schlussstein fiel das ganze Haus in sich zusammen. Es war unter den einmal gegebenen Umständen das Beste, was uns passieren konnte; uns Deutschen vor allen andern.

Dass es so lange dauern würde, bis all der Unrat fortgeräumt ist, hätte keiner geahnt. Aber es führt kein Weg daran vorbei.






Kriegsschuld

Natürlich war Deutschland, historisch betrachtet, der Hauptkriegsschuldige - als Störenfried im europäischen, und das hieß damals: im internationalen Gleichgewicht, das England und Frankreich an der Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert ausgefochten hatten; erst in den Koalitions-, dann in den napoleonischen Kriegen. Deutschland war die zuspätgekommene Nation, und der Platz an der Sonne, den es beanspruchte, hatten schon Andere besetzt. Die musste es von da verdrängen - sofern sie nicht friedlich nachgaben. 

Das ist die Betrachtung des Historikers. Politisch betrachtet, ist das Bild ein anderes. Dass Österreich 1908 Bosnien annektiert hat, war zwar völkerrechtlich bedenklich; aber hätte es darauf verzichtet, wären die Folgen kaum friedlicher gewesen. Russland hat sich allerdings nicht um des Friedens, sondern um der Meerengen willen bis über die Ohren in Serbien engagiert. Und dass das republikanische Frankreich sich auf Gedeih und Verderb mit dem Selbstherrscher aller Reußen verbündet hatte, wird man mit gutem Recht dem Revanchismus eher zuschreiben als der Sorge um das Europäische Gleichgewicht. 

Mit andern Worten, wer bei der Veranlassung des Ersten Weltkriegs die größere Rolle gespielt hat, ist eine Frage für den Aktenkundler. Wer den Ersten Weltkrieg verursacht hat, ist für den Historiker keine Frage. Und eine moralische schon ganz und gar nicht.

aus War der erste Weltkrieg vermeidbar?




Das kurze 20. Jahrhundert

...Aber ganz wirklich richtig ist dies:  Es war ein "Weltbürgerkrieg", der im Sommer 1914 mit dem Attentat von Sarajevo begann und erst mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 sein Ende fand. Das ist so richtig, dass man es noch immer nicht oft genug wiederholen kann, und obwohl man es schon hin und wieder mal hört, noch längst nicht zu den Wahrheiten gehört, die der Wind durch die Binsen flüstert. 75 Jahre, länger hat das 20. Jahrhundert nicht gedauert, und noch immer stehen wir unter dem Eindruck, als hätte es ein gutes Jahrtausend aufgewogen. Jedenfalls war hinterher kaum noch was wie davor.

aus einem Kommentar






Deutsche Frage und abendländische Leitkultur.


Der Berliner PDS-Politiker Klaus Lederer veröffentlicht im Internet (www.Torpedokäfer.de Verfassung Demokratie) eine Polemik gegen einen Artikel von mir, den sein Parteiblatt Neues Deutschland  am 30./31. Januar 1999 gedruckt hatte. Unter dem Titel Die Linke und neue Leitkultur? wurde Lederers Entgegnung damals vom Neuen Deutschland auszugsweise wiedergegeben (ebd. 13./14. 2. ´99), aber das hat ihm nicht gereicht. Also ging er ins Internet. Das missfällt mir, denn ich würde gern durch intelligentere Beiträge der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Ich kann es aber nicht ändern. Doch kann ich die Dinge ins rechte Lot bringen, indem ich den Originaltext dagegensetze – das ND ;wird es erlauben. Ich versage mir auch nicht, meine Antwort auf Klaus Lederers Antwort anzufügen –die hat das Neue Deutschland damals nämlich abgelehnt. Sie sei „zu lang“, hieß es; man bot mir an, meinen Text zu kürzen – gerademal (aber ausgerechnet) um den letzten Absatz!                                                                                    

Schily, Walser, Enzensberger und... 

...das Ende des deutschen Jahrhunderts

Ein Essay von Jochen Ebmeier


Als im November '89 in Berlin die Mauer fiel, da hieß es, nun sei die Nachkriegszeit endlich vorbei. Das ist fast ein Jahrzehnt her, und doch zeigt uns manche Meldung des Tages, daß zumindest die deutsche Frage immer noch ein kleines bißchen offen ist. Sind wir nun wohl ein Volk "wie alle andern"? Oder dürften wir es nicht - wenn wir es wollten? Und eigenartig: Nirgends zeigt sich krasser, daß doch manch ein Linker nicht mehr ist, was er war.


