Mittwoch, 31. Mai 2017

Ihre beste Zeit kommt erst noch.



Ihre besten Jahre habe sie hinter sich, raunen die Auguren. Doch hat sie ihre größten Prüfungen sicherlich vor sich, schon heute und morgen. Wie wir sie inzwischen kennen, wird sie davor nicht einknicken. Ihre beste Zeit kommt erst noch. 





Sonntag, 28. Mai 2017

Vor 70 Jahren: der Marshall-Plan.

aus Der Standard, Wien, 27. Mai 2017, 14:00                                  George Marshall, M., und Harry S. Truman, 2. v. l.

Marshallplan: Die Geburt des Westens
Der vor 70 Jahren initiierte Marshallplan war nicht nur ein ungemein erfolgreiches Wiederaufbauprogramm für Europa, sondern schuf die Grundlage für eine neue Weltordnung – die US-Präsident Donald Trump nun bedroht 

Essay von  

Es war eine kurze, nüchterne Rede, die US-Außenminister George Marshall am 5. Juni 1947 an der Harvard University hielt. In zwölf Minuten beschrieb er das wirtschaftliche Elend in Europa und schlug eine konzertierte Hilfe der US-Regierung vor, vor allem, um den dramatischen Mangel an Devisen für den Import lebenswichtiger Güter zu finanzieren. "Es ist logisch, dass die Vereinigten Staaten alles in ihrer Macht Stehende tun sollen, um bei der Wiederherstellung einer normalen wirtschaftlichen Gesundheit zu helfen, ohne die es keine politische Stabilität und keinen Frieden geben kann."

Aus diesen Worten erwuchs innerhalb weniger Monate das größte und erfolgreichste internationale Hilfsprogramm der Geschichte. Der Marshallplan dient bis heute als Vorbild für alle größeren internationalen Hilfsinitiativen, von denen allerdings keine ihm auch nur nahekommen konnte. Die – je nach Rechnung – 13 bis 16 Milliarden Dollar, die von 1948 bis 1952 nach Europa flossen, machten rund 2,5 Prozent des amerikanischen BIPs aus – eine heute unvorstellbar hohe Summe. Dazu kamen vergleichbare Gelder für Japan. Jeder einzelne Amerikaner zahlte jahrelang höhere Steuern, um Verbündeten und früheren Feinden aus ihrer Misere zu helfen. Der Marshallplan wirkte aber nicht nur wegen dieser Großzügigkeit und seiner umfassenden wirtschaftspolitischen Auflagen, sondern auch, weil die europäische Wirtschaft hochentwickelt und im Kern gesund war. Sie musste nur wieder in Gang gebracht werden.

Bei der Entstehung dabei

Was Marshall und die Regierung von Präsident Harry Truman damals taten, war allerdings mehr als nur ein wirtschaftliches Projekt. Der Marshallplan war die Grundlage für die Schaffung einer Staatengemeinschaft, die ähnlichen politischen und wirtschaftlichen Werten verpflichtet ist und diese in alle Welt hinaustragen will. Marshalls Rede vor 70 Jahren war die Geburtsstunde dessen, was bis heute der Westen genannt wird. Present at the Creation ("Bei der Entstehung dabei") hat Marshalls damaliger Vertrauter und Nachfolger Dean Acheson, der eigentliche Architekt des Marshallplanes, seine Autobiografie bezeichnenderweise genannt.

Alle Elemente dieser liberalen internationalen Weltordnung waren in seiner Rede enthalten: das Bekenntnis zu Frieden, Demokratie, Marktwirtschaft, freiem Handel und gegenseitiger Solidarität. Nicht Wettbewerb, sondern Kooperation sei das wichtigste Ziel jeder Außen- und Wirtschaftspolitik, das Wohlergehen eines Staates hänge von dem der anderen ab. Diese Gemeinschaft stehe allen Ländern offen, die sich zu den gemeinsamen Werten bekennen; selbst die Sowjetunion war von Marshalls Vorhaben nicht ausgeschlossen. Aber eines stellte er klar: Die Welt brauche eine starke Führung, die mangels Alternative von den USA ausgehen müsse.

Welch ein Kontrast zur 15-Minuten-Rede, die US-Präsident Donald Trump bei seiner Angelobung am 20. Jänner 2017 hielt: Sein "Amerika zuerst"-Appell signalisierte das mögliche Ende jener Ära, die Marshall einst eingeleitet hatte. Seither beobachtet die ganze Welt mit Misstrauen und Sorge, ob Marshalls Visionen oder diejenige von Trumps strategischem Berater Stephen Bannon die amerikanische Politik der kommenden Jahre bestimmen wird. In einem Artikel im aktuellen Foreign Affairs schreibt der prominente Politikwissenschafter John Ikenberry in Anlehnung an einen Philip-Roth-Roman über die "Verschwörung gegen Amerikas Außenpolitik" und stellte darin das Überleben der liberalen Weltordnung infrage.

Wie diese Schlacht innerhalb des Weißen Hauses ausgeht, ist offen. Auch wenn Trumps Instinkte und Worte – nun auch auf seiner Europareise – in eine andere Richtung gehen, stehen viele seiner außenpolitischen und wirtschaftlichen Berater fest in Marshalls und Achesons Tradition und halten den Präsidenten immer wieder davon ab, die von den USA ab 1947 geschaffene Weltordnung – die Welthandelsorganisation, die Nato, die Uno – zu zerstören.

Auch in Europa steht beim Brexit und beim nunmehr gestoppten Vormarsch rechtspopulistischer Kräfte Marshalls Vermächtnis auf dem Spiel. Denn der Marshallplan war auch die Geburtsstunde der europäischen Integration. Schon in seiner Rede vor 70 Jahren forderte der US-Außenminister die europäischen Staaten auf, gemeinsam ihre Bedürfnisse und Beiträge zum Wiederaufbau zu definieren. Zu diesem Zweck gründeten die USA mit ihren Verbündeten 1948 die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), aus der Jahre später die OECD wurde. Sie war die Keimzelle einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik und half beim Abbau von Handelsschranken und der Erleichterung grenzüberschreitender Investitionen.

Keimzelle Europas

Ebenso wichtig war ab 1950 die Europäische Zahlungsunion (EZU), die dem Ausgleich von Defiziten und Überschüssen zwischen den Leistungsbilanzen europäischer Staaten diente – eine Aufgabe, die später vom freien Kapitalverkehr übernommen wurde, aber seit Ausbruch der Euroschuldenkrise wieder zum Teil von überstaatlichen Einrichtungen erfüllt werden muss. Aus diesen US-gesponserten Institutionen erwuchs 1951 die Montanunion, die Keimzelle der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der EU.

Die Unterstützung der europäischen Integration war 70 Jahre lang ein Grundprinzip der US-Außenpolitik; die USA nahmen dafür auch die Schlechterstellung ihrer Waren und Dienstleistungen im europäischen Binnenmarkt in Kauf, um den Frieden auf dem Kontinent zu sichern, auf dem sie zweimal in den Krieg ziehen mussten. Wieder war es Trump, der – zumindest während des Wahlkampfes – diese Haltung als Erster infrage stellte und die EU als von Deutschland geführte Verschwörung gegen US-Handelsinteressen darstellte.

Der Marshallplan wurde auch deshalb zum Geburtshelfer des Westens, weil er die Teilung Europas begründete. Marshalls Angebot richtete sich zwar an alle Europäer vom Atlantik bis zum Ural. Aber wie der österreichische Historiker und Marshallplanexperte Günter Bischof in seinem neuen Buch beschreibt, entschied die Sowjetunion sehr rasch, dass dies ein amerikanischer Plan für eine "westliche Blockbildung" war – und zwang die Staaten unter ihrer Kontrolle, den Plan abzulehnen. Das war insofern richtig erkannt, als der Marshallplan auch darauf abzielte, "durch Schaffung von Wohlstand der Attraktivität der Sowjetunion entgegenzutreten", sagt Bischof. "Der Eiserne Vorhang wurde zur Wohlstandsgrenze", die bis heute zu spüren ist.

