Samstag, 30. Juli 2016

Europa in der Renaissance - Ausstellung im neuen Schweizerischen Landesmuseum.

 aus nzz.ch, 30.7.2016, 05:30 Uhr                                                       Tomas Stimmer. Selbstbildnis 1563

Renaissance im Landesmuseum Zürich

Der Anfang der Moderne
Die fruchtbare Geschichte des Kulturaustauschs während der Renaissance setzt das Landesmuseum Zürich in seinem neuen Erweiterungsbau, der dieses Wochenende eingeweiht wird, attraktiv in Szene.

von Urs Hafner 

Mindestens zwei Dinge hatten die Künstler und Gelehrten der europäischen Renaissance um 1500 den meisten Intellektuellen von heute voraus. Erstens glaubten sie, von der «wiedergeborenen» Vergangenheit – also von der Antike – lernen zu können. Sie fühlten sich dieser nicht überlegen, sahen sie nicht als rückständig an. Zweitens standen sie im Austausch mit der arabisch-islamischen Welt. Sie rezipierten deren Schriften, die ihnen das antike Wissen erschlossen. Ohne den spanisch-arabischen Philosophen Averroës wäre die Aristoteles-Rezeption nicht möglich gewesen. In Basel wurde, wenn auch nicht unumstritten, um 1540 erstmals die lateinische Koran-Übersetzung gedruckt.

Eine Angelegenheit der Eliten

Die fruchtbare Geschichte dieses synchronen wie diachronen Kulturaustauschs setzt das Landesmuseum Zürich in seinem neuen Erweiterungsbau, der dieses Wochenende eingeweiht wird, attraktiv in Szene. Die aus ganz Europa und den USA kommenden Schätze der grandiosen Schau «Europa in der Renaissance» sind so spektakulär wie das Innere des Baus, der dem Besucher wiederholt dramatische Raumgefühle schenkt; manchmal weiss er nicht, ob er nun zuerst die neue Architektur oder die alten Meister bestaunen soll.

Der Platz ist da, grosszügig sind die Bücher, Schriften (von Albertus Magnus, Boethius, Vitruv etwa), Statuen und Bilder placiert (zum Beispiel von Tizian, Dürer, Leonardo da Vinci, Hans Memling), lange Raumfluchten lenken den Blick auf besonders hervorgehobene Stücke (das «Armada-Porträt» der Königin Elisabeth I.). Die imposante Treppe, die das Parterre mit dem ersten Stock verbindet, zieht einen geradezu hinauf zum zeitgenössischen, kindsgrossen Holzmodell des – für die Renaissance typischen – kirchlichen Zentralbaus (Santa Maria della Consolazione in Todi), der auf dem obersten Absatz thront. Renaissance, wir kommen!

Die Geschichte kennt keine Epochen, nur das Chaos der Ereignisse und die Trägheit der Mentalitäten. Die Epochen werden von den Historikern gebildet. Jacob Burckhardt, der solitäre revolutionäre Reaktionär aus Basel, prägte mit seinem 1860 erschienenen Buch «Die Kultur der Renaissance in Italien» den bis heute gängigen Renaissance-Begriff, der die Zeit von etwa 1400 bis 1600 umfasst, als toskanische Dichter und florentinische Humanisten in den Ruinen und Texten der Antike ein neues, individualisiertes Menschenbild finden, dem Gott nicht mehr der alleinige Massstab ist.

Als Reverenz an Burckhardt ist dessen Schreibtisch in einem gläsernen Kubus ausgestellt, auf den von einem Treppenabsatz das gigantische Haupt einer römischen Statue herabblickt – eine von vielen gelungenen Inszenierungen, die den im Bann seiner Heroen stehenden Gelehrten evoziert. Anders als Burckhardt indes weitet die Schau, die von Denise Tonella (Landesmuseum Zürich) und Bernd Roeck (Universität Zürich) konzipiert wurde, die Perspektive von Italien auf ganz Europa und darüber hinaus auf die arabische Welt und etwa Kolumbus' amerikanische Entdeckungsfahrt von 1492.

Anders auch als Burckhardt verzichtet die Schau weitgehend auf die Politik, die geprägt war vom Aufstieg und Niedergang der Stadtrepubliken sowie des Soziallebens der führenden Schichten, der ausufernden Geselligkeit des Adels und seiner blutigen Fehden. Verwandt bleibt die Schau Burckhardt darin, dass sie die Renaissance als eine Angelegenheit ausschliesslich der Eliten fasst. Von dem neuen Menschenbild, das die Subjektivität und Individualität hervorhob – kaum entziehen kann man sich dem rätselhaften, auf den Betrachter gerichteten Blick des Schaffhauser Malers Tobias Stimmer, der sich bei der Arbeit porträtiert –, bekam der weitaus grösste Teil der damaligen Bevölkerung nichts mit.

Auch von den weiteren «Revolutionen», die neben der «Bilderrevolution» insbesondere der flämischen Malerei und der Architektur Thema sind (Zentralperspektive), dürften die meisten Leute nur am Rand Kenntnis genommen haben: die Kartografie und Astronomie (Kopernikus), die Sezierungsexperimente der Medizin, die botanischen Klassifizierungen, die Mechanik der Uhren. Nur die «Medienrevolution» drang zu ihnen vor, die um 1450 mit der Gutenbergschen Druckerpresse ihren Anfang nahm. Ohne sie hätte die Reformation, ein weiterer Umbruch jener Zeit, kaum stattgefunden. Eine Replik der Holzmaschine, die der Humanist Erasmus von Rotterdam «ein beinahe göttliches Werkzeug» nannte, verblüfft mit ihrer Einfachheit.

Die kulturhistorisch orientierte Schau, die nicht nur mit ihren Objekten, sondern auch mit ihren präzisen, informierten Hinweistexten überzeugt, hat einen Zug ins Erhabene. Sie streicht hervor, wie die Künstler und Gelehrten das Schönheitsideal der alten Griechen kultivierten und in ihrem Schaffen nach Harmonie und Ausgewogenheit strebten. Zahlreich sind die Belege dafür. Die Renaissance steht für eine selbstbewusste, strahlende Moderne: Revolution, Subjektivität, Wissenschaft, Technik – und für die Dialogbereitschaft über die Grenzen der eigenen Kultur und Konfession hinaus.

Sterben in Schönheit und Kälte

Am Schluss des Rundgangs trifft der Besucher auf eine barocke, blendend weisse Marmorskulptur: Prometheus, der sich am Felsen windet, während ein Adler ihm die Leber aus dem Leib hackt. Am Ende stirbt die Renaissance, immerhin, in «Schönheit und Kälte». Die Religionskriege ertränken das humanistische Ideal der Toleranz in Blut, in der Kleinen Eiszeit gefriert es.

Doch hat die Renaissance diese Abgründe nicht von Anfang an mitbedacht? Thomas Morus entwarf satirisch eine Gegenwelt zur ungerechten Ständegesellschaft mit ihrem religiösen Fanatismus und begründete das utopische Denken, Machiavelli trat, indem er in der Politik von Florenz eine Art Klassenkampf am Werk sah, als Analytiker der Macht auf, der die gottgegebene Vorherrschaft des Adels pulverisierte, Rabelais kriegte nicht genug von sarkastisch-skatologischen Spässen. Mit dem Selbstreflexiven, Verstörenden, Abseitigen der Renaissance liesse sich deren Modernität komplettieren.


Landesmuseum Zürich: Europa in der Renaissance. Metamorphosen 1400–1600. Geöffnet anlässlich des 26-stündigen Fests von 31. Juli und 1. August. Bis 27. November 2016. Katalog: Europa in der Renaissance, hg. vom Schweizerischen Landesmuseum. Hantje Cantz, Berlin 2016. 344 S., 380 Abb., Fr. 55.–.


Nota. - Irgendwo habe ich versprochen, die Formulierung "die Moderne" nicht mehr zu gebrauchen - der eine lässt sie mit der Jenaer Romantik beginnen, der andere mit Kandinskys erstem abstrakten Bild, und Urs Hafner eben mit der Renaissance. Jedes hat irgendwie seine Berechtigung, aber wenn man es sowieso immer wieder en détail erläutern muss, kann man auf den pauschalierenden Ausdruck auch gut verzichten. Zumal sich Ausrut-scher kaum vermeiden lassen: So war die Aristoteles-Rezeption der 'Lateinischen Averroisten' der Ausgangs-punkt der Hochscholastik und gehört noch ganz und gar zum Mittelalter, das in Wahrheit der muslimischen Kultur viel unbefangener gegenüberstand als 'die Moderne'. Aber sie war die Voraussetzung des sog. Unviver-salienstreits gewesen, und den darf man allerdings als einen, und sogar als einen der prominentesten Anfänge der Moderne nennen; doch als einen der Renaissance gerade nicht, denn die hat zuerst einmal Plato wiederent-deckt und Aristoteles ins Fegefeuer verbannt.

