Abendland.





Der wichtigste Beitrag des Christentums zum Abendland war die weltliche Macht seiner Kirche.
 

Der bedeutendste Beitrag des Christentums zum Abendland war die Verbindung des Monotheismus mit einem sakramentalen Priestertum.

Erst diese Verbindung hat die Entstehung einer Kirche mit universellem Anspruch möglich gemacht. Warum unter den vielen konkurrierenden Religionen des römischen Reichs sich gerade das Christentum durchsetzen konnte, ist eine viel diskutierte Frage. Dass Kaiser Konstantin sich zu dieser Sekte bekehrte, hätte historisch ebenso folgenlos bleiben können, wie das Bekenntnis seines Vorgängers Aurelian zu Sol invictus - das der ja auch zum Staatskult erhoben hatte. Dass es das nicht blieb, hat seinerseits mit dem (etwas zu) universellen Charakter dieser Lehre zu tun.
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Als das römische Reich aus einander fiel, blieb als einzig verbindende zivilisierende Instanz in Europa die römische Geistlichkeit zurück. Dass nicht alle römischen Städte jenseits er Alpen von den Barbaren ausradiert wurden, verdanken sie den Bischofssitzen. Ohne sie war das Erbe der antiken Kultur für die neuen germanischen Reiche nicht zu retten. Das erkannte Karl der Große – als die römische Kirche die einzige Macht war, die ihm in Europa noch entgegenstand. Durch das Bündnis mit ihr unterlegte er seinem Reich eine Verwaltungsstruktur, die es vor dem alsbaldigen Zerfall bewahrte, der alle andern germanischen Staatsgründungen traf. Nicht zu reden von der unvergleichlichen Macht, die die Reichsidee durch ihre geistliche Weihe hinzu gewann.

 

Allerdings machte er das Kaisertum ebenso von der Kirche abhängig, wie diese von ihm, und wie das ausging, ist bekannt.

Aber gerade dies macht den abendländischen Sonderweg aus: dass sich das geistige Leben aus der Verquickung mit dem religiösen Glauben befreien konnte, weil sich die weltliche Macht in der Kirche einem Nebenbuhler gegenüber sah, aus dessen Umarmung sie sich lösen und den sie sich zu unterwerfen hatte. Nur im christliche Europa war der Mensch zwei ebenbürtigen Autoritäten zugleich hörig, nirgends sonst war die willige Unterwerfung unter den Herr- scher der Welt nur mit bösem Gewissen möglich, nirgends sonst stand der weltliche Geist allezeit unter dem Schutz eines Arms, der ein Schwert hielt.

 

Der sächsische Kurfürst hat Luther beschützt. Zum Dank haben die Lutheraner ihre Landesfürsten zu Landes- bischöfen gemacht. Der Reformation verdankt Europa den Aufbruch ins wissenschaftliche Zeitalter, und verdankt das nördliche Deutschland die selbstgerechte Bigotterie seiner Bürgerschaften, die dort bis heut die Kehlen schnürt.




Der geistige Beitrag des Christentums zum Abendland

Der wesentliche geistige* Beitrag des Christentums zur abendländischen Welt- und Lebensauffassung war die Idee, das Leben als Werk aufzufassen – an dem ich scheitern kann; und die Entscheidung über Scheitern und Gelingen dem unergründlichen Ratschluss eines Unbekannten zu überantworten! Mit andern Worten, die Menschen zu lehren, dass der Sinn des Lebens darin besteht, dass man nach ihm fragt, ohne eine Antwort zu erwarten. “Der Weg ist das Ziel.” 

Und wenn man es radikal fasst, führt es zu dem Schluss, dass man… nichts glauben kann. Der Beitrag des Christen- tums zum spezifisch Abendländischen am Abendland war, dass nur diese Religion die innere Tendenz hat, sich selber zu erübrigen.

*) Das ist die Software; betr. Hardware siehe hier





Die große europäische Kulturrevolution


                                                            
Die größte kulturelle Leistung der Menschheit seit der Erfindung des Ackerbaus war die Entstehung von Öffent- lichkeit. Erst sie hat Privatheit möglich gemacht - und die freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Erst sie hat Wissenschaft möglich gemacht - und Vernunft überhaupt. Nur in der Öffentlichkeit kann das Indivi- duum sich zum autonomen Subjekt ausbilden - und für den Schutz seiner Privatheit sorgen. Nur sie macht ein freiheitliches Gemeinwesen möglich.