Das betraf vor allem Österreich. "Dass Österreich teilnehmen konnte, war eminent wichtig für die Westbindung des Landes", sagt Bischof. Dies sei auch der Klugheit der US-Militärs damals zu verdanken, die sicherstellten, dass Marshallplanmittel auch in die sowjetische Ostzone fließen würden – wenn auch weniger als in den Westen.

Und die Teilnahme an den OEEC-Sitzungen in Paris prägte eine ganze Generation österreichischer Politiker, sagt Bischof: "Kreisky schrieb einmal: Österreicher gingen nach Paris und wurden dort zu Europäern."

Langsamer Zerfall

Wie sehr der Marshallplan und die westliche Allianz Bauplan für eine liberale Weltordnung oder Instrument des Kalten Krieges waren, darüber gehen bis heute die Meinungen auseinander. Politikwissenschafter aus der Schule des Realismus wie Stephen Walt sagten schon in den 1990er-Jahren den langsamen Zerfall des Westens voraus (The Ties That Fray – Why Europe and America are Drifting Apart), nachdem der gemeinsame Feind Sowjetunion abhandengekommen sei.

Aber trotz aller Spannungen, vor allem nach der US-Invasion des Irak, hat Marshalls Vision der gemeinsamen Wirtschaftsinteressen, politischen Ziele und Werte überlebt – und ist heute nicht mehr auf Nordamerika und Europa beschränkt. Und auch die ersten Monate der Trump-Präsidentschaft geben Grund zur Hoffnung, dass die Idee des Westens auch diese Präsidentschaft überlebt.

Günter Bischof, Hans Petschar, "Der Marshallplan seit 1947. Die Rettung Europas – Der Wiederaufbau Österreichs". Brandstätter-Verlag. Erscheinungstermin: 12. Juni

Mittwoch, 24. Mai 2017

Don Alfonso über Leitkultur.

aus FAZ.NET, 24. 5. 2017

... Man kann die Idee einer Leitkultur und einer Identität leicht verneinen, wenn man sich über Normen einig ist: Dann scheint es, als gäbe es so etwas gar nicht, weil es jeder automatisch tut, und man es nicht als relevant ansieht. Niemand käme auf die Idee, Ehebruch in Deutschland zu einer gesellschaftlichen Norm zu erklären: Das wird halt bei uns so gemacht, bis hinauf zum höchsten Politikerinnen und Politikern gleich welcher Partei. 

Dass es sehr wohl etwas mit unserer Identität zu tun hat, merkt man erst, wenn man in die andernorts geltende Scharia blickt. Es muss ja nicht gleich Steinigung sein, aber es gibt international sehr unterschiedliche Vorstellungen, welches Verhalten statthaft ist. 

Man denkt darüber einfach nicht nach, wenn man daheim ist. Aber wer nicht glaubt, dass es so etwas wie eine spezifisch deutsche Leitkultur gibt, sollte einfach längere Zeit im Ausland verbringen – es muss noch nicht einmal Iran oder Nordkorea sein.



 

Sonntag, 21. Mai 2017

Eine Ethik für die digitale Revolution?


institution logo 

Innovation 4.0: Der Mensch im Mittelpunkt der vierten industriellen Revolution

Claus Schönberner 
Pressestelle 
Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb

17. 5. 2017

Eine Standortbestimmung von Ethik in der 4.0-Ära: Das World Forum for Ethics in Business und das Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb haben eine Konferenzserie ins Leben gerufen, um eine Debatte aller beteiligten Akteure zum Thema „Ethik in der Innovation“ anzustoßen. Die erste Konferenz findet vom 26. bis 27. Juni 2017 in München statt.
Vor dem Hintergrund, dass sich die Welt, wie wir sie kennen, in einem unglaublich hohen Tempo verändert, gibt es Vorhersagen, dass 40 Prozent der weltweit führenden Unternehmen in einem Jahrzehnt nicht mehr existieren werden, wenn sie sich nicht ausreichend auf die neue Ära vorbereiten. Zweifellos ist die vierte industrielle Revolution im Begriff, eine Welt zu schaffen, in der virtuelle und physische Systeme flexibel miteinander zusammenarbeiten. Sie verändert nicht nur, wie wir arbeiten, leben und miteinander in Beziehung treten, sondern auch die Essenz dessen, was es bedeutet, Mensch(lich) zu sein.

In Anbetracht der Notwendigkeit, ethische Standards, Regulierungen und Führungsstrukturen im Bereich Innovation zu diskutieren und neu zu definieren, richten das Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb und das World Forum for Ethics in Business, in Partnerschaft mit dem Europäischen Patentamt, dem Deutschen Patent- und Markenamt sowie dem Peter Löscher Lehrstuhl für Wirtschaftsethik der Technischen Universität München, die „Münchner Konferenzreihe über Ethik in der Innovation“ aus. Die erste Konferenz findet vom 26. bis 27. Juni 2017 im Deutschen Patent- und Markenamt in München statt und konzentriert sich auf die Informations- und Kommunikationstechnologien mit besonderem Schwerpunkt auf Innovationen im digitalen Zeitalter, einschließlich künstlicher Intelligenz, Internet of Things und Big Data.

Die Konferenz wird rund 300 globale Denker und führende Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Nichtregierungsorganisationen zusammenbringen und verschiedene zentrale Fragen adressieren:

• Innovation 4.0: Kann Wachstum wirklich das übergeordnete Leitbild der vierten industriellen Revolution sein? Wie können wir sicherstellen, dass diese Revolution gemeinsame Werte generiert und menschlich zentriert ist, anstatt zu trennen und zu entfremden?


• Leadership 4.0: Welche Art von Führung benötigen Organisationen, um innovativ sein und sich mit der erforderlichen Geschwindigkeit verändern zu können?


• Bildung 4.0: Kann wertorientierte Bildung die Antwort auf die Notwendigkeit adäquater Führung sein?
• Corporate Social Responsibility 4.0: Wie können wir sicherstellen, dass die vierte industrielle Revolution nicht „ihre Kinder frisst“, sondern tatsächlich gemeinsame Werte schafft?

Zu den bestätigten Referenten zählen unter anderen Prof. Dr. Ferdi Schüth, Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft; Prof. Dr. Josef Drexl, Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb; Prof. Dr. Christoph Lütge, Peter Löscher Lehrstuhl für Wirtschaftsethik an der TU München; Sri Sri Ravi Shankar, Gründer des World Forum for Ethics in Business; Jo Leinen, Mitglied des Europäischen Parlaments; Jaan Tallinn, Mitbegründer von Skype; Robert Hansor, Direktor für globale Nachhaltigkeitspolitik und Systeme bei Huawei Technologies; sowie Prof. Dr Luciano Floridi, Universität Oxford.

Ein Highlight der Konferenz wird der „Appell der Jugend“ sein: Ausgewählte Studenten und Berufseinsteiger bekommen die Möglichkeit, drei Tage vor der Konferenz im Rahmen des „World Youth Forum“ an einem ganzheitlichen Leadership-Training teilzunehmen, bei dem sie mit internationalen Führungspersönlichkeiten interagieren (https://www.wyfei.org/). Bereits über 350 junge Menschen aus mehr als 30 Ländern haben in den letzten Jahren an einem „World Youth Forum“ teilgenommen. Für dieses Jahr haben sich bereits rund 200 Studenten aus der ganzen Welt beworben; die Bewerbungsfrist wurde bis 30. Mai 2017 verlängert. Das Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb wird die Top 50-Kandidaten am 1. Juni 2017 bekannt geben.

Die mit der „Ethics in Innovation“-Konferenz und dem „World Youth Forum“ verbundene Forschung wird von einem international besetzten Team unter Führung von Prof. Dr. Josef Drexl, Prof. Dr. Christoph Lütge, Dr. Mrinalini Kochupillai und Dr. Arul Scaria durchgeführt.