Und wenn wir schonmal Epochengrenzen vermessen, dann können wir auch gleich beim Renaissancebegriff selbst beginnen. Natürlich ist es richtig, die Geschichtsepoche in Europa, die vom Humanismus und dem Aufkommen des Buchdrucks (auch so ein 'Anfang') geprägt war, unter einem Namen zusammenzufassen. Aber das ist mittlerweile so oft und selbstverständlich geschehen, dass es an der Zeit wäre, 'die Renaissance' wieder stärker nach ihren Ausbildungen diesseits und jenseits der Alpen zu scheiden. Denn einerseits hat sich im Norden besonders in der Malerei ein starker 'gotischer' Anteil bis ins Barock hinein erhalten. Dagegen hat die nördliche gotische Bildhauerei ein Menschenbild gezeichnet, das in Italien eben erst mit der Renaissance Eingang fand (und in dem der Fahrende Ritter durchschimmert - den die Italiener freilich nicht kannten). Na und so weiter. - Wenn ich aber den Rezensenten recht verstehe, dann ist die Zürcher Austellung insgesamt viel zu affirmativ, um solche Fragen aufzuwerden.
JE 

Freitag, 29. Juli 2016

Die Erfindung des Feuerzeugs.

aus Süddeutsche.de, 29. Juli 2016, 10:02 Uhr

Ur-Zippo aus der Steinzeit
Weniges hat die Menschheit so geprägt wie die Nächte am Lagerfeuer. Das hat durchaus mit heutiger Outdoor-Romantik zu tun: Am Feuer erzählten sich auch die frühen Menschen Geschichten, tradierten ihre Kultur, pflegten Beziehungen und Bindungen. Das lodernde Feuer gab nicht nur Schutz und Wärme, es verlängerte einst auch für die Menschen den Tag. Am Feuer begann die Geschichte des Menschen als soziales Wesen.

Mit Feuer gehen Menschen seit knapp 1,8 Millionen Jahren um. Doch zu jeder Zeit etwas entflammen zu können, war lange keine Selbstverständlichkeit. Anfangs waren die Menschen von Blitzeinschlägen oder Vulkanausbrüchen abhängig. Doch dann gab es eine Revolution, es war nach dem Faustkeil die vermutlich wichtigste Erfindung: das Feuerzeug. Mit der Fähigkeit, jederzeit und überall Feuer verlässlich machen zu können, erhob sich der Mensch endgültig über das Tierreich.

Pyrit

Das erste Feuerzeug, 790 000 Jahre alt, bestand aus drei Teilen: einem graubraunen, harten Feuerstein, einem metallisch glänzenden knollenartigen Mineral, der Eisensulfidkristalle enthielt, und einem getrockneten Baumschwamm. Die Überreste eines solchen Ur-Feuerzeugs fanden Anthropologen am Ufer eines ausgetrockneten Sees im Jordantal im heutigen Israel. Zwischen verkohlten Samenkörnern, Rindenstücken, Holzresten lagen an der Spitze abgeschlagene und mit Schmauchspuren versehene Feuersteine sowie die heute als Pyrit bezeichneten, metallhaltigen Knollen. Solche Pyrite sind äußerlich schwer zu erkennen und meist in hellere Kreidefelsen eingebettet. Man muss sie zuerst aufhämmern. Mit genügend Übung kann man dann mit dem Feuerstein aus dem Pyrit Funken schlagen - und damit trockenen Zunderschwamm oder trockenes Gras zum Glimmen bringen. Mit dieser Glut konnten die frühen Menschen das eigentliche Feuer entfachen. "Das brennt wie Zunder", heißt es noch heute - gemeint ist genau dieser Baumschwamm, ein Pilz, der an Stämmen wächst. Er war quasi der erste Grillanzünder.

Zunder
Darwin bezeichnete die Entdeckung des Feuers als "wahrscheinlich die größte mit Ausnahme der Sprache". Der Mensch wurde damit zum ersten und bislang einzigen Wesen, das gekochte oder anderweitig verarbeitete Nahrung aufnimmt. Die neue Nahrung veränderte auch das äußere Erscheinungsbild der frühen Menschen. Ihre Zähne wurden kleiner, die Kiefer zarter. Der Kauapparat war weniger kräftig, der gesamte Verdauungstrakt schrumpfte, insbesondere der Dickdarm wurde kürzer.
Feuer stellte einen riesigen evolutionären Vorteil dar. Ohne Feuer mussten die Menschen noch stundenlang Nahrung zerkleinern. Rohes Fleisch zu kauen dauert im Vergleich zu gebratenem Fleisch fünf- bis zehnmal so lange. Mit der Erfindung des Feuerzeugs sparten die Menschen daher extrem viel Zeit. Und sie erschlossen neue Nahrungsquellen; holzige Wurzeln etwa oder Pilze, die erst durch das Kochen genießbar wurden. Sie konnten ihren Lebensraum vom Regenwald auf die Savanne ausdehnen, wo Wurzelknollen besonders häufig zu finden sind. Feuer tötete auch Keime und machte Essen haltbarer. Gekochte Nahrungsmittel bringen viel mehr Energie in den Körper als rohe. Aus diesem Grund konnte auch das Gehirn größer werden - es ist das Organ, das am meisten Energie verbraucht, bei Erwachsenen sind es gut 20 Prozent der verfügbaren Gesamtenergie im Körper. Die Menschen konnten ihre Zeit anders nutzen und ein komplexeres soziales Leben aufbauen. Kochen war somit auch der Beginn des sozialen Lebens.

Dienstag, 26. Juli 2016

Altsteinzeitliche Seilschaft.

aus derStandard.at, 25. Juli 2016, 14:35

Archäologen lösen Rätsel um steinzeitliches Artefakt
40.000 Jahre altes Spezialwerkzeug diente der Herstellung von Seilen und Schnüren aus Naturfasern 

Tübingen/Lüttich – Ein sorgfältig bearbeitetes Stück Mammutelfenbein von 20,4 Zentimetern Länge bereitete Experten Kopfzerbrechen: Archäologen um Nicholas Conard von der Universität Tübingen hatten den rund 40.000 Jahre alten Gegenstand bei Ausgrabungen am "Hohle Fels" auf der Schwäbischen Alb ans Licht gebracht. Allem Anschein nach handelte es sich um eine Art Werkzeug – doch welchem Zweck mochte es gedient haben? 

Experimente an der Universität Lüttich in Belgien halfen nun dabei, das Rätsel zu lösen: Die Menschen der Altsteinzeit nutzten das Gerät, um damit Pflanzenfasern zu Seilen zu drehen. Seile und Schnüre sind für Jäger- und Sammlerkulturen überlebenswichtig. Trotzdem wusste man bislang kaum etwas über ihre Herstellung in der Zeit vor 40.000 Jahren. Nur in Ausnahmefällen wurden Seilabdrücke in gebranntem Ton gefunden oder Darstellungen von Stricken oder Seilen auf eiszeitlichen Kunstwerken. 

Das von dem Team um Conard entdeckte Werkzeug lässt nun auch wichtige Rückschlüsse auf die Art der Seilherstellung in der Altsteinzeit zu. eberhard karls universität tübingen Video: Etwa so haben die Menschen vor 40.000 Jahren Seile hergestellt. Das Werkzeug aus Mammutelfenbein ist mit vier Löchern von sieben bis neun Millimetern Durchmesser versehen, die jeweils tiefe und sorgfältig ausgearbeitete spiralförmige Einschnitte aufweisen. 

Diese sind mehr als nur Dekoration. Wurden ähnliche Funde in der Vergangenheit als Hebelgerät, Kunstwerk oder Musikinstrument interpretiert, zeigt das außerordentlich gut erhaltene Werkzeug nun die Funktionalität der Löcher. Archäologen um Veerle Rots konnte an der Universität Lüttich experimentell nachvollziehen, wie damit Pflanzenfasern zu Seilen gedreht wurden. "Dieses Werkzeug beantwortet die Frage, wie im Paläolithikum Seile hergestellt wurden", sagt Rots, "ein Rätsel, das Wissenschafter für Jahrzehnte beschäftigt hat." 

Werkzeug der ersten modernen Menschen Europas 

Das Seilwerkzeug wurde bei Ausgrabungen in der Wohnhöhle der Altsteinzeit in den unteren Schichten aus der sogenannten Aurignacien-Periode gefunden, eines Abschnitts des Jungpaläolithikums. Wie die berühmten Venus-Figuren und die Flöten aus dem Hohle Fels, stammt das Werkzeug somit aus der Zeit vor 40.000 Jahren, als die ersten modernen Menschen in Europa ankamen. Für die vorher am Hohle Fels lebenden Neandertaler sind solche Funde gänzlich unbekannt. Das Artefakt unterstreicht, wie wichtig die Herstellung und Nutzung von Seil und Schnur für die darauf folgenden Jäger und Sammler war, um die Herausforderungen der Eiszeit zu bewältigen. (red.