Nur im Unterschied zur Privatheit kann es Öffentlichkeit geben. Öffentlichkeit kann nur bestehen, wo Recht herrscht. Recht kann nur herrschen als gleiches für alle; und rechtliche Gleichheit ist nur möglich unter der Herr- schaft von Öffentlichkeit. Alles, was wir als Bausteine westlicher Kultur erachten, bedarf als seines Mediums der Öffentlichkeit. Sie ist A und Ω der Moderne, mit ihr endet das Mittelalter.

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Ein zivilisatorisches Problem ist das Internet, weil es die Scheidung von öffentlich und privat untergräbt.

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Ein gesellschaftspolitisches Problem wird Massenmigration, wenn sie in westliche Länder stattfindet aus Kulturen, die die Scheidung von öffentlich und privat nicht kennen - und deren Religion sich ihr womöglich widersetzt. 

27. 7. 18





Abendland heißt Aufklärung.

aus nzz.ch, 29.12.2019                                                                               Galileis Astrolab

Das Mittelalter war nicht einfach dunkel, und die Aufklärung begann schon in der Antike: 
Über ein paar moderne Missverständnisse
Wir Modernen neigen dazu, die eigene Zeit zu überhöhen. Aber wir sind gar nicht so aufgeklärt, wie wir gerne denken. Dafür waren unsere Ahnen moderner, als wir dies wahrhaben wollen – zum Beispiel die Mönche.

von Martin Rhonheimer 

Im Mittelalter glaubten Theologen und andere Gebildete, die Erde sei eine flache Scheibe. Wer sich zu weit aufs Meer hinauswage, riskiere deshalb, in einen Abgrund zu stürzen.

Wie der österreichische Historiker Roland Bernhard nachgewiesen hat, dominiert diese Legende auch heute noch vor allem deutschsprachige Schulbücher. Sie wird zuweilen auch in seriösen Medien verbreitet und lässt sich ungestraft im Smalltalk zum Besten geben, um auf die intellektuelle Unbedarftheit des Mittelalters hinzuweisen.

Doch aufgepasst. Die Mär von einem mittelalterlichen Glauben an die Scheibengestalt der Erde stammt aus dem 19. Jahrhundert. Man wollte dem finsteren und abergläubischen Mittelalter den wissenschaftlichen Glanz der Aufklärung entgegenstellen, deren spezifische Leistung heute oft mit der von Max Weber in seinem Vortrag «Wissenschaft als Beruf» (1919) geprägten Metapher «Entzauberung der Welt» charakterisiert wird – zu Unrecht. Den Beginn dieser «Entzauberung» verortete Weber nämlich selbst in der griechischen Antike. 

Das rationale Handeln der Mönche 

Und in der Tat: Seit Platon und Aristoteles hielt man die Erde für kugelförmig – auch die Gebildeten des Mittelalters, Naturphilosophen und Theologen, waren von der Kugelgestalt der Erde überzeugt. Kolumbus brauchte keine Angst zu haben, bei seiner Fahrt Richtung Westen in einen Abgrund zu stürzen. Die Kugelgestalt der Erde, schon seit Jahrhunderten durch Berechnungen erhärtet, war für ihn und seine Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit.

«Entzauberung der Welt» war für Max Weber der «in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende» sich fortsetzende Prozess der «zunehmenden Intellektualisierung und Rationalisierung». Dies bedeute vor allem: «Nicht mehr wie der Wilde», für den es «geheimnisvolle, unberechenbare Mächte» gab, «muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.»


Exakt darin bestand etwa die zivilisatorische Leistung des frühmittelalterlichen Mönchtums, in dessen Rahmen der «Abt als Agrarfachmann und Ingenieur» (Dieter Hägermann) den im heidnischen Aberglauben gefangenen Bauern die Angst vor Fluss- und Baumgeistern nahm und sie produktive Ackerbautechniken lehrte. Die zahlreichen technischen Innovationen des Mittelalters wie drehbare Vorderachsen, Bremsen und Kummet, die das Transportwesen revolutionierten, Wasser- und Windmühlen, die Nockenwelle, Räderpflug und Hufeisen, Dreifelderwirtschaft, Glockenguss und Drahtziehen, Spinnrad und Tretwebstuhl, Farbenherstellung und ‑mischung, mechanische Uhren, optische Linsen und Brillen und vieles mehr sind Folge eines neuen Arbeitsethos.