Die Konferenz ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Weitere Informationen, insbesondere zur Anmeldung und zu den Referenten, finden Sie unter: http://wfeb.org/


Über die Veranstalter

Das World Forum for Ethics in Business (WFEB) ist eine eingetragene, gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Belgien (N° 822.216.342). Der Auftrag des Forums beinhaltet die unterschiedlichsten Aktivitäten, um unverzichtbare ethische Grundlagen wirtschaftlichen Handelns in einer globalisierten Umgebung zu verfolgen und zu etablieren. Sie stellt eine Plattform bereit zur Förderung und zum Schutz der Lösungsansätze für ethisches Verhalten in Unternehmen sowie im Bereich Unternehmensführung, Sie erleichtert den weltweiten Dialog und fördert die Zusammenarbeit zwischen dem privaten Sektor, der Wissenschaft, den Regierungsbehörden, den internationalen Organisationen und den Medien. Ebenso gilt das Hauptaugenmerk der Organisation auch den spirituellen und säkularen Gemeinschaften sowie allen anderen Interessengruppen. Das WFEB hält einen Sonderberaterstatus im Wirtschafts-und Sozialrat der Vereinten Nationen inne. Präsidentin des World Forum for Ethics in Business ist Rajita Kulkarni. Vorstandsmitglieder sind Abha Joshi-Ghani, Vice-President, Leadership, Learning and Innovation, The World Bank; Jo Leinen, Mitglied des Europäischen Parlaments, Nirj Deva, Mitglied des Europäischen Parlaments, Madhu Rao, Vice-Chairman der Shangri-La Hotelkette, Roland Glaser, früherer CEO der Minerva Schulen und Ram Lakhina, Vorsitzender der Indischen Industrie- und Handelskammer in den Niederlanden. Managing Directors des WFEB sind Christoph Glaser und Ewald Poeran. Weitere Informationen unter: http://wfeb.org/

Im Mittelpunkt der Forschung am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb stehen die Erforschung von Innovations- und Wettbewerbsprozessen sowie die Erarbeitung von Vorschlägen für die Gestaltung der Rahmenbedingungen für diese Prozesse. Die Forschungsfragen werden in einer rechtswissenschaftlichen und einer wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung untersucht. Das Institut wurde im Jahr 1966 als Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht gegründet. Nach der Einrichtung einer neuen wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung wurde es im Jahr 2013 in Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb umbenannt. Das Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb ist eines von 83 Instituten der Max-Planck-Gesellschaft, eine von Deutschlands führenden Forschungsorganisationen. In der Auswahl und Durchführung ihrer Forschungsaufgaben sind die Max-Planck-Institute frei und unabhängig. Sie verfügen daher über einen eigenen, selbst verwalteten Haushalt, der durch Projektmittel von dritter Seite ergänzt werden kann. Die Forschung am Institut muss den wissenschaftlichen Exzellenzkriterien der Max-Planck-Gesellschaft genügen, was durch regelmäßige Evaluation überprüft wird. Weitere Informationen unter: http://ip.mpg.de/

Samstag, 20. Mai 2017

Sozialität und Paarbildung.

 aus derStandard.at, 4. April 2017, 10:18

Wurzeln der Kooperation liegen in engen Zweier-Freundschaften
Österreichischer Biomathematiker Martin Nowak entdeckte Formel für die Entwicklung von Zusammenarbeit in einer Gesellschaft

Wien – Enge Zweierfreundschaften sind mehr wert als ein loses Netzwerk an Bekanntschaften, wenn es um den Zusammenhalt in einer Gesellschaft geht: Zu diesem Schluss kommt ein Team um den österreichischen Biomathematiker Martin Nowak. Die Forscher fanden erstmals eine Gleichung, wie die natürliche Selektion in einer realistischen Bevölkerung Kooperation hervorbringt. Die Studie erschien im Fachmagazin "Nature".

Bisher konnte man nur ausrechnen, wie Kooperation in einer Population entsteht, wenn jeder exakt gleich viele Bekanntschaften hat, erklärte Nowak, der an der Harvard University (USA) forscht. Die mathematische Beschreibung eines wirklichkeitsnahen Beziehungsnetzwerks sei eigentlich so komplex, dass sie laut gängiger Computerwissenschaft gar nicht möglich ist – ausgenommen in Grenzfällen. 

Grenzfälle in Beziehungsnetzwerken

"Wenn die Evolution nur schwach wirkt und vieles vom Zufall abhängt, ist genau so ein Grenzfall", sagte Nowak. Bei regelmäßigen Treffen mit Mathematik-Kapazundern wie dem Fields Medaillen-Gewinner Shing-Tung Yau und dem Mathematik-"Jungstar" Ben Allen sei man schließlich auf die Formel gekommen.

Schon 1992 hat Martin Nowak mit seinem damaligen Mentor Robert May (heute Lord May of Oxford) in "Nature" eine Arbeit veröffentlicht, bei der gezeigt wurde, dass bestimmte Beziehungsstrukturen in einer Bevölkerung Kooperation ermöglichen. "Seit damals sucht man nach der allgemeinen Formel, die jetzt gefunden wurde", erklärte er. Wenig Kooperation auf Basis von Facebook

Die Forscher untersuchten mit dieser Formel verschiedenste Beziehungsnetzwerke bei Menschen, Delfinen und Primaten. Am wenigsten Kooperation brachte dabei das soziale Internet-Netzwerk Facebook hervor, berichten sie.

"Am besten für die Kooperation sind stabile paarweise Beziehungen, also Partnerschaften und Freundschaften", sagte Nowak. Sie bilden quasi das Rückgrat der Zusammenarbeit in einer Gesellschaft und könnten durch eine große Zahl an losen Bekanntschaften und Verbindungen niemals ersetzt werden. (APA, red,)

Abstract
Nature: "Evolutionary dynamics on any population structure."


Montag, 15. Mai 2017

Dieser Zug ist abgefahren.



In der Politik kommt man ohne Politik nicht aus. Donald Trump meinte, Hype reicht. Seit spätestens gestern wissen wir: In Deutschland reicht sie nicht. Trump wird noch merken, dass sie auf die Dauer auch in Amerika nicht reicht. 





Samstag, 6. Mai 2017

Der Krieg ist nicht Mutter, sondern Vater aller Dinge.

Schimpanse
aus Die Presse, Wien,

Wie Krieg Schimpansen prägt
Das Verhalten nach außen schlägt durch auf die Sozialstruktur: Schimpansen tun sich mit Männchen zusammen, Bonobos mit Weibchen. 



„Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab“, brachte alles Elend in die Welt: „Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen hätte.“ So sah 1755 Rousseau den Sündenfall, mit dem die Menschheit aus dem Paradies der Natur auszog. Dorthin wollte er nicht zurück, er hatte die Utopie einer ganz anderen Gesellschaftsform, aber eine Idylle war sie doch für ihn, die Natur.

Dabei geht es in ihr oft auch so zu, als hätte jemand Zäune gezogen: Da werden Reviere beansprucht und mit Klauen und Zähnen verteidigt oder auch erobert. So halten es unsere einen nächsten Verwandten, die Schimpansen, sie sind – außer uns – die einzigen, die über Nachbarn herfallen und sie erschlagen. Unsere anderen nächsten Verwandten, die Bonobos, agieren ganz anders, sie leben in äußerem Frieden und im Inneren auch, letzteren sichern sie durch exzessive Sexualität. Verwandt sind wir mit beiden in gleichen Graden: Unsere Ahnen spalteten sich vor etwa acht Millionen Jahren vom gemeinsamen Ast ab, Schimpansen und Bonobos gingen vor zwei Millionen Jahren getrennte Wege.