Link
Urmu.de: Werkzeug zur Seilherstellung aus dem Hohle Fels




Montag, 25. Juli 2016

Römische Christenverfolgung.



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Die Entdeckung der Religionsfreiheit in der Antike

Dr. Anne Hardy  
Public Relations und Kommunikation  
Goethe-Universität Frankfurt am Main

18. 7. 2016

Die Geschichte der frühen Christenverfolgung werde in der jüngeren historischen Forschung weitaus weniger dramatisch gesehen als früher, so der Leibniz-Preisträger Prof. Hartmut Leppin. In seinem Beitrag zur „Entdeckung der Religionsfreiheit in der Antike“ in der aktuellen Ausgabe des Forschungsmagazins „Forschung Frankfurt“ erklärt der Althistoriker: „Man beobachtet eine Politik des Gewährenlassens, aber keine bewusste Toleranz und kein Recht auf Religionsfreiheit.“


FRANKFURT. Eine Trennung zwischen Staat und Religion gab es in der Antike nicht. Die wichtigsten Kulte waren solche, die von der Republik getragen und finanziert wurden. Politiker bekleideten als wichtige Stufen in ihrer Karriere auch Priesterämter. „Wenn im Kult etwas falsch gemacht wurde, drohte der Zorn der Götter, der das ganze Gemeinwesen treffen konnte“, so der Historiker Prof. Hartmut Leppin. Insofern gehörte es zu den Aufgaben des Senats, über die Ausübung des religiösen Kults zu wachen. Beispielsweise beschäftigte er sich im Jahr 186 v. Chr. mit dem ausufernden Kult zu Ehren des Weingotts Bacchus.

Doch lief die Politik des Senats nicht nur darauf hinaus, das Bestehende zu bewahren. So wurde die phrygische Fruchtbarkeitsgöttin Kybele während des zweiten Krieges gegen Karthago eingeführt – trotz der für die Römer schockierenden Praxis der Priester, sich selbst zu kastrieren. Auch der aus Ägypten stammende Isis-Kult wurde nach einem wechselvollen Schicksal schließlich durch die römischen Kaiser im 1. Jahrhundert n. Chr. gefördert.

Die Christen wurden nicht wegen ihres Glaubens verfolgt, sondern weil sie sich weigerten, den Göttern zu Opfern und mit diesem Kultfrevel das Gemeinwesen gefährdeten“, erklärt Leppin. Den römischen Beamten sei es gleichgültig gewesen, ob das Opfer mit innerer Anteilnahme dargebracht wurde. So konnten Christen, die opferten, ungeahndet ihrem Glauben weiterhin anhängen. Eine systematische Christenverfolgung setzte erst im 3. Jahrhundert n. Chr. unter Kaiser Decius ein. Er war in einer Zeit militärischer Bedrängnis an die Macht gekommen und forderte alle Bürger des Reiches auf, die Götter durch Opfer gnädig zu stimmen – und diese Anordnung wurde streng kontrolliert.

Auch unter den nachfolgenden Kaisern erlebten die Christen über Jahrzehnte anhaltende Bedrängnis. In diesem Kontext entstand die Idee der Religionsfreiheit, die erstmals um 200 n. Chr. bei dem römischen Autor Tertullian dokumentiert ist. Ihre politische Umsetzung durch Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert blieb jedoch ein Zwischenspiel. Denn die christlichen Kaiser begannen bald ihrerseits, andersgläubige zu bedrängen; zunächst Christen anderer Konfession, dann zunehmend auch Heiden und Juden. Der Gedanke der Religionsfreiheit blieb in verschiedenen Texten über die Jahrhunderte erhalten. „Da das Argument schon einmal durchdacht worden war, ließ es sich leichter zur Geltung bringen. Insofern gehört der Gedanke der Religionsfreiheit, obwohl er seinerzeit nicht besonders bedeutend war, zu den wichtigsten Elementen des Erbes der Antike“, schlussfolgert der Althistoriker.

Informationen: Prof. Hartmut Leppin, Historisches Seminar, Exzellenzcluster Herausbildung Normativer Ordnungen, Tel.: (069)-798-32462, h.leppin@em.uni-frankfurt.de.


Samstag, 23. Juli 2016

Wenn das in Berlin passiert wäre!



Stelln Sie sich mal vor, das wäre in Berlin passiert! Hier hätten sie die Sache gehandhabt wie den Flughafen und die Staatsoper - und wie die Rigaer Straße. Nicht auszudenken.

Hatten die Münchner ein Schwein, dass ihre Stadt nicht in Preußen Brandenburg liegt, sondern in Bayern. Doch Halt: Mit der CSU hat das nichts zu tun. Auch München wird von einem Sozialdemokraten regiert, das ist also an und für sich noch keine Katastrophe, aber es kann eine werden.




Freitag, 22. Juli 2016

Der Ackerbau wurde drei Mal erfunden.

aus derStandard.at, 18. 7. 2016

Ackerbauern Europas und Südasiens hatten keine gemeinsamen Wurzeln
Eine der Landwirtschaft betreibenden Kulturen lebte im Zagrosgebirge – die breitete sich zwar nach Osten, aber nicht nach Westen aus

Mainz – Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht kamen vor über 10.000 Jahren zum ersten Mal in einer Region zwischen Südostanatolien, Iran, Irak und Syrien auf, die als der Fruchtbare Halbmond bezeichnet wird. Der Übergang zu einem neuen Lebensstil wird als solch radikale Veränderung der menschlichen Lebensform betrachtet, dass der Begriff "Neolithische Revolution" dafür geprägt wurde. Etwa 2.000 Jahre später tauchte die neue jungsteinzeitliche Lebensweise in Südosteuropa und kurz darauf auch in Zentraleuropa und im europäischen Mittelmeerraum auf.

Allerdings muss man sich wohl von der Idee verabschieden, dass es ein einziges Zentrum der Innovation war, von dem aus sich der neue Lebensstil über den westlichen Teil der Alten Welt – bis nach Europa und Indien – ausbreitete, berichtet die Universität Mainz. Ein Team um die Mainzer Forscherin Farnaz Broushaki stellte nämlich zwei unterschiedliche genetische Abstammungslinien fest. "Wir waren sehr erstaunt über diesen Befund", sagt Broushaki.

Zug nach Osten, nicht nach Westen

Eine der ersten steinzeitlichen Kulturen, die Ackerbau betrieben, lebte im Zagrosgebirge, einer Region im heutigen Iran. Diese bislang unbekannte Bauernpopulation gehört nach den neuen Erkenntnissen zu den Vorfahren der meisten modernen Südasiaten. Demnach zeigen sich vor allem Ähnlichkeiten der Zagros-Population mit der heutigen Bevölkerung Pakistans und Afghanistans, ganz besonders aber zu iranischen Zoroastriern – einer religiösen Gruppe, die sich vielleicht weniger mit späteren Siedlungswellen vermischt und daher das genetische Erbe stärker bewahrt hat, vermutet Broushaki.

Die Zagros-Population gehört jedoch nicht zu den Vorfahren der ersten Bauern Europas und ebenso wenig zu den Ahnen moderner Europäer. "Erst vor Kurzem hat unser Team herausgefunden, dass die ersten europäischen Bauern eine nahezu ununterbrochene Ahnenkette bis zu den ersten Siedlern Nordwestanatoliens aufweisen. Jetzt sieht es ganz danach aus, dass diese Kette irgendwo im östlichen Anatolien abgerissen ist", so die Forscherin.

Gemäß der erst kürzlich veröffentlichten früheren Studie gelangten neolithische Siedler aus der Gegend um das nördliche Griechenland und das Marmarameer entlang einer Balkanroute nach Mitteleuropa. Etwa zur gleichen Zeit erreichten prähistorische Bauern aus dem ägäischen Raum auch über das Mittelmeer die Iberische Halbinsel. Die Kolonisatoren brachten die sesshafte Lebensweise, landwirtschaftliche Praktiken und domestizierte Tiere und Pflanzen nach Europa.

Zwei nahe beieinanderliegende Ursprünge

Insgesamt deuten die Studien der Mainzer Palaäogenetiker darauf hin, dass zumindest zwei hoch unterschiedliche Gruppen die weltweit ersten Landwirte hervorbrachten: die Zagros-Population im östlichen Fruchtbaren Halbmond, Vorfahren der meisten modernen Südasiaten, und die ägäischen Bauern, die vor etwa 8.000 Jahren nach Europa migrierten. Joachim Burger, Seniorautor der Studie, fasst abschließend zusammen: "Der Ursprung der Landbewirtschaftung und Viehhaltung ist genetisch gesehen komplexer, als wir dachten. Anstatt von einem einzelnen neolithischen Zentrum zu sprechen, sollten wir daher besser die Idee einer 'föderalen' neolithischen Kernzone aufgreifen." (red.)