Wer sich nicht um Technik kümmere, sei töricht, schrieb 1122/23 der Benediktinermönch Theophylus Presbyter in seiner «Schedula de diversis artibus». Und der Theologe Hugo von St. Victor, gestorben 1141, fügte in einem Lehrbuch den bekannten sieben «Freien Künsten» sieben «Künste der Mechanik» hinzu.

Das frühmittelalterliche Mönchtum hatte die negative Einschätzung der Arbeit, wie sie in der Antike dominierte, in radikaler Weise verändert. «Arbeit» wurde schon von Augustinus als der ursprüngliche Schöpfungsauftrag an den Menschen reflektiert, nach dem Sündenfall zwar beschwerlich, aber weiterhin der Weg, um den ursprünglichen Auftrag «Macht euch die Erde untertan!» zu erfüllen. Mit dem Glauben des «Wilden» an «geheimnisvolle, unberechenbare Mächte» war das nicht vereinbar. 


Das helle Mittelalter


Die Welt als göttliche Schöpfung und, wie die Bibel lehrte, den Menschen als Ebenbild Gottes zu verstehen, bedeutete aber auch ein Zweites: Die Welt ist für den menschlichen Geist erkennbar. Hier trafen griechische Wissenschaft und christlicher Schöpfungsglaube aufeinander. Denn für die christliche Theologie ist der menschliche Geist dem göttlichen Geist, der die Natur gedacht und sein Denken in sie hineingelegt hat, nachgebildet. Somit kann der Mensch ihre Geheimnisse entschlüsseln. 

Erbe der griechischen Wissenschaften Mathematik, Physik und Biologie war vor allem das christliche Mittelalter. Gemäss der islamischen Auffassung von göttlicher Allmacht konnte die Schöpfung nicht einer gesetzmässigen Ordnung gemäss strukturiert sein – es widerspräche der Freiheit Gottes. Deshalb verbannte der Islam die griechischen Wissenschaften, insbesondere die Physik, zunehmend aus seinen Schulen. 

Astronomie betrieb man vor allem, um die rituellen Gebetszeiten genauer berechnen zu können. Der bedeutende syrische Astronom Ibn al-Shatir (1304–1375) etwa war als muwaqquit – Zeitnehmer – in einer Moschee von Damaskus angestellt. Seine christlichen Kollegen hingegen lehrten an Universitäten und rezipierten die Lehren des muslimischen Aristoteles-Kommentators Averroes (Ibn Rushd), der als «Rationalist» von seinen Glaubensbrüdern verfolgt wurde. 

Die mittelalterlichen Universitäten waren körperschaftlich organisierte Freiräume für wissenschaftliches Arbeiten und Disputieren, in der auch die von Aristoteles geprägte Physik als Naturphilosophie eine bedeutende Stellung innehatte. Ihre Verankerung im universitären Curriculum bildete die institutionelle Voraussetzung für das Entstehen der modernen Naturwissenschaft.

Die anthropozentrische Wende

Auch Galilei entstammte dieser akademischen Tradition, stellte sich aber als erster ihrer aristotelischen Prägung entgegen – mit nicht weniger Entschiedenheit, wie vor ihm Kopernikus gegen die bloss Rechenmodelle, aber keine Wahrheitserkenntnis produzierende ptolemäische Astronomie polemisiert hatte. Das taten sie beide als Christen: Galilei, weil er überzeugt war, dass die Natur von ihrem Schöpfer in mathematischer Schrift geschrieben wurde, die dem Menschen verständlich sei. Kopernikus, weil er die ptolemäische Überzeugung der erkenntnismässigen Unzugänglichkeit der wahren Himmelsbewegungen aufgab, um sich nun, wie er in der Einleitung zu seinem Hauptwerk schrieb, der wirklichkeitsgetreuen Erkenntnis der Bewegungen der Weltmaschine zuzuwenden, «die um unseretwillen vom besten und genausten aller Werkmeister gebaut ist». 