Ähnlicher in der Physiologie sind uns die Bonobos, das zeigen die Gene, die Muskeln auch Bernard Wood (George Washington University) hat es gerade erhoben (Scientific Reports 29. 4.). Beim Verhalten ist es anders: „Während Schimpansen ausgesprochen territorial sind, was sich in feindseligen Begegnungen zwischen Gruppen mit oft tödlichem Ausgang äußert, unterhalten Bonobos eher friedliche Beziehungen zu anderen Gruppen, Begegnungen enden nicht tödlich.“

Männchen kämpfen um Revier
 
So formuliert es Martin Surbeck (Leipzig), und er ist in langjährigen Feldbeobachtungen den sozialen Folgen nachgegangen: Bei Schimpansen bleiben Weibchen und Männchen eher unter sich, die Männchen suchen Freunde und Verbündete unter anderen Männchen: Zusammen kämpfen sie um das Gruppenrevier, und bei internen Rangeleien sind männliche Verbündete auch hilfreich.

Bei Bonobos tun sich auch Weibchen zusammen – aber Männchen halten sich auch an Weibchen, oft Söhne an die Mütter, die helfen ihnen, den Rang in der Gruppe zu steigern (Roy. Soc. Open Science 3. 5.) „Das Führen von Kriegen scheint einen fundamentalen Einfluss auf die Struktur einer Gesellschaft zu haben“, schließt Surbeck.



aus derStandard.at, 6. Mai 2017, 09:00                                                                 Bonobo-Weibchen

Unsere Urahnen könnten Bonobos geglichen haben
Zwei Studien rollen eine alte Frage neu auf: Die nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Schimpanse, Bonobo und Mensch

Leipzig/Washington – Seit der Bonobo (Pan paniscus), vormals "Zwergschimpanse", Ende der 1920er Jahre als eigene Spezies identifiziert wurde, wogte eine Debatte darüber, ob nun er oder doch der Gemeine Schimpanse (Pan troglodytes) unser nächster Verwandter sei. Diese Diskussion hatte durchaus weltanschauliche Hintergedanken, denn die beiden engst miteinander verwandten Menschenaffenarten unterscheiden sich in ihrem Verhalten beträchtlich.

Ungleiche Verwandte

Spätestens seit dem "Schimpansenkrieg von Gombe" in den 1970er Jahren, einer mehrjährigen brutalen Auseinandersetzung zwischen zwei Schimpansengruppen, werden die Tiere zunehmend als ähnlich gewaltbereit wie der Mensch betrachtet.

Nimmt man die Popkultur als zuverlässiges Seismometer für diffuse Gefühlslagen, kann man den Imagewandel der Schimpansen an den "Planet der Affen"-Filmen ablesen: Waren sie in der Originalserie der späten 60er und frühen 70er in Kontrast zu den vermeintlich gewalttätigen Gorillas noch Ausgeburten von Vernunft und Friedfertigkeit, so kehrten sich im Remake von 2001 die Verhältnisse um: Ein Schimpanse übernahm nun die Schurkenrolle.

Demgegenüber gelten Bonobos geradezu als "Hippies". Die in matriarchalisch geführten Gruppen lebenden Tiere verzichten weitgehend aufs Kämpfen und lösen zwischenäffische Probleme bevorzugt mit Sex – in jeder denkbaren Konstellation. Beobachtungen in der jüngeren Vergangenheit haben zwar gezeigt, dass Bonobos keine hundertprozentigen Pazifisten sind – es kann zu Kämpfen kommen, und manchmal machen sie auch Jagd auf andere Affenarten. Im Vergleich zum Gemeinen Schimpansen (und uns) werden sie ihrem "Make love, not war"-Image aber gerecht.

Was den Verwandtschaftsgrad anbelangt, wird in der Primatenforschung mittlerweile von einer genetischen Äquidistanz ausgegangen: Bonobo und Schimpanse stehen uns gleich nahe. Der letzte gemeinsame Vorfahre aller drei heutigen Spezies soll vor etwa 8 Millionen Jahren gelebt haben. Dann spaltete sich die Stammlinie des Menschen ab. Die Trennung der beiden Menschenaffenarten erfolgte wesentlich später – vielleicht vor 2 Millionen Jahren, vielleicht sogar vor weniger als einer. 

Unterschiedliche Wege

Der Grund für die Trennung dürfte ein geografisches Hindernis gewesen sein: der Kongo-Fluss. Bonobos kommen nur südlich des Kongo vor und sind reine Regenwaldbewohner. Nach traditioneller Auffassung ist die Nahrungssuche in ihrem Verbreitungsgebiet leicht genug, um ein ruhiges Leben ohne größere Konkurrenzkämpfe mit benachbarten Bonobogruppen oder innerhalb der eigenen zu führen.


Schimpanse

In der aktuellen Ausgabe von "Royal Society Open Science" führen Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie diese These weiter. Bei Beobachtungen von Schimpansen- und Bonobogruppen in mehreren afrikanischen Ländern stellte das Team um Martin Surbeck einen durchgängigen Unterschied in den Sozialkontakten der beiden Spezies fest: Bonobos egal welchen Geschlechts wenden sich primär an Weibchen – und am liebsten an ihre Mütter. Bei Schimpansen hingegen herrscht eine viel stärkere Geschlechtertrennung.

Die Forscher vermuten, dass dies mit dem aggressiven Verhalten von Schimpansen zusammenhängt. Männchen kooperieren sowohl bei Jagden als auch bei den immer wieder stattfindenden Angriffen auf benachbarte Schimpansengruppen: zwei Faktoren, die bei Bonobos weitestgehend entfallen. "Das Führen von Kriegen scheint einen fundamentalen Einfluss auf die Struktur einer bestimmten Gesellschaft zu haben", philosophiert Surbeck. 

Bonobo-Mutter

Parallel dazu ist in "Scientific Reports" eine US-Studie erschienen, die den Bonobo ein kleines bisschen näher an den Menschen heranrückt als den Schimpansen – wenn auch nicht genetisch. Forscher um Rui Diogo von der Howard University in Washington gingen die anatomischen Merkmale der drei Spezies durch, insbesondere die Funktionalität der Muskulatur. Zuvor waren auch Erbgut-Analysen durchgeführt worden.

Die Forscher sprechen von einer "mosaikartigen" Evolution der drei Spezies: In einigen Aspekten ähneln Bonobos stärker Menschen als Schimpansen, in anderen ist es umgekehrt – und wieder andere Merkmalsausprägungen werden nur von Menschen und Schimpansen geteilt. Jede der beiden Menschenaffenarten teile mit dem Menschen etwa drei Prozent genetische Merkmale, die in der anderen nicht enthalten sind.

Der Urform am nächsten

Der wichtigste Befund aus der vergleichenden Analyse waren aber Hinweise darauf, dass sich die Anatomie der drei Arten im Lauf der Zeit unterschiedlich stark weiterentwickelt haben muss. Und die Bonobos – vielleicht weil sie in einem weitgehend unverändert gebliebenen Habitat zuhause sind – hätten sich körperlich am wenigsten verändert. 

Schimpansenkind

Was mit anderen Worten heißt: Die Bonobos hätten das Aussehen der gemeinsamen Stammform aller drei Spezies am stärksten bewahrt – und damit auch jenes Vorfahren des Menschen, der vor acht Millionen Jahren lebte. Allerdings betrifft dies nur das Äußere. Wie sich unser Urahn verhielt, ob friedlich oder kriegerisch, bleibt reine Spekulation. (jdo)

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Donnerstag, 4. Mai 2017

Der alte Maulwurf, oder Das garantierte Grundeinkommen.

aus Der Standard, Wien, 4. Mai 2017
 
"Bei Grundeinkommen in den USA wäre Trump nie Präsident geworden"
Für Populisten und Wutbürger wäre in einer Gesellschaft mit Grundeinkommen wenig Platz, glaubt Unternehmer Häni

Interview von Verena Kainrath

STANDARD: Sie fragen Menschen regelmäßig, was sie arbeiten würden, wenn für ihr Einkommen gesorgt wäre. Was würden Sie denn tun?