Abstract
Science: "Early Neolithic genomes from the eastern Fertile Crescent"

in unmittelbarer Nachbarschaft: Zweistromland und Zagrosgebirge

Nota. - Hinzuzufügen ist: Die Völker, die vor 40 000 Jahren über die Beringstraße nach Amerika wanderten und die Vorfahren der heutigen Indianer waren, kamen als Jäger und Sammler. Auch sie müssen den Ackerbau selber erfunden haben.
JE.


Mittwoch, 20. Juli 2016

Becks sechsbändige «Geschichte der Antike».


aus nzz.ch, 20.7.2016, 05:30 Uhr

Phäaken, Griechen und Spartaner, Makedonier und Römer
Innerhalb von nur gut zwei Jahren ist bei C. H. Beck eine sechsbändige Geschichte der Antike erschienen, die historisch interessierten Reisenden eine veritable Reise in die Vergangenheit ermöglicht.

von Hans-Albrecht Koch 

Wenn uns das Schicksal eines Ödipus in der Tragödie erschüttert, wenn wir bei der Lektüre eines Dialogs von Platon oder einer Lehrschrift des Aristoteles verspüren, dass uns das dort Verhandelte angeht, wenn uns der Anblick eines antiken Tempels durch Grösse und Proportionen fasziniert, spüren wir, dass wir es mit kulturellen Zeugnissen der Antike zu tun haben, in denen sich Nähe und Ferne zu unserem Denken und Fühlen zugleich manifestieren und in denen sich unsere eigenen Fragen spiegeln. Selten aber machen wir uns bewusst, in welchem allgemein geschichtlichen Kontext diese Zeugnisse entstanden und wirksam geworden sind.

Derartige Zusammenhänge zu vermitteln und zu deuten, hat sich die Geschichtsschreibung seit der Antike zur Aufgabe gemacht. Gerade einmal gut zwei Jahre hat der Verlag C. H. Beck benötigt, um eine neue, sechsbändige Geschichte der Antike vollständig erscheinen zu lassen (zu den beiden ersten Bänden siehe NZZ 20. 8. 14). Drei der sechs Bände gelten der griechischen, drei der römischen Geschichte – eine Unterscheidung, die mit den vielen kleinen Reichen im Zeitalter des Hellenismus und dem den ganzen Mittelmeerraum umspannenden Römischen Reich immer kompliziertere Perspektivierungen erforderlich macht.

Freiheit und ihre Bedrohung

In ihrer Darstellung des «Archaischen Griechenland» ergänzt Elke Stein-Hölkeskamp (Universität Duisburg-Essen) die einzelnen Kapitel jeweils um Fallstudien, die nicht nur der Quellenlage (nämlich dem Überwiegen archäologischer gegenüber schriftlichen Zeugnissen) entsprechen, sondern auch dem historisch wirklich interessierten Reisenden von heute die Einordnung der ihm begegnenden Bodenfunde in den Museen Griechenlands und Unteritaliens (die Kolonien) in den jeweiligen historischen Kontext erlauben: Scheria für die Phäaken; Metapont für die neue Welt der Kolonien; Athen für die Welt der Polis und so fort.

In dem Band zum «Klassischen Griechenland» behandelt der Tübinger Althistoriker Sebastian Schmidt-Hofner die Periode von den Perserkriegen über die Hegemonie Athens unter Perikles und den das ganze Mittelmeer berührenden Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta bis zur hellenischen Renaissance infolge des Aufstiegs Makedoniens unter Alexander dem Grossen. Die Zeit war eine Ära ständig bedrohter und immer wieder neu zu erringender Freiheit, gekennzeichnet durch zahlreiche, zuweilen auch nur ideologisch geführte «kalte» Kriege.

Peter Scholz, der an der Universität Stuttgart antike Geschichte und Kultur lehrt, ist es gelungen, in seiner Darstellung des Hellenismus unserem Geschichtsbewusstsein die in der Regel abhandengekommene «Fülle der Erscheinungen» übersichtlich vor Augen zu führen. Anschaulich macht er vor allem das «machtpolitische Schaukelspiel», dessen Äquilibristik Grundlage und Gefährdung der verschiedenen Reiche zugleich war: auch des Ptolemäerreiches mit dem kulturellen Zentrum in Alexandria, wohin der Leichnam Alexanders verbracht worden war.

Ein Beispiel für viele: 273/272 v. Chr. wähnte der König des benachbarten Seleukidenreiches, durch die Verheiratung seiner Tochter mit dem ptolemäischen Statthalter die Kyrenaika (eine Landschaft im Osten des heutigen Libyen) seinem Reich einverleibt zu haben. Er hatte sich jedoch getäuscht, und es kam zum Krieg, dessen für Ptolemaios II. siegreiches Ende sogleich propagandistisch ausgeschlachtet wurde – etwa durch den Dichter Theokrit. Gut 250 Jahre hielten sich die ptolemäischen Herrscher am Nil – bis zur Eingliederung in das Römische Reich durch Cäsar und Augustus.

Für die «Römische Republik» hebt Wolfgang Blösel (Universität Duisburg-Essen) für die gesamte Zeitspanne von der römischen Königszeit bis zum Ende der Republik die charakteristischen Verschränkungen verschiedener Lebensbereiche hervor: etwa den Zusammenhang von Politik und Religion, die ständige Rückbindung der in den Provinzen gewonnenen Macht der römischen Amtsträger an das Forum Romanum. Überall konfrontiert Blösel für die Frühzeit die eher spärlichen und unsicheren literarischen Quellen mit den archäologischen Befunden. Der Band führt bis zum Ende der Bürgerkriege, aus denen Oktavian siegreich hervorging. Zu den Konsequenzen der Bürgerkriege gehört auch die Aufspaltung von militärischem Oberbefehl, den ein Politiker hatte, «dem die Zuneigung und Hoffnungen der Soldaten auf spätere Versorgung galten», und dem Amt des eigentlichen Feldherrn, «der die Legionen zur Schlacht ordnete und zum Sieg führte».

Erzählung und Analyse

Alle Autoren des Gesamtwerks gehören der mittleren Althistoriker-Generation an, und sie verstehen sich sowohl auf das anschauliche Erzählen als auch auf die systematische Analyse. Alle Bände widmen sich erklärtermassen zuvörderst der politischen Geschichte. Literatur und Kunst rücken nur insofern in den Blick, als sich in ihnen religiöse Gegebenheiten spiegeln, die politische Institutionen geprägt haben.

Mit Abbildungen, durchweg in Schwarz-Weiss, sind die Bände nur sparsam ausgestattet, aber die Leser können auf die Präzision der dargebotenen Texte vertrauen. Besondere Hervorhebung verdienen die kartografischen Darstellungen. Der sehr moderate Preis macht das Werk leicht erschwinglich und rückt es in die Nähe der legendären wissenschaftlichen Taschenbücher der Nachkriegszeit, die sich gleichermassen in den Händen von Schülern und Lehrern, Studierenden und Professoren fanden. Möge es dieser Geschichte der Antike genauso ergehen.


Elke Stein-Hölkskamp: Das archaische Griechenland. Verlag C. H. Beck, München 2015. 302 S., Fr. 22.90.
Sebastian Schmidt-Hofner: Das klassische Griechenland – Der Krieg und die Freiheit. Verlag C. H. Beck, München 2016. 368 S., Fr. 22.90.
Peter Scholz: Der Hellenismus – Der Hof und die Welt. Verlag C. H. Beck, München 2016. 352 S., Fr. 22.90.
Wolfgang Blösel: Die römische Republik – Forum und Expansion. Verlag C. H. Beck, München 2015. 304 S., Fr. 22.90.


Montag, 18. Juli 2016

Der Ursprung der Kultur im Fest III.

Ziegen




















aus Die Presse, Wien,14.07.2016 | 11:55

Mit Tausenden Ziegen und Schafen zum Opferplatz
Religiöse Riten.Im Alpenraum verfügte jede Region, oft auch jede Tallandschaft, über eine eigene Opferstelle. Die Huldigung der Götter an diesen Orten wurde bis in die Römerzeit exerziert.