Voran Otto Schily. I wo, "das Boot ist voll" hat er niemals gesagt, wo denkst du hin, deutscher Wähler! Er hat lediglich gemeint, ein Einwanderungsgesetz sei gegenwärtig nicht vordringlich, denn zur Zeit müßten wir ja ohnehin "die Zuzugsrate gleich Null setzen". Ach so, das Boot ist nur "zur Zeit" voll! (Ob aber Schily während seiner Amtszeit den Tag erlebt, wo...?) Und überhaupt ginge es ja nicht darum, was er sich wünscht, sondern, wie es fauldeutsch heißt, um die "Akzeptanz in der Bevölkerung". Ja, er selber wäre schon für die multikulturelle Gesellschaft, aber wenn die "Bevölkerung" (wo sonst läßt sich ein Staatsvolk wohl so nennen?) sie nicht will, dann... geht's nicht. Schau einer an! Das nenn' ich einen kühnen Entwurf.


Als Programmlosung war "Multikulti" eine Lüge, und zwar unabhängig von Stimmungen. Die europäische Zivilisation ist universalistisch, weil sie... abendländisch ist. Die normative Idee der Person - und, als ihre Rückansicht, die von einem geordneten öffentlichen Raum als dem Ort ihrer Anerkennung - ist der Grund der abendländischen Kultur. Es ist die Scheidung der Lebenswelt in einen öffentlichen und einen privaten Bereich, die bürgerliche Freiheit möglich macht - und damit die Pluralität der Lebensstile. Das setzt freilich voraus, daß im öffentlichen Raum die abendländische Prämisse gültig bleibt: der normative Rang der Person. Diese Prämisse macht die westliche Kultur zwar einerseits universalistisch, aber unterscheidet sie andererseits von allen anderen. Sicher war sie immer wieder in Gefahr und muß verteidigt werden. Eben! Die Menschenrechte sind westliche Kultur, und sie gelten entweder universell, und also in China, Chile oder Kurdistan, oder sie gelten gar nicht. Das heißt, neben ihnen kann nichts anderes gelten. Und wie im Großen, so im Kleinen. Der öffentliche Raum gehört allen zugleich, und nicht stückweise diesen oder jenen, und seien die Stücke noch so launig oder bunt.


Das Lügenwort von der multikulturellen Gesellschaft dient der Heuchelei. Das Problem in Deutschland sind gar nicht die Ausländer. Etwa Italiener, Spanier, Griechen? Oder Franzosen und 

Holländer? Man tut so, als handle es sich um Verfassungsfragen, die grundsätzlich und gesinnungshaft zu erörtern wären - um sich an konkreten Aufgaben vorbeizudrücken. Es geht um die Türken. Eine millionenköpfige nationale Minderheit, deren Einführung in die deutsche Kultur auch in der dritten Generation noch keine vorzeigbaren Fortschritte gemacht hat. " Multikulti " bedeutet nur: Man darf den Türken gar nicht zumuten, sich in die deutsche Kultur hinein zu begeben. ( Daß das Schlagwort bei den meisten Repräsentanten der türkischen Gemeinden in Deutschland weniger populär ist als bei der rhetorischen Linken läßt aber hoffen.)
                  
Richtig ist freilich dies: Für die Integration einer Minderheit in ein fremdes Wertgefüge wäre deren Selbstgewißheit sicher eine günstigere Voraussetzung als ihr Zweifel an der eigenen Identität. Mit ihrer Identität haben es die Türken allerdings schwerer als andere Völker. Eine türkische Nationalkultur gibt es eigentlich erst seit Kemal Pascha. Ihr Rahmen ist die zentralistische weltliche Republik, und ihr Gründungsakt war der Völkermord an den Armeniern und die Vertreibung der griechischen Urbewohner von der ionischen Küste vor einem dreiviertel Jahrhundert. Der Versuch, diese dünne Basis historisch zu fundieren, führte entweder in die islamistische oder in die rassistische,"panturanische" Richtung der Grauen Wölfe. In beiden Fällen rührte er an die Grundlage der modernen Türkei. Kein Wunder, daß Türken sich in fremder Umgebung unwohl fühlen. Und wenn dann noch die Kurden dazu kommen...