Häni: Das Gleiche, aber besser. Es geht beim bedingungslosen Grundeinkommen ja nicht um mehr Geld, sondern um mehr Freiheit. Könnten Menschen ihre Fähigkeit freier einbringen, würde das zu besseren Arbeitsresultaten führen und die Gesellschaft dynamisieren.

STANDARD: Was macht Sie so sicher, dass der Mensch im Grunde seiner Seele nicht doch ein Faulpelz ist?

Häni: Bei Kindern können Sie das gut beobachten: Wenn Sie ihnen was auftragen, ohne ihnen zu vermitteln, ob es Sinn macht, wollen sie es nicht machen. Dann ist Faulheit etwas Gesundes. Das Grundeinkommen setzt keinen besseren Menschen voraus, und es ist auch keine karitative Veranstaltung. Es geht darum, eine Gesellschaft durch weniger Bevormundung auf gesündere Beine zu stellen. 


STANDARD: Mit Einkommen, an das keinerlei Leistung geknüpft ist?

Häni: Menschen sind weniger manipulierbar und verführbar, ist ihre Existenz gesichert. Hätten die USA das bedingungslose Grundeinkommen, wäre Trump niemals Präsident geworden. In Österreich hätten populistische Bewegungen am rechten Rand weniger Zulauf. Wir hätten weniger Wutbürger, dafür mehr Mutbürger.

STANDARD: Eine These. Bisher hat jedoch keine einzige Gesellschaft Erfahrungen damit.

Häni: Sie haben recht. Meine Erfahrung aber ist, dass Menschen arbeiten wollen; sie wollen es nur selbstbestimmt tun. Zudem stecken wir durch die Digitalisierung im Umbruch. Fleiß und Gehorsam waren einst große Tugenden. In Zukunft sind wir mit ihnen schlecht aufgestellt. Was es braucht, sind keine gehorsamen, sondern kreative und selbstbestimmte Menschen. Das Grundeinkommen ist überfällig und nur eine Frage der Zeit. Offen ist, ob es aus der Not heraus kommen wird, oder ob wir es hinbringen, es uns gegenseitig zuzusprechen.

STANDARD: Gönnen Menschen ihren Mitmenschen eine Existenz ohne Bedingungen? Überschätzen Sie ihre Menschlichkeit nicht erheblich?

Häni: Das Gönnenkönnen müssen wir noch lernen. In der Schweiz waren bei der ersten Abstimmung 23,1 Prozent dafür. Das ist ein bemerkenswerter erster Schritt.

STANDARD: Werden die Schweizer weitere Anläufe dazu nehmen?

Häni: Ja. Wir haben sie am Abstimmungssonntag gefragt, ob sie denken, dass es eine zweite Abstimmung geben wird. 69 Prozent gingen davon aus. Es wird nicht heute oder morgen sein – aber vielleicht schneller, als wir denken.

STANDARD: Die Finnen und Niederländer experimentieren derzeit damit. Was hören Sie von ihnen?

Häni: Aus den Niederlanden gibt es noch keine Resultate, Finnland gibt nicht viel dazu her. Dort wird getestet, was passiert, ist Arbeitslosengeld an keine Bedingung geknüpft. Mit bedingungslosem Grundeinkommen hat das aber wenig zu tun.

STANDARD: In Österreich wird ein Mindesteinkommen diskutiert. Ist das für Sie eine Alternative?

Häni: Das ist ein Festhalten am alten System, ein Pflaster auf der infizierten Wunde. Man versucht, einen Schaden aus der Vergangenheit zu flicken. Dass man von der Erwerbsarbeit leben kann, muss selbstverständlich sein, alles andere ist eine Schande.

STANDARD: Auch ein Frauenvolksbegehren soll Baustellen beim Einkommen hierzulande beseitigen.

Häni: Eine weitere Schande ist es, dass unsere Gesellschaft Frauen derart benachteiligt. Das höchste Armuts- risiko ist es, Frau und alleinerziehend zu sein. Das Grundeinkommen ist eine gute Antwort darauf. Es ist uremanzipatorisch.

STANDARD: Die Gretchenfrage aber bleibt die Finanzierung.

Häni: Es ist kein zusätzliches Einkommen, wir müssen deswegen ja nicht mehr Geld drucken. Die entschei- dende Frage ist, warum wir es nicht wollen. Ist es Angst vor Machtverlust? Angst, man könne Menschen nicht an der Leine führen? Ich aber will in keiner Gesellschaft leben, in der die Toiletten geputzt werden, nur weil Leute, die das tun, Existenzangst haben. Mit Details der Finanzierung sollten wir uns nicht aufhalten, bevor der Grundsatz entschieden ist.

STANDARD: Und was wird aus den Jobs, die keiner machen will?

Häni: Die müssen wir besser wertschätzen. Wieso verdient die Kindergärtnerin weniger als der Investment- banker, obwohl ihre Arbeit wahrscheinlich wertvoller für die Gesellschaft ist? Investmentbanker schaffen sich im Übrigen durch die Digitalisierung selbst ab, weil Computer besser Lottospielen können als sie.

STANDARD: Was ist mit Sozialleistungen? Wer bezahlt Krankenversicherungen, Pensionen, Unterhalt? Was ist mit jenen, die zusätzliche staatliche Hilfestellung benötigen?

Häni: Keine soziale Errungenschaft wird abgeschafft. Wo höhere Sozialleistung nötig ist, wird sie natürlich bestehen bleiben. Es geht nicht um ein Sparprojekt.

STANDARD: Die Kluft zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Kritiker des Grundeinkommens sehen darin kein probates Mittel, um diese Entwicklung zu bremsen.

Häni: Es ist auch kein Umverteilungsprojekt von Geld, sondern eine Umverteilung von Macht. Es wird immer Menschen mit viel und mit weniger Geld geben. Aber Konkurrenz um die Existenz ist menschenunwürdig und verderblich. Gibt es den prekären Niedriglohnbereich nicht mehr, tut dies der gesamten Gesellschaft gut.

STANDARD: Die Wirtschaft leidet bereits jetzt unter Fachkräftemangel. Was, wenn sich das Gros der Leute entscheidet, lieber zu garteln, als sich zum Mechatroniker ausbilden zu lassen, lieber Bilder zu malen, als IT-Experte zu werden?

Häni: Die Menschen werden ihren Talenten mehr nachgehen, was zu einer höheren Qualifizierung führen wird. Unser Fachkräftemangel hat mit dem Schulsystem von heute zu tun: Und es braucht etwa für das Handwerk ebenso mehr Wertschätzung wie für den Bereich der Pflege.

STANDARD: Warum kam eine der Initialzündungen für das Grundeinkommen gerade aus der vermögenden Schweiz?

Häni: Es geht um großen zivilisatorischen Fortschritt, um unsere Gesellschaft auf die nächste Stufe zu bringen. Die Schweiz hat dazu mit der Volksabstimmung das richtige politische Instrument.

STANDARD: Würde die Schweiz mit einem Grundeinkommen nicht ein Magnet für Zuwanderer werden?

Häni: Nein, das Grundeinkommen ist migrationsneutral. Man müsste natürlich mit einer Frist regeln, ab wann und wie lange man dazu berechtigt ist.

STANDARD: Sie selbst kämpfen seit bald 30 Jahren fürs Grundeinkommen. Was treibt Sie dabei eigentlich an?

Häni: Ich habe den Eindruck, die Menschen arbeiten unter ihren Möglichkeiten. Hören wir doch endlich auf damit, ihnen die Lust am Leben zu nehmen. Viele sind frustriert, rennen im Halbschlaf rum, ducken sich und halten den Mund. Als Arzt würde ich mehr Selbstbestimmung und einen Schuss Anarchie verschreiben.

Daniel Häni (50) gründete die "Initiative Grundeinkommen" und war einer der führenden Köpfe hinter der Schweizer Volksabstimmung. Einst Hausbesetzer, führt er heute in Basel mit 80 Mitarbeitern das größte Kaffeehaus der Schweiz. Häni veröffentlichte jüngst mit Philip Kovce ein Manifest zum Grundeinkommen: "Was würdest Du arbeiten, wenn für Dein Einkommen gesorgt wäre?"