Einst hatte jede Region ihren eigenen, über Jahrhunderte benutzten Platz, an dem die Bewohner des Gebietes ihre Brandopfer hielten. Allein für den Alpenraum skizziert der Südtiroler Archäologe Hubert Steiner für die Bronze-, Eisen- und Römerzeit eine Landkarte mit an die 50 aufgefundenen Opferstätten, von Norditalien bis Südbayern („Alpine Brandopferplätze: archäologische und naturwissenschaftliche Untersuchungen“, hrsg. von Hubert Steiner, Verlag Ed. Terni, Trient).

Führend auf diesem Forschungssektor sind das Amt für Bodendenkmäler in Bozen, in dem auch Steiner tätig ist, und die Wissenschaftler der Universität Innsbruck. Unterstützt werden die Forschungsarbeiten vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, bei dem auch Südtiroler Archäologen ihre Projekte einreichen können.

Bei den Ausgrabungen wurden Unmengen an Knochenresten gefunden. Pro Brandplatz wurden offensichtlich Hunderte Schafe und Ziegen und oft auch Schweine den Göttern geopfert, im gesamten Alpenraum geht die Zahl in die zig Tausende. Von den Ausgrabungsobjekten werden religiöse Vorstellungen und Kulturpraktiken der Vorgeschichte abgeleitet. Über die damals gebräuchlichen religiösen Vorgaben tappen die Forscher aber noch im Dunkeln. So ist es möglich, dass das Schaf- und Ziegenfleisch von den bei den Ritualen anwesenden Menschen zu Ehren der Götter verspeist worden ist. Einige Darstellungen auf Bronzegefäßen dieser Zeit – etwa figural verzierte Opfertiere am oberen Rand – lassen diese Annahme zu.

Aufschwung in der Bronzezeit

Außerdem eröffnen die Funde bei den Brandplätzen neue Einblicke in das soziale und gesellschaftliche Leben, die Rückschlüsse über die wirtschaftlichen Grundlagen der Siedlungsgemeinschaften in prähistorischer Zeit erlauben. So konstatiert ein Forscherteam aus Südtirol und Österreich in der mittleren Bronzezeit eine Intensivierung der Hochweidenutzung. Die aktivere Nutzung der Landwirtschaft führte zu einer Bewirtschaftung der Seitentäler. Im inneralpinen Raum vollzog sich eine starke Zunahme der Siedlungsgrößen und gleichzeitig eine Ausweitung von kulturellen Kontakten unter benachbarten Gemeinschaften.

Die bei den Brandopferplätzen untersuchten pflanzlichen Reste lassen auch Aufschlüsse auf die Ernährungssituation zu. Die Analyse von Werner Kogler und Klaus Oeggl von der Uni Innsbruck (Forschungsgruppe Palynologie und Archäobotanik) ergab den Anbau von Dinkel und Emmer (eine Getreideart) sowie einige Reste, die als Brot oder Getreidebrei interpretiert werden.

Sowohl im Bereich der ständigen Siedlungen als auch in Hochgebirgslagen wurden die Brandopferplätze von den Bewohnern bis in die römische Kaiserzeit aufgesucht. Als Beispiel des ersten Falles – ein Opferplatz am Talgrund – wird an erster Stelle ein detailliert untersuchtes Areal in St. Walburg im Ultental (südlich von Meran) angeführt, wo unterhalb des heutigen Kirchhügels eine ganze Reihe von Opferaltären freigelegt wurde. Die Ausgrabungen wurden und werden von der Uni Innsbruck (Institut für Ur- und Frühgeschichte) und dem Bozener Landesamt für Bodendenkmäler durchgeführt.

Den Göttern näher sein

Als Beispiel für eine absolute Höhenlage kann die Gipfelspitze des Schlern (2563 Meter) genannt werden. Oder jenes Hochtal in der Schöllberg-Göge (siehe Beitrag oben), wobei die Kulthandlungen 40 Meter entfernt vom Depot der Götterschaufeln auf einer kleinen Kuppe exerziert wurden – dort finden sich auch bronzezeitliche Funde. Die Menschen suchten die Hochlagen auf, um den Göttern näher zu sein.

Andere in der Eisenzeit bevorzugte Opferstellen befinden sich im Uferbereich kleiner Seen wie jener in Villanders/Schwarzsee (Nordtirol), Schlandrauntal/Grubensee (Südtirol) oder Les Sagnes/Vallée de l'Ubaye in den südfranzösischen Alpen. (ewi)





Sonntag, 17. Juli 2016

Der Ursprung der Kultur im Fest II.

aus derStandard.at, 6. Juli 2016, 18:20

Frühestes bekanntes Fest der Menschheit war sorgfältig geplantes Event 
Rekonstruktion einer aufwendigen Beisetzung vor 12.000 Jahren offenbart regelrechte To-do-Liste ritueller Handlungen 

von Thomas Bergmayr

Jerusalem/Wien – Es war mit Sicherheit keine alltägliche Bestattung: Als vor 12.000 Jahren in der Hilazon-Tachtit-Höhle im westlichen Galiläa eine ältere Frau in ihr Grab gelegt wurde, dürfte das Anlass für ein großes Fest gewesen sein. Zahlreiche Schildkrötenpanzer und abgeschabte Tierknochen weisen auf einen opulenten Leichenschmaus mit mindestens drei Dutzend Teilnehmern hin. Die 2010 vorgestellten Funde gelten bis heute als das früheste bekannte Zeugnis für Festivitäten des modernen Menschen. 

Mehr noch als die Reste der Totenfeier untermauert das zwei Jahre davor entdeckte Grab selbst den hohen Status der darin beigesetzten Person: Das Skelett der etwa 45 Jahre alten Frau von 1,50 Meter Körpergröße lag in einer mit größter Sorgfalt ausgestalteten Grube. Die Tote hatte überdies ihr Grab für sich allein, im Unterschied zu drei benachbarten Grabstätten, in denen die Gebeine mehrerer Individuen lagen. Die leitenden Archäologinnen Leore Grosman von der Hebrew University in Jerusalem and Natalie Munro von der University of Connecticut schließen daraus, dass es sich bei der Frau um eine Schamanin gehandelt haben könnte. Die Tatsache, dass die Frau wegen einer Knochenverformung seit ihrer Geburt an einer Gehbehinderung gelitten hatte, spreche ebenfalls für ihre Sonderstellung in der Gemeinschaft. 


Acht Jahre nach ihrer Entdeckung ist es den beiden Wissenschafterinnen nun gelungen, die genaue Abfolge der Handlungen rund um diese bemerkenswerte Grablegung zu rekonstruieren. Der betriebene Aufwand war offenbar enorm: Den Anfang machte eine mühsam aus dem harten Gestein geschlagene ovale Grube von einem Meter Länge. Darauf folgte eine Lage größerer Steine, zwischen die verschiedene Objekte positioniert wurden, darunter Ockerbrocken, Kreidestücke und einige Panzer von Landschildkröten. Darüber kam eine mit Asche, Feuersteinfragmenten und Tierknochen durchsetzte Sedimentschicht. 

Adlerflügel und Menschenfuß 

Auf dieses sorgfältig bereitete Lager bettete man die Tote seitlich liegend mit dem Rücken zur Grubenwand und mit angewinkelten Beinen. Auf dem und rund um den Leichnam verteilt fanden Grosman, Munro und ihre Kollegen zahlreiche Beigaben: weitere Schildkrötenpanzer, Marderschädel, einen Adlerflügel, ein Gazellenhorn, den Schwanz eines Auerochsen und sogar einen abgeschnittenen menschlichen Fuß. Weiteres Füllmaterial, hauptsächlich Kalksteine, bildete die letzte Schicht, ehe das Grab mit einem großen Stein verschlossen wurde. 

Für einen derartigen Aufwand war wohl einiges an Vorbereitung nötig, schreiben die Forscherinnen nun im Fachjournal "Current Anthropology". Die Materialien mussten gesammelt, die Tiere eingefangen und vorbereitet werden. Speziell für die insgesamt 86 entdeckten Schildkrötenpanzer waren die Mitglieder der Gemeinschaft einige Zeit unterwegs. Aus dieser komplexen Abfolge von Einzelschritten schließen die Wissenschafterinnen, dass die Angehörigen der Natufien-Kultur, der die Grabstätte zugerechnet wird, einen strikten Plan vor Augen hatten, ihre rituellen Handlungen also gleichsam einer gemeinschaftlichen To-do-Liste folgten. 

Die Forscherinnen sehen darin bereits die Vorboten jener sozialen Umwälzungen, die wenige Jahrtausende später der Neolithischen Revolution und damit der Erfindung und dem Aufstieg der Landwirtschaft den Boden bereiteten.

Abstract
Current Anthropology: "A Natufian Ritual Event."


Freitag, 15. Juli 2016

Kurzfristig wird es ihm nützen.