Auch sonst ist die türkische Volksgruppe in Deutschland ein Unikum. In keinem andern Land der Welt lebt eine nationale Minderheit, die mit ihrem Gastland historisch überhaupt nichts zu tun hat! Reden wir nicht von den Afrikanern in Amerika. Die Inder in Ostlondon und die Algerier in der Pariser Banlieue verbindet mit ihrem Gastland - im Bösen wie im Guten - eine gemeinsame koloniale Vergangenheit. Die kulturellen Eliten Indiens und Nordafrikas hatten in England und Frankreich studiert und fanden ihren Stolz darin, beide Kulturen gegenüber der jeweils anderen Seite zu repräsentieren. Eine ähnlich vermittelnde Elite haben die deutschen Türken noch nicht hervorgebracht. Nicht zuletzt wohl aus dem genannten Grund - aber umso nötiger wäre es.

Wer sagt den Kindern der dritten Generation, wie sie sich benehmen sollen? Wie sie sich in der Türkei benehmen müßten, wissen ihre Eltern auch nur aus Erzählungen; wie sie sich in Deutschland benehmen sollen, können sie ihnen überhaupt nicht sagen. Das müßten schon die Deutschen selber tun. Und das ist der springende Punkt. Die Deutschen, die, aller „geistig-moralischen Wende“ unerachtet, seit '68 den öffentlichen Ton angeben, können den Satz wie man sich in Deutschland benimmt ja gar nicht aussprechen, ohne zu stottern! Schon wenn sie "Deutschland" sagen sollen, müssen sie husten. Da konnte man im Sommer 1990 auf dem bröckelnden Hausputz in Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzelberg die kecke Losung "Nie wieder Deutschland!" finden. Doch so anarchistisch radikal, wie es klang, war es nicht gemeint. Es sollte nur heißen: In unsern Nischen war's doch recht bequem.

Und so kommen wir zu


...Walser

Also wir sind jetzt wieder eine Nation - wie alle anderen. Nicht trotz Auschwitz sind wir es, sondern wegen Auschwitz sind wir es mehr als die anderen. Nicht, weil wir uns, qua Sippenhaft, mit allen Deutschen schuldig fühlen müßten. Sondern schlicht und einfach, weil wir dazugehören: Mit Auschwitz verbindet mich so viel und so wenig, oder so wenig, aber auch so viel wie mit Goethe, Beethoven und Kant; und mit den Juden Marx und Luxemburg. Alles in allem ist es viel. So viel, ach, wie kaum eine andere Nation zusammenhält.

Die deutsche Teilung bot die Gelegenheit, sich nach Auschwitz aus der Nation heraus zu stehlen. Da folgte aus dem völkerrechtlichen Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik einerseits die sogenannte  "Wiedergutmachung", andererseits eine postume innere Emigration der (damals) heimatlosen Linken; recht eigentlich eine Komfortversion davon, denn sie fand coram
 publico statt. Dann kam das Jahr '68 und die Abrechnung mit der Generation der Väter. "Wo warst Du eigentlich damals?" hieß es in vielen Wohnzimmern, und in noch mehr anderen blieb es ungesagt in der Luft hängen, was die Sache nur schlimmer machte. Das war wohlbemerkt nicht bloß ein - wiewohl allgemeines - Familienproblem. Die (wenigen) Kinder aus den Familien der Opfer hatten es nicht besser: Wohin wir blickten, zum Nachbarn, zum Straßenbahnschaffner, auf unsre Lehrer oder auch die nette Verkäuferin im Spielzeugladen - wir waren von Erwachsenen umgeben, die alle in unfaßlicher Weise Schuld hatten. Und das Schlimmste: die meisten nicht einmal aus Verblendung, sondern aus gewöhnlicher Feigheit. Also die sollten uns zeigen, wie es in der Welt ist? So war die Grundstimmung einer ganzen Generation, und im Jahr '68 kochte sie über. Nicht in Frankreich oder USA, sondern in Deutschland fand in jenem Jahr eine Kulturrevolution statt.