Homepage der Grundeinkommens-Initiative 


Nota. - Was passieren würde, wenn niemand mehr zu Erwerbsarbeit gezwungen würde, weil für seinen Lebensunterhalt gesorgt iat, sehen wir an unseren Kindern. Wovor ihnen am meisten graut, ist Langeweile, und wenn sie die Schule verabscheuen, dann aus diesem Grund. Dass Kinder nur das gern tun, was keine Anstrengung kostet, kann nur glauben, wer noch nie auf einem öffentlichen Sportplatz, nie in einer Badeanstalt und sogar noch nie in einem städtischen Park gewesen ist. Man muss sie im Gegenteil immer wieder mal bremsen und zur Ruhe anhalten; dann merken sie nach einer Viertelstunde, dass Muße nicht nur erbaulich ist, sondern sogar fesselnd sein kann.

Mit andern Worten, dass bei einem garantierten Grundeinkommen die Gesellschaft an Faulheit zugrunde ginge, ist keine Befürchtung, sondern eine wissentliche Lüge.  


Sicher wird es immer einen Grundbestand an Leuten geben, die von Natur träge sind. Den gibt es auch heute, auch heute wird er von den andern durchgeschleppt. Aber heute sind sie dabei gezwungen, etwas zu tun, was sie nicht gerne tun, und das tun sie schlecht. Unterm Strich schadet diese Sorte erzwungener Erwerbsarbeit der Gesellschaft. 


Weiß einer nicht, was ich meine? Der soll sich nurmal bei uns (Ich wohne in Berlin) in der Öffentlichen Ver- waltung umsehen!

* 

Auf die Frage nach der Finanzierbarkeit hat Häni die richtige Antwort gegeben: Die entscheidende Frage ist, warum wir es nicht wollen. 

In den westlichen Gesellschaftten ist die Produktivität der Arbeit - der Arbeit derer, die noch immer welche haben - so exorbitant, dass sie alle, die nicht arbeiten (wollen oder) dürfen, mühelos miternähren könnte, wenn die Gesellschaft dafür organisiert wäre. Das Dass steht außer Frage. Ein Wie wird sich selbstverständlich nicht finden lassen, wenn man es gar nicht erst will. Wenn man es aber will, wird man einen Weg finden. Was wie objektive Hindernisse aussieht, wird sich im Grunde auf subjektive Bedingungen zurückführen lassen.

Das ganze Problem liegt im Wollen. Wer nicht will und warum er nicht will - das muss die Kampagne ans Tageslicht bringen; das allein wäre schon all den Aufwand wert.
JE 



 

Dienstag, 2. Mai 2017

De Maizière im Wortlaut.

aus ZEIT ONLINE, 30. April 2017, 5:48 Uhr 

Leit­kul­tur für Deutsch­land – was ist das ei­gent­lich? 

Wer sind wir? Und wer wol­len wir sein? Als Ge­sell­schaft. Als Na­ti­on. Die Fra­gen sind leicht ge­stellt, die Ant­wor­ten schwer: Neil MacG­re­gor ver­sucht sie in sei­nen "Er­in­ne­run­gen einer Na­ti­on" auf über 600 und Die­t­er Borch­mey­er in "Was ist deutsch?" gar auf über 1000 Buch­sei­ten. 

Ei­ni­ge Dinge sind klar. Sie sind auch un­strei­tig: Wir ach­ten die Grund­rech­te und das Grund­ge­setz. Über allem steht die Wah­rung der Men­schen­wür­de. Wir sind ein de­mo­kra­ti­scher Rechts­staat. Wir spre­chen die­sel­be Spra­che, un­se­re Amts­spra­che ist Deutsch. Für all das haben wir ein Wort: Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus. Ein gutes Wort. Aber ist das alles? De­mo­kra­tie, Ach­tung der Ver­fas­sung und Men­schen­wür­de gel­ten in allen west­li­chen Ge­sell­schaf­ten.

Ich meine: Es gibt noch mehr. Es gibt so etwas wie eine "Leit­kul­tur für Deutsch­land". Man­che sto­ßen sich schon an dem Be­griff der "Leit­kul­tur". Das hat zu tun mit einer De­bat­te vor vie­len Jah­ren. Man kann das auch an­ders for­mu­lie­ren. Zum Bei­spiel so: Über Spra­che, Ver­fas­sung und Ach­tung der Grund­rech­te hin­aus gibt es etwas, was uns im In­ners­ten zu­sam­men­hält, was uns aus­macht und was uns von an­de­ren un­ter­schei­det.

Ich finde den Be­griff "Leit­kul­tur" gut und möch­te an ihm fest­hal­ten. Denn er hat zwei Wort­be­stand­tei­le. Zu­nächst das Wort Kul­tur. Das zeigt, worum es geht, näm­lich nicht um Rechts­re­geln, son­dern un­ge­schrie­be­ne Re­geln un­se­res Zu­sam­men­le­bens. Und das Wort "lei­ten" ist etwas an­de­res als vor­schrei­ben oder ver­pflich­ten. Viel­mehr geht es um das, was uns lei­tet, was uns wich­tig ist, was Richt­schnur ist. Eine sol­che Richt­schnur des Zu­sam­men­le­bens in Deutsch­land, das ist das, was ich unter Leit­kul­tur fasse.

Wer ist "wir"? Wer ge­hört dazu? Auch diese Frage wird oft ge­stellt und viel dis­ku­tiert. Für mich ist die Ant­wort klar: Wir – das sind zu­nächst ein­mal die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger un­se­res Lan­des. Nicht jeder, der sich für eine ge­wis­se Zeit in un­se­rem Land auf­hält, wird Teil un­se­res Lan­des. In un­se­rem Land gibt es dar­über hin­aus viele Men­schen, die seit lan­ger Zeit hier leben, ohne Staats­bür­ger zu sein – auch sie ge­hö­ren zu un­se­rem Land. Wenn ich aber von "wir" spre­che, dann meine ich zu­erst und zu­nächst die Staats­bür­ge­rin­nen und Staats­bür­ger un­se­res Lan­des.

Wenn wir eine Leit­kul­tur für Deutsch­land be­schrei­ben, sind wir den Be­den­ken einer un­dif­fe­ren­zier­ten Ver­all­ge­mei­ne­rung aus­ge­setzt. Wer Grund­sät­ze be­nennt, muss sich die Aus­nah­men vor­hal­ten las­sen. Das ist so. Und es stimmt: Es gibt viele Un­ter­schie­de in un­se­rem Land. Aber wer will be­strei­ten, dass es hier er­prob­te und wei­ter­zu­ge­ben­de Le­bens­ge­wohn­hei­ten gibt, die es wert sind, er­hal­ten zu wer­den? Wohl kaum je­mand. Über­zeu­gun­gen und Le­bens­ge­wohn­hei­ten hat auch kein Land nur für sich al­lein. Was in Deutsch­land gilt, kann ge­nau­so in Frank­reich gel­ten. Um­ge­kehrt ist auch rich­tig: An­de­re Län­der, an­de­re Sit­ten. Wenn eine Le­bens­ge­wohn­heit im Aus­land an­ders ist, ist sie eben an­ders als in Deutsch­land, nicht bes­ser oder schlech­ter. Es ist die Mi­schung, die ein Land ein­zig­ar­tig macht und die letzt­lich als Kul­tur be­zeich­net wer­den kann. Und ist es nicht auch genau das, was wir su­chen, wenn wir rei­sen – die Kul­tur des dann an­de­ren Lan­des; das Er­fah­ren eines an­de­ren Kul­tur­krei­ses, der uns den ei­ge­nen dann auch immer wie­der be­wusst macht?

Ich will mit ei­ni­gen The­sen zu einer Dis­kus­si­on ein­la­den über eine Leit­kul­tur für Deutsch­land.