Entlarvt wird damit auch die Legende von der «Kränkung», die der Heliozentrismus dem noch dem Mittelalter verhafteten Menschen angeblich zugefügt habe. Die «kopernikanische Wende» war das genaue Gegenteil jener angeblichen Entthronung der menschlichen Fähigkeit, die «Wahrheit der Dinge» zu erkennen, wie sie Kant in der Vorrede zu seiner «Kritik der reinen Vernunft» beschrieb. 

Sie war in Wirklichkeit schöpfungstheologisch begründete Anthropozentrik: Weil der Mensch am schöpferischen Intellekt Gottes teilhat, ist das ganze Universum seiner Erkenntnis auch zugänglich. Der gottebenbildliche Mensch sieht sich nun gerade wegen seiner Erkenntnisfähigkeit in den Mittelpunkt des «um unseretwillen» so erschaffenen Universums gestellt – dass er dabei um die Sonne kreist und sie nicht um ihn, vermag ihn nicht zu kränken.
 
In Wirklichkeit war die seit der Antike diskutierte Heliozentrik für das christliche Mittelalter nie ein grundsätzliches Problem gewesen. Nikolaus von Oresme etwa, Bischof von Lisieux (gestorben 1382), machte sich, wenngleich mit unzulänglichen Argumenten, im 14. Jahrhundert dafür stark. Auch Thomas von Aquin hatte darin eine denkbare Möglichkeit gesehen, denn «was als Bewegung erscheint, wird entweder durch die Bewegung des Beobachteten oder durch die Bewegung des Beobachters verursacht». Doch hielt er die physikalischen Argumente des Aristoteles zugunsten der Mittelstellung der Erde für die besseren.
 
Wie schon Kopernikus hatte auch Galilei keine physikalischen Beweise für das Kreisen der Erde um die Sonne. Galilei verhöhnte stattdessen öffentlich seine Gegner als Anhänger des ptolemäischen Systems, obwohl sie bereits das geozentrische Modell des Tycho Brahe verfochten, das rein mathematisch dem kopernikanischen äquivalent war. Galileis Hauptgegner in der Kurie, Kardinal Bellarmin, meinte, falls man Beweise für die Erdbewegung um die Sonne finde, müsse man die Interpretation der Heiligen Schrift entsprechend anpassen.
 
Das Problem war: Es gab keine. Dass die kirchlichen Gegner Galileis wissenschaftliche Beweise verlangten, zeigt, dass auch sie sich der Logik des seit Jahrhunderten fortschreitenden Prozesses der «Entzauberung der Welt» nicht zu entziehen vermochten.

Auch Darwin war ein Christ 

Max Weber vertrat in seinem Vortrag von 1919 die Ansicht, erst durch den Einfluss des Protestantismus habe man die Struktur des Universums als Ausdruck der Vorsehung Gottes verstanden und damit «in den exakten Naturwissenschaften (. . .), wo man seine Werke physisch greifen konnte» zu hoffen begonnen, «seinen Absichten mit der Welt auf die Spur zu kommen». Das zeugt von Unkenntnis der mittelalterlichen Schöpfungsmetaphysik, auf deren Boden Kopernikus und Galilei standen. Ihr gemäss hatte Gott eine Natur erschaffen, der er den Plan seiner Vorsehung als eigenständige Kausalität – sogenannte «Sekundärursa- chen» – eingegeben hat, «so wie wenn ein Schiffsbauer einem Stück Holz die Fähigkeit verliehen hätte, sich selbst zu einem Schiff zu entwickeln» (Thomas v. Aquin). 

Noch Charles Darwin argumentierte in seinem Hauptwerk «The Origins of Species» gegen jene, die – nicht im Sinne des Mittelalters, sondern gemäss protestantischem Biblizismus – an der unmittelbaren Erschaffung jeder Spezies durch Gott festhalten wollten. Ihm scheine es, so schrieb er, «aufgrund dessen, was wir über die Gesetze wissen, die der Schöpfer der Materie eingegeben hat», plausibler, den Prozess der Evolution der Wirksamkeit von «secondary causes» zuzuschreiben. 

Damit stand Darwin zum Zeitpunkt seiner grossen Entdeckung noch ganz auf dem Boden des christlich-mittelalterlichen Naturbegriffs. Um die Natur als System von Sekundärursachen zu entschlüsseln, bedurfte es lediglich neuer wissenschaftlicher Methoden, wie sie erst die Naturwissenschaften der Neuzeit zu entwickeln begannen. 