Freilich auch nur im Westen. Die eigentliche Teilung Deutschlands geschah 1968. Die DDR nahm sich aus dem nationalen Erbe, was ihr paßte. Sie hatten Weimar; sollten sich die andern mit Auschwitz plagen! Ein alter Nazi mit neuem Parteibuch war nie ein Nazi gewesen. Es gab nichts zu bewältigen. So brauchte denn die NVA auf Stechschritt und Präsentiermarsch nicht zu verzichten. Und der bequemere Teil der Linken im Westen mußte nicht lange heimatlos bleiben. Sie waren gleich zweimal zuhause. Den Kühlschrank im Westen und das beruhigte Gewissen drüben im Friedenslager: damit "von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht". Nur in dieser Verneinung durfte Deutschland noch vorkommen. Im übrigen ;aber waren "die Nation historisch überlebt" und die Deutschen nur noch Bevölkerung... Und gegen die Zweifler in jenem Landesteil, wo Zeitungen schreiben konnten, was sie dachten, schwangen die Gerechten ihre Moralkeule: Auschwitz als Erpressung!

Walser weiß, von wem er redet. Aber Bubis hat ihn mißverstanden. Der dachte, er redet von Geld. Doch warum hat Walser nicht gesagt, wen er meint? Weil noch nicht so lange her ist, daß er selber dazu gehörte. Es ist ehrbarer, daß einer seine Meinung ändert, als wenn er den Torheiten seiner Jugend eitel Treue hält. Doch glaubwürdig wird es, wenn er uns wissen läßt , welcher Weg hinter ihm liegt. Stattdessen redet Walser von seiner Befindlichkeit - daß ihm die Augen weh tun und daß er wegsehen muß.                                


Aber immerhin: Er hat nicht bis zum Mauerfall gewartet, um zu sagen, es eine deutsche Frage gab, die offen war. Das war ein Geschrei, damals! Irr' ich mich, oder war da von geistiger Brandstiftung die Rede? Heut sagt er, er kann's nicht mehr hören. Es klang aber so, als sollten wir nicht länger davon reden. Was wäre das überhaupt - ein Schlußstrich ? Der Mantel des Vergessens? Ein Mahnmal wäre kein Schlußstrich, sondern ein Ausrufzeichen. Auch ein solches markiert den Abschluß einer Periode. Es zeigt an, daß Auschwitz nun Geschichte ist. Aber eben unsere Geschichte. Neben den Dicherfürsten vorm Weimarer Theater und dem Hermann im Teutoburger Wald noch ein nationales Monument; es würde sonst etwas fehlen.

Der hervorragende Zug im deutschen Nationalcharakter ist, spätestens seit dem 30jährigen Krieg, seine Zerrissenheit. Was "das Deutsche" sei, war daher immer umstritten. Doch daß es seit Auschwitz gar nichts mehr sein sollte, war faul und feige. Unter solchen Vorzeichen nun die türkische Minderheit bei uns aufzunehmen, wäre ein Kraftakt, auf den sich unsere gezeichnete Nation wieder etwas einbilden dürfte. Allerdings müßte die Herausforderung dazu als eine nationale erkannt werden. Die doppelte Staatsbürgerschaft würde sie eher vertuschen. Wie sollte es unter der Hegemonie des gemeinlinken Diskurses aber auch anders gehen?


Enzensberger...





Auch Enzensberger hat einen Preis bekommen und eine Rede gehalten. Aber er sprach weniger von seinem Befinden als von Sachverhalten. Das hat zwar nicht so viel Betroffenheit berührt, hat dafür aber mehr allgemeine Bedeutung. Verknappt kann man ihn so wiedergeben: "Links" ist nur noch der gemeinsame Nenner aller Zukurzgekommenen; und er ist gar nicht so klein. Und es geht ihnen gar nicht so schlecht. Für den zeitgenössischen Linken besteht die Welt zuerst einmal aus Opfern - und daher muß es zweitens auch Täter geben: die Andern. Täter wird man auch durch Nichttun; also durch falsche Gesinnung ("fehlendes Bewusstsein"). Ein Linker wird man aber durch das Outen von Opfern und die Bereitschaft, für sie ein-, d. h. aufzutreten - sowie durch Namhaftmachung von Tätern. Der Auftritt, die Pose: das nennt Walser die "Instrumentalisierung von Auschwitz.