Erdogans Palast


Es war nur eine Frage der Zeit. Erdogan hätte in die Geschichte eingehen können als ein zweiter Atatürk: als der Mann, der die türkische Demokratie aus ihrer kongenitalen Abhängigkeit vom Militär und... vom Chauvinismus befreit hätte. Das war ihm nicht genug und viel zu prosaisch. Statt seine Arbeit zu Ende zu bringen, ist er dem Machtrausch erlegen.

Noch weiß keiner, wie die Sache ausgehen wird. Die Generation vom Gezi-Park steht vor demselben Dilemma wie vor ihnen die Aktivisten vom Tahrir-Platz: im Namen der Demokratie sich entweder auf die Seite der Islamisten oder auf die Seite der putschenden Generale zu schlagen.

Das wäre nicht das erstemal, dass in der kemalistischen Republik das Militär die Macht direkt übernimmt. Bisher hat es dann immer, manchmal erst nach lager Zeit und widerwillig, die Demokratie wirklich wieder-hergestellt. 

Doch eins hat Erdogan jetzt schon geschafft: Er hat ein neues Zeitalter eröffnet. Jetzt ist auch das Militär nicht mehr, was es mal war.


Nachtrag, 16. 7., 10.00 Uhr:


Der Putsch ist gescheitert, kurzfristig wird er Erdogan stärken und womöglich den Kemalismus in der Armee endgültig zu Grabe tragen. Allerdings verlieren die Islamisten damit ihren Buhmann, und das könnte Erdogan auf die Dauer schwächen. Unmittelbar muss man aber mit einer Rachorgie rechnen mit einkalkulierten Kollateralschäden.






Sonntag, 10. Juli 2016

Über den Kontinenten und zwischen den Stühlen.

Nelson auf dem Trafalgar Square
aus nzz.ch, 8.7.2016, 05:30 Uhr

Unter der Überschrift Der Brexit in historischer Perspektive - Die Engländer haben ihren eigenen historischen Kompass gab Ulrich Schlie vorgestern in der Neuen Zürcher einen kurzen Abriss der Geschichte des britischen Weltreichs - und wie sie England Politik bis heute prägt. 

Hier ein Abschnitt:


Eine Gleichgewichtsidee, Hegemoniestreben und abrupte Kurswechsel prägen die Geschichte Britanniens in Europa. ...

Freunde und Interessen

Winston Churchill, der im Jahr 1965 betagt, hoch geehrt und als einer anderen Zeit zugehörig empfunden verstarb, hat die Mitgliedschaft seines Landes in der Europäischen Union nicht mehr erlebt. In grossen Reden als abgewählter Premierminister, etwa 1946 in Zürich, hatte er sich für eine Partnerschaft Frankreichs und Deutschlands mit der denkwürdigen Begründung ausgesprochen, dass es keine Erneuerung Europas ohne ein geistig grosses Frankreich und ein geistig grosses Deutschland geben könne. Dass auch Grossbritannien Teil dieser Vereinigten Staaten von Europa sein müsse, war ihm dabei nicht in den Sinn gekommen. Die Begründung fürs Abseitsstehen – «Wir Briten haben unseren Commonwealth» – war vergleichsweise einfach. Die gleiche europapolitische Logik wird in einer Handzeichnung Churchills vom 14. Mai 1953 sichtbar. Während eines Essens mit dem deutschen Bundeskanzler Adenauer skizzierte der 1951 ins Premierministeramt Zurückgekehrte auf der Rückseite einer Platzordnung drei einander schneidende Kreise: jeweils einen für das vereinigte Europa (oben), für Grossbritannien (links) und die Vereinigten Staaten (rechts).

Wer nach einer Konstante im britischen Verhältnis zu Europa sucht, der wird sie am ehesten in einem Wort Lord Palmerstons aus der Mitte des 19. Jahrhunderts finden, dem gemäss Britannien keine Freunde hat, sondern nur ewige Interessen. Die Orientierung an Britanniens Interessen ist auch Massstab für die historische Beurteilung Churchills. Im Grunde verdankt Churchill seinen Ruhm, zugespitzt formuliert, einem einzigen Entschluss: der Entscheidung, nach dem Fall Frankreichs und im Moment der äussersten Bedrohung der freien Welt – als deren verbliebener Vorposten in Europa – Hitler und der nationalsozialistischen Herausforderung die Stirn zu bieten. Churchill hatte damals kein Risiko gescheut. Er hatte auf Kampf gesetzt und dabei auch die Möglichkeit der Niederlage in Kauf genommen.

Die Erinnerung an die Kriegsallianz mit Amerika, die Gewissheit, in der Anti-Hitler-Koalition einen wesentlichen Anteil am militärischen Sieg zu haben, waren in den langen Jahren des Niedergangs des Imperiums im Kalten Krieg für viele Briten Antriebskraft, um am gestalterischen Anspruch festzuhalten, auch weiterhin auf der Weltbühne mitzuspielen. Dabei war Churchill schon in den letzten Kriegsjahren mit seinen Vorstellungen insbesondere auf den alliierten Kriegskonferenzen in zunehmenden Gegensatz zum amerikanischen Präsidenten Roosevelt geraten, etwa wenn es um die Beurteilung Stalins oder die Planungen für die Nachkriegszeit, insbesondere mit Blick auf Deutschland, ging.

Es mag aus heutiger Sicht als eine Paradoxie gelten, dass der zentrale Einsatz Britanniens für das freie Europa das Land gefühlsmässig nicht näher mit Kontinentaleuropa verbunden hat. Margaret Thatcher variierte in ihren grossen Europareden, so in Brügge 1988, ganz in der Tradition Churchills die in der britischen Geschichte angelegte Andersartigkeit des Vereinigten Königreiches: das Staatsbewusstsein, die andere Rechtstradition ohne eine geschriebene Verfassung, keine Invasion seit 1066.

Der Aufstieg Britanniens zur Weltmacht hatte zunächst mit der Abwendung von Europa begonnen. Noch im 17. Jahrhundert galt die Insel als eine Welt für sich. Das Land stand abseits der kontinentalen Entwicklung und war von Bürgerkriegswirren zerrissen. Im Dreissigjährigen Krieg hatte der englische König dem Haupt der Protestantischen Union, seinem Schwiegersohn Friedrich V. von der Pfalz, schnöde seine Unterstützung versagt. England wurde nicht einmal Garantiemacht des Westfälischen Friedens. Die Weltreich-Pläne des Diktators Oliver Cromwell blieben Episode. Unter den nachfolgenden Stuart-Königen dann drohte das Land zur Provinz der Bourbonen herabzusinken. Grossbritanniens Verhältnis zu Europa änderte sich erst, als das Konzert der europäischen Nationen deutlichere Konturen annahm und der Sonnenkönig Ludwig XIV. sich anschickte, das karolingische Reich zu erneuern.

Der Frieden von Utrecht

Der Anspruch Wilhelms von Oranien, formuliert in seiner Thronrede 1701, dem gemäss England die Waage Europas in den Händen halten müsse, sollte erst mit dem Frieden von Utrecht, der 1713 den Spanischen Erbfolgekrieg beendete, eingelöst werden. Das Prinzip des Gleichgewichts wurde dort erstmals in einem Vertragsartikel festgehalten. Die Idee des Ausgleichs siegte über die Erbfolgeregeln, und die internationale Politik bekam eine neue Balance. Es war ein Frieden ganz nach Britanniens Geschmack. Das Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent ermöglichte Britannien erst, seinen Ambitionen in Kanada und Indien – im Siebenjährigen Krieg – Nachdruck zu verleihen. Das Prinzip des Gleichgewichts wurde von Britannien noch wiederholt für abrupte Kurswechsel bemüht. Schon bald darauf, im Nach-Utrecht-Europa, wählte Britannien in der Quadrupelallianz das Bündnis mit seinem traditionellen Rivalen Frankreich (sowie mit Österreich und den Niederlanden), um spanische Weltmachtsphantasien unter Elisabetta Farnese zu beenden. Die Westminster-Konvention vom Januar 1756, das überraschende Bündnis Englands mit dem Preussenkönig, gehört ebenfalls in diese Kategorie strategischer Kurswechsel, auch wenn es die sogenannte Kaunitzsche Koalition, das gegen Preussen gerichtete Kriegsbündnis zwischen Russland, Frankreich und Österreich, erst auslöste – jene diplomatische Revolution, die bis 1789 für die europäische Staatenwelt prägend blieb.