Das war sehr wohl eine neue Etappe im Prozess der Entzauberung der Welt, nicht aber dessen Beginn. Die wissenschaftliche Vernunft der Neuzeit gegen das «finstere Mittelalter» auszuspielen, zeugt von Unwissenheit, die eines aufgeklärten Geistes nicht würdig ist.

Martin Rhonheimer ist Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien, wo er gegenwärtig lebt. Als Letztes ist von ihm das Buch «Homo sapiens: die Krone der Schöpfung. Herausforderungen der Evolutionstheorie und die Antwort der Philosophie» (Springer-Verlag 2016) erschienen.


Nota. - Die Legende vom finsteren Mittelalter hat sich erst im 19. Jahrhundert recht durchsetzen können, als Gegenstück zum Mythos vom unwiderstehlchen Fortschritt der neuen, positiven Wissenschaft: Nur wem die Gegenwart leuchtet, kann die Vergangenheit dunkel finden. Den gebildeten Ständen mag ihre Zeit stets etwas heller vorgekommen sein als den armen Ungebildeten. Das eigentliche Besondere an der abendländischen Auf- klärungsgeschichte ist, dass sie schließlich die Massen erfasst hat, die eo ipso ungebildet nicht blieben - und nicht ewig arm. Was beides Voraussetzung für ihr Dauerhaftigkeit - Nachhaltigkeit, sagt der Zeitgenosse - ist.

Das macht die Sonderstellung des Abendlands unter den Kulturen der Welt aus. Dies zu verstehen fällt schwe- rer, wenn man die Bildungsgeschichte des Abendland nicht als einen kontinuierlichen und sich verallgemeinern- den Prozess auffasst, sondern als unterbrochen, zurückgeworfen durch das schwarze Loch einer barbarischen Zwischenepoche.

Rhonheimer hat Recht, wenn er die Verdienste der christlichen Mönchsorden nicht nur um die geistliche, son- dern auch um die technisch-wissenschaftliche Bildung ihrer Zeit hervorhebt - und die Ausbildung eines Arbeits- ethos insbesonders. Aber das Mönchtum war nur eine Facette der katholischen Religiosität. Der Machtapprat des irdischen Leibs Christi war eine andere, längst nicht so dynamische; wenn auch ohne deren Rivalität mit den weltlichen Mächten die Ausbildung der spezifisch westlichen, repräsentativen Staatlichkeit kaum stattgehabt hätte. 

Und nicht alle Orden waren auf den selben Feldern profiliert. Rhonheimer spricht für seine Kirche, da zieht er - zeitgemäß - die wertätigen und weltzugewandten Bruderschaften vor. Doch nicht minder bedeutend für die Aus- bildung des Westens waren die scholastischen, spekulativen Dominkaner und Franziskaner; die einen als Be- wahrer der frühchristlichen platonischen Überlieferung, die andern als ihre aristotelischen Opponenten. Deren Scharmützel betrafen wirklich nur eine hauchdünne Schicht, aber die prägte eben die Bildung der herrschenden Stände. Allein schon, dass es eine Theo-Logie  überhaupt geben kann, unterscheidet die christlichen Religionen von allen andern: ein menschliches Wissen von Gott - mit all der Paradoxie, die das mit sich bringt und die min- destens der Islam mit seiner Leugnung menschlicher Wissensfähigkeit einfach aus sich ausscheidet (und die allenfalls bei den auch heute wieder verfolgten Mystikern ein unsicheres Unterkommen hat).

Überhaupt ist es der Umstand, dass die römische Kirche kein Monolith mit einem Big Brother an der Spitze war, sondern selber ein Abbild der vielfach gebrochenen, zersplitterten und verfehdeten Feudalwelt, die eher als en- demischer Bürgerkrieg erscheint denn eine als geregelte Ordnung - der ihr erlaubt hat, die westliche Mentalität bis heute zu prägen. Ein allgemeines Gegeneinander, in dem sich wie in darwinscher Auslese und Anpassung stets ein Lebendiges erhält, das nicht wie in anderen Kulturen immer wieder vom Aussterben bedroht ist. Das war der Humus, aus dem eine bürgerliche Gesellschaft entstehen konnte.
JE