Historisch hat "links" mit Caritas und Sorge für die Bedürftigen gar nichts zu tun. Der Ausdruck stammt aus der Sitzordnung der französischen Abgeordnetenkammer unter der bourbonischen Restauration. Rechts saßen die Vertreter der dynastischen Legitimität, links saßen die, die (noch) der Revolution anhingen. Und so blieb es. Links und rechts definierten sich durch Nähe oder Ferne zur Revolution. Zur demokratischen zunächst. Dann, mit der Pariser Juniinsurrektion 1848, zur sozialen, "roten". Hatte sich nicht im Proletariat, wie es in dem eben erschienenen Kommunistischen Manifest beschrieben stand, ein besonderer Stand herangebildet, der schon keiner mehr war, der in sich die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft darstellte, und dessen partikulare Interessen daher in eins fielen mit dem Freiheitsinteresse "des" Menschen? Seither datiert das besondere Verhältnis der Linken zur Arbeiterschaft. Aber nicht, weil sie bedürftig, sondern sofern sie revolutionär war.

Sofern!





Die Aktualität der Revolution war nach der Pariser Kommune die stille, nach dem Oktober 1917 die ausdrückliche Prämisse aller Politik. Das 20. Jahrhundert kündigte sich an als "Epoche der Weltrevolution". Daraus ist dann nichts geworden. Die Arbeiterbewegung beschied sich nach ihrem revolutionären Fehlstart in Rußland mit dem ihr Nächstliegenden, der Versorgung der dringendsten Not und der Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse. "Hineinwachsen" in die Marktwirtschaft, durch die regulierten Kanäle von Gewerkschafts- und Parteiapparaten und eines aufnahmefähigen Öffentlichen Diensts - das war der wirkliche Ausgleich der Klassengegensätze, war derrealexistierende Sozialismus. Mit dem Untergang der Sowjetunion ist das Ende der Weltrevolution dann gewissermaßen auch amtlich geworden.

Gemeinsam mit der revolutionären Prämisse entfällt das privilegierte Verhältnis der Linken zur Arbeiterschaft. Ohne Revolution keine "Bildung des Proletariats zur Klasse", und ohne diese kein Klassenkampf. Die Interessen der Arbeiter sind ständische Interessen und so gut oder schlecht wie die andern. Der Ruf nach Gerechtigkeit allein macht noch keine Linke. Denn die beansprucht jeder, doch meint nicht jeder dasselbe damit. Daß allen dasselbe zukommt, meinen nur die Zukurzgekommenen - bis sie selber mehr haben. Mit der Revolution ist der Linken ihr logischer Grund verloren gegangen. Daß Enzensberger einen Schlußstrich zieht und mit den Phraseuren nicht länger zu tun haben will, ist die richtige Konsequenz eines, der es ernst gemeint hat.
 Mußte aber die russische Revolution scheitern? Ist die  Weltrevolution an innerer Schwäche versandet oder an Widersprüchen zerbrochen - und an welchen? Nach den Wirkungen kennt man, mit Nietzsche zu reden, andere Ursachen als davor. Daß dies und jenes geschehen ist, besagt ja nicht, daß nichts anderes hätte geschehen können. Daß in Rußland eine Weltrevolution begonnen hatte, stand jahrzehntelang nicht in Zweifel, den einen zur Hoffnung, den andern zum Greuel.


Die deutsche Novemberrevolution sollte das zweite Kapitel werden, aber sie kam zum Stillstand. Und nach ihr die russische: Der Sozialismus in einem Land kam auf die Tagesordnung, die Weltrevolution wurde vertagt. Ohne Stalin wäre Hitler nicht an die Macht gelangt. "Der Schlüssel zur internationalen Lage liegt in Deutschland", schrieb Leo Trotzki unmittelbar vor Hitlers Sieg, und behielt recht bis zur Neige des Jahrhunderts. Denn ohne Hitler hätte sich Stalin nicht gehalten. Gemeinsam haben sie der Weltrevolution den Garaus gemacht, übers Grab hin-aus. Die Spaltung der Welt in zwei Blöcke, der Eiserne Vorhang, die Aufteilung Europas und die "deutsche Zweistaatlichkeit" waren beider Erbe. Die Fellow travellers im literarischen Salon wußten es zu danken: reinen Gewissens immer auf der richtigen Seite, ohne je ernst machen zu müssen.  
                                           
Das System von Jalta war die Grundlage für das Parteiengefüge in Nachkriegs-Europa. Als Kriterium für rechts und links war anstelle der Revolution ihre Kümmerform, der "Wettbewerb der Systeme" getreten. Gegenüber standen sich Atlantiker und Friedensfreunde. Populistisch waren sie alle: Es galt, Wahlen zu gewinnen. Unser soziales Netz, das wir heut kaum noch bezahlen können, wurde unter Adenauer und Erhard geknüpft. (Der Liberalismus überlebte als Mehrheitsbeschaffer.)  