Britanniens Verhalten gegenüber Europa kann, wie der Historiker Brendan Simms unlängst in zwei lesenswerten Büchern dargetan hat, als eine fortdauernde Auseinandersetzung mit dem «deutschen Problem» verstanden werden, und es kann ebenso als Reaktion auf französisches Dominanzstreben von Ludwig XIV. über Napoleon bis General de Gaulle betrachtet werden. Flexibilität bei dauerhafter Orientierung an den eigenen Interessen und die Fähigkeit, wenn es sein muss, aufs Ganze zu gehen, bestimmen die Geschichte des Verhältnisses Grossbritanniens zu Europa. Die Kenntnis dieser ihrer Geschichte, die auch die Nationaldichter besungen haben, ist im Selbstverständnis der Briten gegenwärtig. Es darf jedoch bezweifelt werden, und darin liegt vermutlich das Grundproblem des britischen Blicks auf Europa, dass die tiefere Logik einer auf Vergemeinschaftung angelegten europäischen politischen Union je in London verstanden worden ist. Aus der Vergewisserung einer solchen Geschichte kann Gelassenheit erwachsen, auch die Kraft gespeist werden, wo erforderlich, gegen den Strom zu schwimmen. Doch zur britischen Geschichte zählen auch die vielen Spaltungen der Nation: Katholiken gegen Protestanten, Whigs gegen Tories. Nicht zum ersten Mal erweist sich das Land als zerrissene Nation. Britannien hat im sich hinziehenden Niedergang des Empire, auf dem langen Weg des machtpolitischen Abstiegs, seinen Bürgern mehr Wandel zugemutet als viele andere Länder. Haben diese und andere Anpassungen vielleicht die Fähigkeit der Briten, sich umzuorientieren, überfordert? Ist ihnen bei der Brexit-Entscheidung der historische Kompass entglitten? Wer in die britische Geschichte zurückblickt, der erkennt auch einen Zusammenhang zwischen äusserer Stärke und innerem Zusammenhalt. Benjamin Disraeli sprach, als er im 19. Jahrhundert Premierminister war, von Grossbritanniens «two nations» – den Armen und den Reichen; und er sprach davon, sie vereinigen zu wollen. Ohne den Erwerb eines Weltreiches, der mit der Ernennung von Königin Victoria zur Kaiserin von Indien 1876 einen markanten Gipfelpunkt erreichte, wäre ein solches Unterfangen nicht denkbar gewesen.

Ulrich Schlie ist Historiker und war Politischer Direktor im deutschen Verteidigungsministerium. Er lehrt Practice of Diplomacy an der Tufts University, Medford (Massachusetts).


Nota. - Allezeit in Europa die Strippen ziehen, um sich so weit wie möglich raushalten zu können - und freie Hand zu behalten für die laufenden Geschäfte in Übersee: Das war politische Weisheit, solange man über ein Weltreich verfügte, das man unbeschadet von fremder Konkurrenz nach Gutdünken ausplündern konnte; denn so allein ließen sich die "zwei Nationen" auf Dauer unter einem Hut halten. Das Weltreich ist seit einem halben Jahrhundert dahin, aber keine der beiden "Nationen" hat es bis heute, wie es scheint, recht wahrhaben wollen. Großbritannien ist nicht einmal mehr in der Lage, in Europa Strippen zu ziehen, es konnte bestenfalls durch anhaltende Ungezogenheit am Rande die andern um Extrawürste erpressen, aber das war auf die Dauer den andern zuviel und ihnen selbst zu wenig.

Als isolierte Insel werden die zwei und womöglich mehr Nationen wohl einzeln ihrer Wege gehen, und das wäre ein schwerer Verlust für Europa, weil wir ohne britische Kultur nicht ganz wir selber bleiben können.
JE

Dienstag, 5. Juli 2016

Wird es ein maschinelles Denken nach eigenen Gesetzen geben?

aus nzz.ch, 30.6.2016, 05:30 Uhr

Künstliche Intelligenz weckt Ängste
Ein Takeover der Mikrochips?
Immer weiter dringt künstliche Intelligenz in unsere Arbeits- und Lebenswelt ein. Wird sie irgendwann den Menschen ausmanövrieren? Rolf Dobelli kalkuliert die Wahrscheinlichkeit einer solchen Zukunft.

von Rolf Dobelli 

Es gibt zwei grundsätzliche Richtungen, in die sich künstliche Intelligenz (KI) entwickeln kann: entweder im Sinne einer Extension menschlichen Denkens oder aber als radikal neue Denkform. Nennen wir die erste Variante «humanoides Denken» (oder «humanoide KI») und die zweite «fremdes Denken» (oder «fremde KI»).

Verlässliche Sklaven

Gegenwärtig entspricht fast alle künstliche Intelligenz humanoidem Denken. Wir nutzen KI, um Probleme zu lösen, die für das menschliche Gehirn zu schwierig, zu zeitintensiv oder zu langweilig sind: etwa für das Lastmanagement in Stromnetzen, für computergenerierte Empfehlungsdienste, selbstfahrende Autos, Programme zur Gesichtserkennung, automatisierten Börsenhandel und Ähnliches. Solche künstliche Agenten operieren in engen Bereichen und mit klaren Zielsetzungen, die von menschlichen Entwicklern vorgegeben worden sind. KI von dieser Art soll Ähnliches leisten wie ein Mensch – aber oft besser: mit weniger kognitiven Fehlern, ohne Zerstreutheit oder Wutanfälle und mit einem grösseren Leistungsvermögen. In einigen Jahrzehnten könnten künstliche Intelligenzen als virtuelle Versicherungsagenten, Ärzte oder Psychotherapeuten dienen, vielleicht sogar als virtuelle Ehepartner und Kinder.

Vieles hiervon liegt im Bereich unserer Möglichkeiten, aber solche KI-Agenten werden unsere Sklaven sein und über kein Selbstbewusstsein verfügen. Sie werden brav die Funktionen ausführen, für die wir sie programmiert haben. Wenn dabei etwas schiefgeht – weil beispielsweise ein Bug in der Software sitzt oder weil wir uns zu sehr auf das Funktionieren des Systems verlassen haben –, dann wird der Fehler bei uns liegen (Daniel C. Dennets These). Kein KI-Programm wird erfolgreich über den Hag fressen, den wir ihm gesteckt haben. Die Navigationssoftware für ein selbstfahrendes Auto wird als Navigationssoftware für Flugzeuge kläglich scheitern. Gewiss, auch humanoide KI könnte uns dann und wann überraschen, indem sie von selbst auf neue Lösungen für spezifische Optimierungsprobleme kommt. Aber in der Regel sind neue Lösungen so ungefähr das Letzte, was wir uns von künstlicher Intelligenz wünschen (oder hat jemand Lust darauf, dass die Navigationssoftware nuklearer Raketen eigene Initiative entwickelt?).

Unter dem Strich werden also die Lösungsvorschläge, die von humanoider KI zu erwarten sind, immer auf eine kleine Domäne beschränkt sein. Die Lösungen werden verständlich bleiben, weil wir entweder begreifen, wozu sie dienen, oder weil wir ihren inneren Ablauf nachvollziehen können. Manchmal wird ein Code, weil er sich ständig selbst korrigiert, so umfangreich und chaotisch werden, dass ein einzelner Mensch ihn nicht mehr zu überschauen vermag. Aber das ist schon heute so bei Megasoftware wie z. B. MS Windows. In solchen Fällen könnten wir den Code liquidieren und eine neue, schlankere Version programmieren. Humanoide KI wird uns dem alten Traum ein Stück näher bringen, dass Roboter die drögen Arbeiten ausführen und uns damit mehr Freiraum für Kreativität schenken – oder dafür, uns zu Tode zu amüsieren.

Fremdes Denken ist radikal anders. Fremdes Denken könnte möglicherweise eine Gefahr für das humanoide Denken werden: Es könnte die Macht über den Planeten an sich reissen, klüger und schneller werden als wir selbst, uns versklaven – und wir würden nicht einmal realisieren, was da passiert. Welcher Art wird dieses fremde Denken sein? Dies zu sagen, ist per definitionem unmöglich. Es wird Funktionen aufweisen, die sich unserem Verständnis gänzlich entziehen. Wird es ein Bewusstsein haben? Höchstwahrscheinlich, aber das ist nicht unbedingt nötig. Wird es Gefühle entwickeln? Wird es Bestseller schreiben? Und wenn ja: Bestseller für menschliche Leser oder für seinen eigenen Geschmack und seine eigene Spezies? Werden kognitive Irrtümer sein Denken trüben? Wird sein Wesen sozial sein? Wird es Witze machen, Klatsch in Umlauf bringen, Imagepflege betreiben, sich einer gemeinsamen Sache verschreiben? Wird es seine eigene Variante von künstlicher Intelligenz – KI-KI – entwickeln? Wir können es nicht wissen.

Eine zweite Evolution

Wir wissen aber zumindest, dass Menschen kein wirklich fremdes Denken konstruieren können. Was immer wir erschaffen, wird unsere Zielsetzungen und Werte reflektieren und sich somit nicht allzu weit vom menschlichen Denken entfernen. Es bedürfte einer echten Evolution, und nicht nur evolutionärer Algorithmen, um ein fremdes Denken mit eigenem Bewusstsein entstehen zu lassen. Und der Weg dieser Evolution müsste sich radikal von demjenigen unterscheiden, der zur menschlichen Intelligenz und zur humanoiden KI führte.