Zwei Instanzen für Herz und Verstand.
Allegorie auf Kunst und Wissenschaft, Süddeutschland um 1600

"Dass Die Kunst im Abendland seit der Renaissance eine gesellschaftliche Instanz geworden ist, ebenso und zur selben Zeit wie auf dem Gegenpol Die Wissenschaft, ist ein kulturgeschichtliches Faktum, das kein Laie bestreiten wird, und wie die Akteure der Wissenschaft sind die Akteure der Kunst zu einem gesellschaftlich, nämlich durch den Markt bestimmten Stand geworden."*

Das ist eine der vielen Besonderheiten der abendländischen Kultur, für die es anderweitig keine Parallelen gibt. Es ist aber auch eine Besonderheit der Neuzeit. Sie datiert, grob gesagt, seit dem 16. Jahrhundert: seit dem Beginn dessen, was wir unsere Aufklärung nennen.

Haben sich beide Pole gemeinsam aus dem Nichts entwickelt? Haben sie ihre – womöglich einen gemeinsamen – Vorläufer? Oder anders: Was musste geschehen, damit sie entstehen konnten? 

Geschehen ist im 16. Jahrhundert der Zerfall der einen allein selig machenden Kirche. Die Reformation hat den Glauben zersetzt und zu einer Angelegenheit des persönlichen Bekenntnisses werden lassen. Die Römische Kirche war, wie die Ostkirche,** nicht einfach eine Institution (neben anderen), sondern eine gesellschaftliche Instanz, die wie die weltliche Macht über dem agrarisch-kleinbürgerlichen Alltag stand. 

Was an Geschmacksbildung, was an Wissen, was an Kult geschah, kurz: Herz und Verstand unterstanden ihrer Hoheit. Der Adel war zunächst nur fürs Kriegfüh-ren und Erobern zuständig. Erst mit dem Abschluss der Landnahme und der Stabilisierung der feudalen Ordnung entstand eine höfische Kultur, die an den ländlichen Adelssitzen mit den Bischofsstädten und Ordensburgen rivalisieren konnte, während zugleich die Kirche zu einem weltlichen Feudalherrn aufwuchs. Ein jeder Christenmensch lebte im Bewusstsein, jederzeit zwei legitimen Herrn zu dienen.

Was nicht Krieg, Ackerbau, Handwerk und Handel war, was immer über den Tageshorizont hinauswies, unterlag bis zur Reformation kirchlicher Wegweisung. Als sich dann die rivalisierenden reformierten und gegenreformierten Kir-chen gegeneinander in den Schutz der weltlichen Herrschaft duckten, wurde eine - nein, wurden wenigstens zwei Stellen frei, für deren Besetzung die eben entstehende bürgerliche Gesellschaft selbst zu sorgen hatte: für das Herz die Kunst, für den Verstand die Wissenschaft, beide erhaben über den Alltagsgeschäften; während die weltliche Macht immer mehr als deren Störer und Hindernis erschien. Zwei Instanzen als Quell gesellschaftlicher Legitimität; doch diesmal eine immer nur auf Kosten der andern.

*) aus Kunst als gesellschaftliche Instanz.

**) Aber die wurde nie zum Rivalen ihres Kaisers, und auch der Moskauer Patriarch blieb stets ein Diener des Zaren. Das war ein wesentlicher Unterschied zum feudalen Westen; sie wurden (daher?) auch nicht (gegen-)reformiert.




Kunst als gesellschaftliche Instanz.


R. Mengs Apollo Mnemosyne und die neun Musen

"Wann und wie die Kunst ins Spiel kommt, das ist das Geheimnis, für das eine Erklärung gesucht werden muss, und zwar eine, die auch nüchterner Betrachtung einigermaßen standhält. An solchen Erklärungen fehlt es bis heute." Das bekümmert mich wohl, dass Peter Meyer gar keine Notiz von mir nimmt, wo ich ihm doch längst die Ehre erwiesen habe, aber mein kleiner Blog erfährt nicht dieselbe Beachtung wie die NZZ, das habe ich mir fast schon gedacht.