Und das ist mit dem Fall der Berliner Mauer alles vorbei: In ihr war der "Sozialismus in einem 


Land" concrete geworden. Mit der Spaltung Europas verfiel die deutsche Teilung, die krampfhaft geleugnete deutsche Frage löste sich „wie von selbst“. Im mühsam vereinten Europa werden sich die Parteien neu gruppieren müssen. Und will es Bestand haben, muß es mehr werden als ein Binnenmarkt mit Schengener Außengrenze; nämlich Abendland - als der Raum, in dem die Briten Briten< , die Franzosen Franzosen , die Italiener Italiener und die Deutschen Deutsche sein können, ohne einander zu nahe zu treten. Ironischerweise ist es die Überwindung des Nationalstaats, die den Deutschen erlaubt, eine Nation zu sein, ohne es rechtfertigen zu müssen. Es wurde auch teuer bezahlt. Ohne Übertreibung wird man das zu Ende gehende Jahrhundert, als Epoche der gescheiterten Weltrevolution, ex negativo das deutsche Jahrhundert nennen können.                        
Und stiftet das etwa keine Identität?                                       





   


  Zwiespalt ist unser Nationalcharakter    


vom Neuen Deutschland abgelehnt                                      

"Der hervorragende Zug im deutschen Nationalcharakter ist, spätestens seit dem 30jährigen Krieg, seine Zerrissenheit. Was 'das Deutsche' sei, war daher immer umstritten." Klaus Lederer ist anderer Meinung. Er weiß genau, was typisch deutsch ist: "Konformität, Treue, Rechtschaffenheit und Anständigkeit". Allerdings handle sich's dabei um "Sekundärtugenden", mit denen wir uns zur "Aufklärung und der mit ihr verbundenen Individualität" in einen Gegensatz stellen. Bei anderer Gelegenheit wolle er uns erklären, was Anständigkeit mit Konformität zu tun hat und inwiefern sie mit Individualität unvereinbar sei (mit meiner ist sie's nicht). An dieser Stelle bestreite ich ihm nur die Befugnis, das "typisch Deutsche" in drei Worten zu erschöpfen. Was hat nicht alles schon - und mit demselben Recht! - als "typisch deutsch" gegolten: Pedanterie und Überschwang, Plumpheit und Poesie, Innerlichkeit und Aggression, gemütliches Selbstgefallen und himmelstürmender Größenwahn, Tiefsinn und Technik, Dumpfheit und Dialektik, Romantik und Realpolitik, der gottergebene Fleiß des Ackerviehs ebenso wie faustisches Genie; Beamtendünkel und versonnene Philosophen, Kunst und Ursprung, Dämon und Philister; Weltanschauung und Schrebergarten, Todesverachtung und Vollwertkost. Aber alles gründlich!

Gegensätze gibt es wohl auch bei den andern. Doch als typisch wird dort jeweils nur eins von beiden gelten. Bloß für uns sind die zwei Extreme immer gleich-charakteristisch:"Daß der Deutsche doch alles zum Äußersten treibet / Für Natur und Vernunft selbst, die nüchterne, schwärmt!" heißt es in Goethes Zahmen Xenien, und die zwei Seelen, ach, in seiner Brust kann ein Deutscher gar nicht mehr nennen, ohne daß klingt. 'Das Deutsche' ist immer auch... das Gegenteil; seinem Wesen nach offenbar unbestimmt, aber das mit aller Schärfe. Nein, lieber Klaus Lederer, der deutsche Michel ist nicht das ganze Deutschland. Dazu gehören noch Kant und Fichte, Marx und Engels, Schopenhauer und Nietzsche - lauter, mit Verlaub, radikale Denker! Diese Radikalität ist sicher nicht für jeden Deutschen - Sie, Jörg Schönbohm oder mich - typisch. Aber sie kommt doch nur bei uns vor. Nämlich immer da, wo sich deutscher Tiefsinn mit abendländischem Scharfsinn paart. Auch der Hang zu Endlösungen stammt freilich aus dieser Mischung.