1.  Wir legen Wert auf ei­ni­ge so­zia­le Ge­wohn­hei­ten, nicht weil sie In­halt, son­dern weil sie Aus­druck einer be­stimm­ten Hal­tung sind: Wir sagen un­se­ren Namen. Wir geben uns zur Be­grü­ßung die Hand. Bei De­mons­tra­tio­nen haben wir ein Ver­mum­mungs­ver­bot. "Ge­sicht zei­gen" – das ist Aus­druck un­se­res de­mo­kra­ti­schen Mit­ein­an­ders. Im All­tag ist es für uns von Be­deu­tung, ob wir bei un­se­ren Ge­sprächs­part­nern in ein freund­li­ches oder ein trau­ri­ges Ge­sicht bli­cken. Wir sind eine of­fe­ne Ge­sell­schaft. Wir zei­gen unser Ge­sicht. Wir sind nicht Burka.

2. Wir sehen Bil­dung und Er­zie­hung als Wert und nicht al­lein als In­stru­ment. Schü­ler ler­nen – manch­mal zu ihrem Un­ver­ständ­nis – auch das, was sie im spä­te­ren Be­rufs­le­ben wenig brau­chen. Ei­ni­ge for­dern daher, Schu­le solle stär­ker auf spä­te­re Be­ru­fe vor­be­rei­ten. Das ent­spricht aber nicht un­se­rem Ver­ständ­nis von Bil­dung. All­ge­mein­bil­dung hat einen Wert für sich. Die­ses Be­wusst­sein prägt unser Land.

3. Wir sehen Leis­tung als etwas an, auf das jeder Ein­zel­ne stolz sein kann. Über­all: im Sport, in der Ge­sell­schaft, in der Wis­sen­schaft, in der Po­li­tik oder in der Wirt­schaft. Wir for­dern Leis­tung. Leis­tung und Qua­li­tät brin­gen Wohl­stand. Der Leis­tungs­ge­dan­ke hat unser Land stark ge­macht. Wir leis­ten auch Hilfe, haben so­zia­le Si­che­rungs­sys­te­me und bie­ten Men­schen, die Hilfe brau­chen, die Hilfe der Ge­sell­schaft an. Als Land wol­len wir uns das leis­ten und als Land kön­nen wir uns das leis­ten. Auch auf diese Leis­tung sind wir stolz.

4. Wir sind Erben un­se­rer Ge­schich­te mit all ihren Höhen und Tie­fen. Un­se­re Ver­gan­gen­heit prägt un­se­re Ge­gen­wart und un­se­re Kul­tur. Wir sind Erben un­se­rer deut­schen Ge­schich­te. Für uns ist sie ein Rin­gen um die Deut­sche Ein­heit in Frei­heit und Frie­den mit un­se­ren Nach­barn, das Zu­sam­men­wach­sen der Län­der zu einem fö­de­ra­len Staat, das Rin­gen um Frei­heit und das Be­kennt­nis zu den tiefs­ten Tie­fen un­se­rer Ge­schich­te. Dazu ge­hört auch ein be­son­de­res Ver­hält­nis zum Exis­tenz­recht Is­raels.

5. Wir sind Kul­tur­na­ti­on. Kaum ein Land ist so ge­prägt von Kul­tur und Phi­lo­so­phie wie Deutsch­land. Deutsch­land hat gro­ßen Ein­fluss auf die kul­tu­rel­le Ent­wick­lung der gan­zen Welt ge­nom­men. Bach und Goe­the "ge­hö­ren" der gan­zen Welt und waren Deut­sche. Wir haben unser ei­ge­nes Ver­ständ­nis vom Stel­len­wert der Kul­tur in un­se­rer Ge­sell­schaft. Es ist selbst­ver­ständ­lich, dass bei einem po­li­ti­schen Fest­akt oder bei einem Schul­ju­bi­lä­um Musik ge­spielt wird. Bei der Er­öff­nung eines gro­ßen Kon­zert­hau­ses sind – wie selbst­ver­ständ­lich – Bun­des­prä­si­dent, Ver­tre­ter aus Re­gie­rung, Par­la­ment, Recht­spre­chung und Ge­sell­schaft vor Ort. Kaum ein Land hat zudem so viele Thea­ter pro Ein­woh­ner wie Deutsch­land. Jeder Land­kreis ist stolz auf seine Mu­sik­schu­le. Kul­tur in einem wei­ten Sinne, unser Blick dar­auf und das, was wir dafür tun, auch das ge­hört zu uns.

6. In un­se­rem Land ist Re­li­gi­on Kitt und nicht Keil der Ge­sell­schaft. Dafür ste­hen in un­se­rem Land die Kir­chen mit ihrem un­er­müd­li­chen Ein­satz für die Ge­sell­schaft. Sie ste­hen für die­sen Kitt – sie ver­bin­den Men­schen, nicht nur im Glau­ben, son­dern auch im täg­li­chen Leben, in Kitas und Schu­len, in Al­ten­hei­men und ak­ti­ver Ge­mein­de­ar­beit. Ein sol­cher Kitt für un­se­re Ge­sell­schaft ent­steht in der christ­li­chen Kir­che, in der Syn­ago­ge und in der Mo­schee. Wir er­in­nern in die­sem Jahr an 500 Jahre Re­for­ma­ti­on. Für die Tren­nung der christ­li­chen Kir­chen hat Eu­ro­pa, hat Deutsch­land einen hohen Preis ge­zahlt. Mit Krie­gen und jahr­hun­der­te­lan­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Deutsch­land ist von einem be­son­de­ren Staat-Kir­chen-Ver­hält­nis ge­prägt. Unser Staat ist welt­an­schau­lich neu­tral, aber den Kir­chen und Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten freund­lich zu­ge­wandt. Kirch­li­che Fei­er­ta­ge prä­gen den Rhyth­mus un­se­rer Jahre. Kirch­tür­me prä­gen un­se­re Land­schaft. Unser Land ist christ­lich ge­prägt. Wir leben im re­li­giö­sen Frie­den. Und die Grund­la­ge dafür ist der un­be­ding­te Vor­rang des Rechts über alle re­li­giö­sen Re­geln im staat­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen Zu­sam­men­le­ben.

7. Wir haben in un­se­rem Land eine Zi­vil­kul­tur bei der Re­ge­lung von Kon­flik­ten. Der Kom­pro­miss ist kon­sti­tu­tiv für die De­mo­kra­tie und unser Land. Viel­leicht sind wir stär­ker eine kon­sens­ori­en­tier­te Ge­sell­schaft als an­de­re Ge­sell­schaf­ten des Wes­tens. Zum Mehr­heits­prin­zip ge­hört der Min­der­hei­ten­schutz. Wir stö­ren uns daran, dass da ei­ni­ges ins Rut­schen ge­ra­ten ist. Für uns sind Re­spekt und To­le­ranz wich­tig. Wir ak­zep­tie­ren un­ter­schied­li­che Le­bens­for­men und wer dies ab­lehnt, stellt sich au­ßer­halb eines gro­ßen Kon­sen­ses. Ge­walt wird weder bei De­mons­tra­tio­nen noch an an­de­rer Stel­le ge­sell­schaft­lich ak­zep­tiert. Wir ver­knüp­fen Vor­stel­lun­gen von Ehre nicht mit Ge­walt.

8. Wir sind auf­ge­klär­te Pa­trio­ten. Ein auf­ge­klär­ter Pa­tri­ot liebt sein Land und hasst nicht an­de­re. Auch wir Deut­schen kön­nen es sein. "Und weil wir dies Land ver­bes­sern, lie­ben und be­schir­men wir‘s. Und das liebs­te mag‘s uns schei­nen, so wie an­dern Völ­kern ihrs", so heißt es in der Kin­der­hym­ne von Bert Brecht. Ja, wir hat­ten Pro­ble­me mit un­se­rem Pa­trio­tis­mus. Mal wurde er zum Na­tio­na­lis­mus, mal trau­ten sich viele nicht, sich zu Deutsch­land zu be­ken­nen. All das ist vor­bei, vor allem in der jün­ge­ren Ge­ne­ra­ti­on. Un­se­re Na­tio­nal­fah­ne und un­se­re Na­tio­nal­hym­ne sind selbst­ver­ständ­li­cher Teil un­se­res Pa­trio­tis­mus: Ei­nig­keit und Recht und Frei­heit.