Mit andern Worten, ich habe eine solche Erklärung vorgetragen. Aber anders als P. Meyer verlege ich die Entstehung von Kunst nicht in die Rezeption, sondern in die Produktion der Werke. Genauer gesagt, nicht in die Rezipienten, sondern in die Produzenten. Das ist gar keine philosophische Frage. Ganz pragmatisch besehen, lässt sich 'das Kunsterleben' einer amorphen Menge Publikum einfach nicht objektivieren. Anders ist es mit den Künstlern. Dass Die Kunst im Abendland seit der Renaissance eine gesellschaftliche Instanz geworden ist, ebenso und zur selben Zeit wie auf dem Gegenpol Die Wissenschaft, ist ein kulturgeschichtliches Faktum, das kein Laie bestreiten wird, und wie die Akteure der Wissenschaft sind die Akteure der Kunst zu einem gesellschaftlich, nämlich durch den Markt bestimmten Stand geworden. Das lässt sich objektivieren und in ganz nüchterne Worte fassen. Auf die Frage, ob Jeff Koons Puppy in Bilbao ein Kunstwerk ist, ist das keine Antwort, aber das Auszählen der Leute, die bei seinem Anblick ein Kunsterlebnis hatten, gäbe sie auch nicht; von der Qualität und Intensität des Erlebens gar nicht zu reden. Dass Jeff Koons dem Stand der Künstler angehört, und wie!, ist jedoch ein harter Fakt.

Doch dies gebe ich zu: Der unübersehbare und offenbar elementare Zusammenhang der Kunst mit dem Ästhetischen wird durch meine Erklärung noch ein ganzes Stück geheimnisvoller als durch die von Peter Meyer. Aber das soll sie ruhig, das ist mir recht.





 

 

 

 

 

 



Und was ich noch sagen wollte...  
...über Wölfflins "Naturgeschichte" der Stilepochen:

... dass es eine Abfolge von Stilepochen – und folglich den Eindruck von einem Fortschritt in der Kunst – anscheinend nur im Abendland gegeben hat.

Das wäre in ästhetischer Hinsicht schon bemerkenswert genug. Ich füge aber noch hinzu: Dass das so ist, hat selbst keinen ästhetischen Grund. Der historische Grund ist vielmehr die Ausbildung einer Öffentlichkeit, und das ist gleichbedeutend mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft.

Dass der Geschmack der Individuen schwankt, ist offenkundig. Dass der Geschmack Erfahrungen sammelt nicht minder. Danach schwankt er viel weniger. Wenn das Leben des Menschen nicht siebenzig, sondern hundertvierzig Jahre währete, wären seine Erfahrungen reicher und sein Urteil sicherer; vielleicht wäre sein Horizont weiter, vielleicht aber wären seine Kriterien enger. Mit andern Worten, sein Urteil wäre qualifizierter. Eine Qualifizierung über die Generationen hinweg ist nur möglich, wenn die Akkumulation gleichzeitig in einer so großen Zahl von Individuen stattfindet, dass ein paar Ausfälle keine Lücken reißen. Es muss also mindestens im Kreis der herrschenden Klassen genügend Verkehr stattfinden und die Zugehörigkeit zu den Herrschenden muss so sehr der Legitimation bedürfen, dass keiner sich leisten kann, an der Geschmacksbildung nicht teilzunehmen; sich nicht leisten kann , weil er nicht nur herrschen, sondern seine Herrschaft (gegen die der Andern) auch repräsentieren muss.

Die Konkurrenz von Kirche, Aristokratie und städtischem Bürgertum im feudalen Westeuropa war der ideale Boden für die Ausbildung eines streitbaren herrschenden Geschmacks. Zu seinem Klimax wurde die Absolute Monarchie, aber mit der Revolution mischte sich auch der ungebildete Pöbel in die öffentlichen Angelegenheiten, an den Grenzen der guten Gesellschaft begannen die Avantgarden zu florieren, in die geschlossenen Öffentlichkeiten der Vornehmen brach die wüste Öffentlichkeit des Marktes ein...


Ein kollektives Subjekt hatte sich gebildet, das seine Launen, Sentimentalitäten und Exzentrizitäten hat wie jedermann, das aber ewig lebt und nichts vergisst; höchstens mal für eine Weile was verbummelt und sich freut, wenn es was wiederfindet. Und das sich alle Weil wichtigtut.

Nur im Abendland konnte es so kommen, und fast möchte man sagen: musste das so kommen.