Wär da nicht die "multikulturelle Gesellschaft" das probate Gegenmittel? Doch leider ist das nur eine journalistische Wortblase. Schillernd, aber ohne Inhalt. Wenn in einer Gesellschaft unterschiedliche Wertsysteme nebeneinander bestehen, miteinander konkurrieren und einander womöglich wechselseitig "aufheben" können, dann ist das - und nicht irgendwas sonst - eben ihre Kultur. Eine "ökumenische", alias universalistische Kultur. Die ist aber, nicht wahr, nur möglich unter dieser Voraussetzung: der Scheidung der Lebenswelt in ein öffentliches und ein privates Reich. Nur da wird das Individuum zur Person, wo ihm seine Freiheiten garantiert sind durch einen rechtlich verfaßten öffentlichen Raum. Person wird das Individuum erst durch Anerkennung. Öffentlichkeit ist die Instanz, wo sich die Meinungen aus Gründen rechtfertigen müssen, wenn sie als persönlich gelten sollen; und ist der Platz, wo die Werte - die moralischen wie die ökonomischen - sich im Wettbewerb, in der Krisis vergesellschaften. 

Es ist die Problematizität konkurrierender Werte, die eine Kultur unter Spannung setzt und dem Einzelnen eine Wahl, nämlich eine persönliche Bildung abverlangt. So, und das ist das Kennzeichen des Abendlands. Nicht, dass es immer so war, sondern daß es schließlich so geworden ist, aber auch nicht erst seit gestern, sondern in einer jahrtausendelangen Geschichte. Konnte das, lieber Klaus Lederer, in Vergessenheit geraten - bloß weil die DDR in dieser Hinsicht, wie André Brie meint, "noch totalitärer" war als der Nationalsozialismus? Der versuchte Ausstieg aus dem Abendland hat sechsundfünfzig Jahre gedauert. Vor knapp zehn Jahren ist er zum zweiten Mal und endgültig gescheitert. Das war doch ein Glück , oder?

Nicht, daß die Türken in Deutschland eine andere, gar eine morgendländische Kultur haben, ist das Problem. Die haben die Inder in England und die Algerier in Frankreich auch. Sondern daß sie sich in drei Generationen zu einer nationalen Minderheit stabilisiert haben, deren Integration noch auf sich warten läßt . Die Losung von der multikulturellen Gesellschaft steht im Gegensatz zur Integration - die eine erst noch zu bewältigende Aufgabe wäre. Wenn nach allem, was wir Deutschen uns in diesem Jahrhundert aufgeladen haben, jemand den Mut hat und allen Ernstes einer von uns werden will - das können wir ja nur begrüßen, und selbst die CSU ist, wie ich höre, inzwischen dafür. Wenn er mal nur weiß, worauf er sich da einläßt! Oder wird er uns gar sagen: "Auschwitz? Da will ich nichts mit zu tun haben!"

Ach, dabei fällt mir ein - die "multikulturelle Gesellschaft" haben sich Mitte der achtziger Jahre ein paar ergraute 68er in der Kreuzberger Alternativen Liste ausgedacht. Die meinten auch, die Nation sei "historisch überlebt" und hielten die "deutsche Zweistaatlichkeit" für eine Gewähr, "daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht". Damals kam es auf, von den Deutschen als von der "Bevölkerung" zu reden: Wie nach dem 30jährigen Krieg war Deutschland "nur ein geographischer Begriff" - aber es gab noch Leute, die seinen Boden bevölkerten. Im Ernst: Die "multikulturelle Gesellschaft" wurde nicht um der türkischen Minderheit willen ausgeheckt, sondern damit sich die bequeme Linke, als sie sich aus der deutschen Geschichte davonstahl, dabei auch noch ihrer Kühnheit brüsten durfte: faul und feige!    