9. Unser Land hatte viele Zä­su­ren zu be­wäl­ti­gen. Ei­ni­ge davon waren mit Grund­ent­schei­dun­gen ver­bun­den. Eine der wich­tigs­ten lau­tet: Wir sind Teil des Wes­tens. Kul­tu­rell, geis­tig und po­li­tisch. Die Nato schützt un­se­re Frei­heit. Sie ver­bin­det uns mit den USA, un­se­rem wich­tigs­ten au­ßer­eu­ro­päi­schen Freund und Part­ner. Als Deut­sche sind wir immer auch Eu­ro­pä­er. Deut­sche In­ter­es­sen sind oft am bes­ten durch Eu­ro­pa zu ver­tre­ten und zu ver­wirk­li­chen. Um­ge­kehrt wird Eu­ro­pa ohne ein star­kes Deutsch­land nicht ge­dei­hen. Wir sind viel­leicht das eu­ro­päischs­te Land in Eu­ro­pa – kein Land hat mehr Nach­barn als Deutsch­land. Die geo­gra­fi­sche Mit­tel­la­ge hat uns über Jahr­hun­der­te mit un­se­ren Nach­barn ge­formt, frü­her im Schwie­ri­gen, jetzt im Guten. Das prägt unser Den­ken und un­se­re Po­li­tik.

10. Wir haben ein ge­mein­sa­mes kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis für Orte und Er­in­ne­run­gen. Das Bran­den­bur­ger Tor und der 9. No­vem­ber sind zum Bei­spiel ein Teil sol­cher kol­lek­ti­ven Er­in­ne­run­gen. Oder auch der Ge­winn der Fuß­ball­welt­meis­ter­schaf­ten. Re­gio­na­les kommt hinzu: Kar­ne­val, Volks­fes­te. Die hei­mat­li­che Ver­wur­ze­lung, die Markt­plät­ze un­se­rer Städ­te. Die Ver­bun­den­heit mit Orten, Ge­rü­chen und Tra­di­tio­nen. Lands­mann­schaft­li­che Men­ta­li­tä­ten, die am Klang der Spra­che jeder er­kennt, ge­hö­ren zu uns und prä­gen unser Land.

Was folgt nun aus die­ser Auf­zäh­lung? Man­ches mag feh­len, an­de­res kann hin­zu­kom­men. Ist das ein Bil­dungs­ka­non, den alle wis­sen und ler­nen müs­sen, zum Bei­spiel in den 100 Stun­den der Ori­en­tie­rung in un­se­rem In­te­gra­ti­ons­kurs? Schön wär’s. Kann eine Leit­kul­tur vor­ge­schrie­ben wer­den? Ist sie ver­bind­lich? Nein. Wie der Name Kul­tur schon sagt, geht es hier nicht um vor­ge­schrie­be­ne Re­geln. Die Leit­kul­tur prägt und soll prä­gen. Sie kann und soll ver­mit­telt wer­den.

Leit­kul­tur kann und soll vor allem vor­ge­lebt wer­den. Wer sich sei­ner Leit­kul­tur si­cher ist, ist stark. Stär­ke und in­ne­re Si­cher­heit der ei­ge­nen Kul­tur führt zu To­le­ranz ge­gen­über an­de­ren. Leit­kul­tur ist also zu­nächst und vor allem das, was uns aus­macht. Wenn sie uns im bes­ten Sinne des Wor­tes lei­tet, dann wird sie ihre prä­gen­de Wir­kung auf an­de­re ent­fal­ten. Auch auf die, die zu uns kom­men und blei­ben dür­fen. Ihnen rei­chen wir un­se­re aus­ge­streck­te Hand.

Was aber ge­schieht nun mit den­je­ni­gen, die zu uns ge­kom­men sind, die hier eine Blei­be­per­spek­ti­ve haben, die den­noch aber eine sol­che Leit­kul­tur weder ken­nen, viel­leicht nicht ken­nen wol­len oder gar ab­leh­nen? Bei denen wird die In­te­gra­ti­on wohl kaum ge­lin­gen. Denn zu­ge­hö­rig wer­den sie sich nicht füh­len ohne Kennt­nis und je­den­falls Ach­tung un­se­rer Leit­kul­tur.

In un­se­rem Um­gang mit die­sen Men­schen soll­te uns eine Un­ter­schei­dung lei­ten: Die Un­ter­schei­dung zwi­schen dem Un­ver­han­del­ba­ren und dem Aus­halt­ba­ren. Das Un­ver­han­del­ba­re wer­den wir nicht auf­ge­ben, wir müs­sen auf des­sen Ein­hal­ten be­ste­hen. Dazu ge­hö­ren neben den For­de­run­gen nach Straf­lo­sig­keit und Ach­tung un­se­rer Grund­wer­te auch die Ein­hal­tung von Re­spekt im Mit­ein­an­der und die Herr­schaft des Rechts vor der Re­li­gi­on. Wir blei­ben – un­ver­han­del­bar – Teil des Wes­tens, stol­ze Eu­ro­pä­er und auf­ge­klär­te Pa­trio­ten. Vor allem die Men­schen­wür­de ist für uns un­ver­han­del­bar, auch im Um­gang der Men­schen un­ter­ein­an­der.

Aus­hal­ten müs­sen wir da­ge­gen si­cher ei­ni­ges. Das lässt un­se­re To­le­ranz auch zu. Wenn wir aber dar­auf ach­ten, dass wir uns un­se­rer Leit­kul­tur be­wusst sind und sie vor­le­ben, dann wis­sen wir um die Stär­ke die­ser Leit­kul­tur, kön­nen ei­ni­ges aus­hal­ten und müs­sen we­ni­ger aus­hal­ten, je über­zeu­gen­der un­se­re Leit­kul­tur wirkt. Wenn wir uns klar dar­über sind, was uns aus­macht, was un­se­re Leit­kul­tur ist, wer wir sind und wer wir sein wol­len, wird der Zu­sam­men­halt sta­bil blei­ben, dann wird auch In­te­gra­ti­on ge­lin­gen – heute und in Zu­kunft. 

Thomas de Maizière


Nota. - Das ist alles trivial. Das soll es aber auch sein: nämlich so, dass keiner im Ernst widersprechen kann. Aber dürfte: So steht es in dem Text ja drin. 

Freilich könnte man - Sie und ich und jeder, der sich aufgerufen fühlt - an jeder Stelle eine Handvoll abers anfügen: Dies müsste man weiter ausführen, jenes mitberücksichtigen und anderes einschränken. Das liegt in der Natur solcher Texte, darauf wollen sie ja hinaus, und das wird in den kommenden Tagen reichlich, wahr- scheinlich überreichlich geschehen.

Die ganze Aufregung reduziert sich am Ende wirklich bloß um den Gebrauch des Wortes Leitkultur. Das finde ich auch unglücklich. Kultur bezeichnet etwas Gegebenes. Etwas historisch Gewordenes. Sie ist die sachliche Voraussetzung, wirkliche Bedingung jedweder gesellschaftlich erheblichen Tätigkeit. Das ist genug gesagt. 

Ob sie aber, nachdem sie einmal so und nicht anders geworden ist, auch weiterhin so und nicht anders werden soll, dass sie also die Richtung vorgibt und leitet, muss jede Generation neu ausmachen. Sie ist der Ausgangs- punkt, den man sich nicht frei aussuchen kann. Ein Rahmen. Über die Richtung muss allezeit neu verhandelt werden, das ist ja der Zweck demokratischer Verfassungen. Demokratie ist nicht Konsens über Korrektheiten, sondern Meinungskampf.
JE