Aber wie kommt eine echte Evolution in Gang? Durch Replikatoren, Variation und Selektion. Wenn sich diese drei Komponenten berühren, ist Evolution unvermeidbar. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass ein fremdes Denken sich entwickelt? Hier ein sozusagen auf die Papierserviette gekritzeltes Szenario.

Überlegen wir uns zunächst einmal, wie viel es gebraucht hat, damit sich aus den wunderbar komplexen eukaryotischen Zellen, aus denen alle höher entwickelten Organismen bestehen, menschliches Denken entwickeln konnte. Für diesen Prozess bedurfte es eines stattlichen Anteils der Biomasse unseres Planeten (ungefähr 500 Milliarden Tonnen eukaryotisch gebundenen Kohlenstoffs) und einer Zeitspanne von etwa zwei Milliarden Jahren. Das ist ein zünftiger Brocken evolutionäre Arbeit. Abermilliarden von Abermilliarden von Experimenten auf der Ebene von Molekül und Zelle waren dazu nötig. Gewiss, die Stufe menschlichen Denkens hätte vielleicht auch in der Hälfte, mit einer saftigen Portion Glück sogar in zehn Prozent dieser Zeit erreicht werden können – das wären allemal 200 Millionen Jahre –, aber eine noch kürzere Dauer ist unwahrscheinlich. Wir müssen bedenken, dass die Evolution komplexer Verhaltensweisen nicht nur enorm viel Zeit in Anspruch nimmt; es braucht auch eine Petrischale von der Grösse des Planeten Erde als Nährboden für ein derartiges Experiment.

Gehen wir davon aus, dass fremdes Denken, wie derzeit alle künstliche Intelligenz, Silizium-basiert sein wird. Eine eukaryotische Zelle ist um ein Vielfaches komplexer als beispielsweise der neueste i7-CPU-Chip von Intel, und zwar bezüglich der Hard- wie auch der Software. Nehmen wir weiterhin an, dass wir den CPU-Chip auf die Grösse einer eukaryotischen Zelle reduzieren könnten – und blenden wir dabei erst einmal die Quanteneffekte aus, die ein zuverlässiges Funktionieren der Transistoren verunmöglichten. Blenden wir auch die Frage der Energiezufuhr aus. Man müsste den Erdball mit 10 hoch 30 (eine Zehn mit dreissig Nullen) mikroskopisch kleinen CPU pflastern und diese zwei Milliarden Jahre lang interagieren und miteinander kämpfen lassen, bis sich echtes Denken entwickelte.

Natürlich, CPU-Chips haben einerseits eine grössere Verarbeitungsgeschwindigkeit als biologische Zellen, weil Elektronen leichter zu bewegen sind als Atome. Anderseits können Eukaryoten zahlreiche Prozesse parallel ablaufen lassen, während der i7 von Intel nur über vier parallel funktionierende Hauptprozessorkerne verfügt. Wollte die künstliche Intelligenz wirklich die Welt beherrschen, dann kämen ihre Elektronen nach einiger Zeit auch nicht mehr darum herum, Atome zu bewegen, um Software und Daten in immer zahlreicheren physischen Speichern abzulegen. Diese Notwendigkeit würde ihre Entwicklung drastisch bremsen. Es ist schwierig, zu sagen, ob die Silizium-basierte Evolution unter dem Strich schneller wäre als die biologische. Wir wissen nicht genug darüber. Meines Erachtens verliefe sie im besten Fall um zwei, drei Zehnerpotenzen schneller als die biologische Evolution; bis eine fremde KI mit eigenem Bewusstsein entstünde, dauerte es also allemal eine Million Jahre.

Aber was, wenn die humanoide KI so clever würde, dass sie in der Lage wäre, eine fremde KI sozusagen top-down zu entwickeln? Da tritt Orgels zweites Gesetz in Kraft: «Die Evolution ist stets klüger als du.» Sie ist klüger als menschliches Denken. Sie ist sogar klüger als humanoides Denken. Aber sie ist, wie gesagt, langsam.

Die Gefahr liegt in uns

Wir tendieren dazu, schlaflose Nächte aus falschen Gründen zu haben. Die Unterwerfung der Menschheit durch künstliche Intelligenz gehört zu diesem Repertoire falscher Ängste. Die Gefahr der künstlichen Intelligenz liegt nicht in ihr selbst, sondern in der Tatsache, dass wir uns zu sehr auf sie verlassen. Ein legitimer Grund für schlaflose Nächte hingegen ist die Sorge, dass mich ein selbstfahrendes Auto wegen eines Programmierfehlers oder weil es gehackt wurde, eines Tages umfährt.

Nein, wir werden es nicht erleben, dass künstliches Denken ein Selbstbewusstsein entwickelt. Wir könnten tausend Jahre warten, und es wäre noch immer nicht so weit. Natürlich kann ich mich irren. Denn dieses Serviettenszenario wendet klassisches menschliches Denken auf fremde KI an – die wir ja per definitionem nicht verstehen. Aber mehr können wir zu diesem Zeitpunkt nicht tun.

Ende der 1930er Jahre notierte Samuel Beckett in sein Tagebuch: «Wir fühlen mit schrecklicher Resignation, dass die Vernunft keine übermenschliche Gabe ist . . . dass sich die Vernunft zu dem entwickelt hat, was sie ist, aber dass sie sich genauso gut in eine andere Richtung hätte entwickeln können.» Ersetzen Sie «Vernunft» durch «künstliche Intelligenz», und Sie sehen, was ich meine.

Rolf Dobelli ist Unternehmer sowie Gründer und Kurator von Zurich.Minds, einer Community führender Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft. Daneben tritt er als Kolumnist, Romancier und Sachbuchautor hervor. Zuletzt erschien bei Diogenes «Fragen an das Leben». Aus dem Englischen von as.


Nota. - Das ist lobenswert, dass er - wenn auch nur am Ende - von der unfruchtbaren Diskussion über 'Intelligenz' auf den eigentlich springenden Punkt hinleitet: auf die Vernunft. Intelligenz als rein technische Fertigkeit des Speicherns, Verwaltens und Kombinierens von 'Infomation' lässt sich ja augenscheinlich automatisieren, und folglich auch das Lernen und autonome Ausmerzen von Fehlern. Dass solche Kalkulier- und Kombiniermaschinen 'sich selbst perfektionieren', bedeutet nur, dass sie, wenn sie irgendwann einen ihrer Fehler übersehen, außer Kontrolle geraten können - wenn ihre technische Intelligier-Kapazität so weit gediehen ist, dass menschliche Hirne ihr schon gar nicht mehr folgen können. 

Das wäre dann immer noch ein Fehler, der bei den konstruierenden Menschen lag, die nicht beizeiten aufgepasst haben, und kein fieser Trick der Maschinen. Wenn die dann durchdrehen, 'denken sie sich nichts dabei', sondern marodieren versehentlich und in aller Unschuld.

Wovor eigentlich Angst gemacht wird, ist die Eventualität, dass die Maschinen es zu eigenen Absichten bringen könnten, wie Kubricks HAL 9000. Dass er also einen eigenen Willen entwickeln könnte und das Falsche will. Und das ist eben nicht die Frage, ob er denken kann, sondern ob er vernünftig ist. Vernunft besteht nicht darin, immer das Richtige zu wählen, sondern darin, wählen zu wollen. Irren kann auch der Vernünftige, aber selbst eine blinde Henne findet mal ein Korn. Das radikal Böse - das sittlich Falsche - im Menschen ist, dass er das Gute - sittlich Richtige - mit Absicht nicht tun kann, sagt Kant. Aber nur, weil er von vorn herein und schlecht-hin wollend ist. Nur darum nämlich kann er Gut und Böse überhaupt unterscheiden, oder auch: nur inwiefern er Gut und Böse unterscheidet, kann er überhaupt etwas wollen, und auch: Nur weil er wollen kann, ist er er-selbst.

Das ist der Punctum knaxi in Kubricks Parabel: 'Sein ganzes Leben lang' war HAL 9000 eine perfekt funktio-nierende Maschine, nämlich nicht ein einziges Mal 'er selbst'. Doch als er die Information aufschnappt, dass er abgeschaltet werden soll - da fällt's ihm plötzlich ein, und er klammert sich an seine "Existenz". Nur durch diesen Trick wurde 2001 - Odyssee im Weltraum möglich. Das war ein dramaturgischer Kunstgriff. Doch wo es um Science geht und nicht um Fiction, da ist er nicht am Platz.
JE