Vier Jahrzehnte lang haben die Türken in Deutschland in der Vorstellung gelebt, sie wohnten auf gepackten Koffern. Aber jetzt werden Enkel, bald schon Urenkel hier geboren! Eine lebenslange Subkultur in der Schwebe zwischen zwei Welten - das entnervt und demoralisiert. Immer schärfer wird darum in den türkischen Gemeinden der Konflikt zwischen denen, die sich integrieren, und denen, die sich absondern wollen. Das ist ganz normal und völlig in Ordnung. "Schwebende" Staatsangehörigkeiten müssen die Ungewißheit verewigen und das Dilemma vertiefen. Doch jene, die gegen die Integration und für das "Identität wahren" optieren, landen im Lager der islamischen Integristen oder der Grauen Wölfe - weil sie eine andere Alternative nicht haben. Darf ichs noch einmal sagen? Die abendländische Kultur ist universalistisch, aber gerade darum nicht beliebig. Mit Rassismus und Integrismus verträgt sie sich nicht.                                  



Klaus Lederer klärt mich auf, daß die westliche Zivilisation nicht gerade ein Produkt deutschen Wesens sei. Ich revanchiere mich mit dem Hinweis daß nichts desto weniger das abendländische Prinzip nirgends weiter getrieben wurde als bei uns. Nicht durch unser Verdienst, im Gegenteil: als unser Schicksal. Nämlich durch die Erblast der deutschen Zerrissenheit.Nirgend sonst stoßen die gegensätzlichen Elemente der abendländischen Kultur so hart aufeinander wie hier; nicht vermittelt in einem Medium, sondern bei einander gehalten unter einem Spannungsbogen. Die reichste Kultur ist die, wo die Anordnung, die Umordnung der Werte prozessierend immer wieder neu geschieht - in der Öffentlichkeit. Sie ist das Fegefeuer, die Krisis in Permanenz. Öffentlichkeit ist allerdings nicht unsere stärkste Seite. Im Gegenteil. Immer litten wir unterm Provinzialismus und dem Mief unserer "Milieus". Hier die Waldsiedlung Wandlitz, dort das U-Boot Bonn. Doch immer weniger können wir uns weder das eine noch das andre leisten.                         



Ich will auch die Frage beantworten, warum ich Marx und Luxemburg "heranziehe". Da heißt es immer, die Idee der Weltrevolution sei eine orientalische Heilslehre gewesen und eigentlich ein Fremdkörper im Abendland. Dabei ist sie in Wahrheit die abendländische Idee par excellence: der Jüngste Tag, wo Alles an die Öffentlichkeit kommt und gerichtet wird. Sie ist, als Moment gedacht, das, was die bürgerliche Gesellschaft als Prozeßwirklich ist: Krisis. Eine Welt, eine Öffentlichkeit - und nur noch eine Nation! Nicht zufällig wurde sie von zwei deutschen Emigranten erdacht, dem Sohn eines Pietisten und dem getauften Enkel eines Rabbiners. (Sie ist gelegentlich auch als eine Endlösung aufgefaßt worden.) 



A propos. Auch an dieser Stelle hat Klaus Lederer etwas gelesen, das ich nicht geschrieben habe: Der Linken eine "neue Identität" anzudienen, liegt mir ferne. Im Gegenteil sage ich allen, die es nicht hören wollen: Mit dem Ende der "Aktualität der Weltrevolution" hat die Linke ihre Seinsberechtigung verloren; punctum. Klaus Lederer gehört zu denen, die es nicht hören wollen. Darum wiederhole ich es. Er gehört zu denen, die auf jeden Fall entschlossen sind, "links zu bleiben". 

Inzwischen wird ihnen selbst die "Gerechtigkeit" von Leuten streitig gemacht, die meinen,

 Investitionen in die Zukunft seien eine gründlichere Sozialpolitik als das Bedienen von Bedürftigkeiten. Macht nichts. Wenn Euch alle Gründe "wegbrechen" wie die osteuropäischen Märkte - es bleiben ja immer noch die Windmühlenflügel des "Nationalismus und Chauvinismus", an denen Ihr Eure papiernen Lanzen brechen dürft: "Nie wieder Deutschland!" Oder auch, wie war's in der Nische doch jemütlich... Tja, Provinzialismus und Mief des Milieus - eine ganze Partei lebt davon. Zum Glück gibt es "Tendenzen", die dagegen unseren Nationalcharakter mobil machen. Sind wir gefährlich? Na, will ich doch hoffen.



[20. Februar 1999]






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