12. 8. 2015





Eine Religion wie jede andere. 



Bad Gandersheim
 
Es ist nicht eine Kultur so gut wie eine andere. Eine Kultur, die die Menschenrechte achtet, ist besser als eine, die sie nicht achtet. Die abendländische Kultur beruht auf den Menschenrechten, und da sie immer wieder bedroht werden, müssen sie immer wieder verteidigt werden, egal, aus welcher Kultur die Angreifer kommen.

Es ist nicht jede Religion so schlecht wie eine andere. Die abendländische Kultur ist durch die christliche Religion geprägt. Ob auf ihr die Menschenrechte beruhen oder ob sie sie lediglich nicht verhindert hat, mag umstritten sein. Jedenfalls steht sie ihnen nicht entgegen, denn die Lehre von der Gotteskindschaft aller Menschen und das allgemei- ne Erlösungsversprechen entzieht jeder Diskriminieruung den moralischen Boden. Es hat viele Jahrhunderte ge- braucht, um sie nicht nur in den Gebetsbüchern, sondern im Alltag wirksam werden zu lassen, und nicht zufällig haben die christlichen Kirchen
unterdes ihre weltlichen Privilegien eingebüßt. Aber dies ist der Stand der Dinge.
 

Richtiger gesagt, von ihren weltlichen Privilegien ist hier und da noch etwas übrig geblieben. Zu viel, sagen manche, und zu viel ist es wirklich, wenn dadurch Menschen, die - wie ich zum Beispiel - dem christlichen Glauben nicht anhängen, zurückgesetzt werden. Kreuze in Klassenzimmern gehören dazu, über den Einzug der Kirchensteuer durchs Finanzamt müsste man reden, Karfreitagsprozessionen tun aber niemandem weh, und Kirchenglocken - das muss man mal sagen - gehören zu den Kirchen; die aber sind ganz mächtige Zeugnisse und Zeichen unserer Kultur. 

Soweit das Christentum zum Grundbestand unserer geistigen und materiellen Zivilisation gehört, hat es eine Son- derstellung. Keine andere Religion kann die in Anspruch nehmen, denn es hat sie nicht, weil es Religion ist, sondern weil es zu unserer Kulturgeschichte gehört - und fast möchte man sagen: obwohl es Religion ist, denn die ist als solche Privatangelegenheit. Jede andere Religion darf bei uns im Abendland in Anspruch nehmen, als Privatsache geachtet zu werden, und das wird sie. Wo sie mit den Regeln des öffentlichen Lebens kollidiert, muss sie zurück- stecken. Religionsfreiheit hat ihren Platz zwischen vier Wänden. 

Auch dies darf gesagt werden: Eine Kultur, die ihrer gewiss ist - und wir haben keinen Grund, an der un sern zu zweifeln -, ist nicht kleinlich. Sie wird immer etwas mehr dulden, als was absolut unabdingbar ist. Ich habe hier in Berlin noch nicht so viele Burkas gesehen, dass ich fände, dem müsse nun endlich Einhalt geboten werden. Darüber kann man allerdings verschiedener Meinung sein, dann muss man vielleicht streiten. Aber eifern muss man nicht. Mit dem IS hat das nämlich nichts zu tun.

Dienstag, 11. Oktober 2016 




Eine neue Sicht der Weltgeschichte? 

aus Badische Zeitung, 2. 11. 2016                                                                               Eine Moschee und Koranschule in Taschkent

Der Reichtum des Ostens
SACHBUCH: Der Historiker Peter Frankopan legt eine Weltgeschichte vor, die nicht aus der Perspektive des Westens geschrieben ist

von Harald Loch

Die Geschichte des Westens ist oft genug als die Erfolgsgeschichte des "normativen Projekts" beschrieben worden, in dem aus Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten die Kernbestandteile eines sympathisch aufbereiteten Werte-Leitmodells für die ganze Welt entwickelt wurden. Blickt man auf diese Geschichte aber aus einer anderen Himmelsrichtung und setzt man die bekannten Fakten anders zusammen, so verschieben sich die Hauptlinien der Jahrtausende, die Gewichte und auch die Urteile.

Der 1971 geborene britische Historiker Peter Frankopan, der in Oxford das Zentrum für Byzantinische Studien leitet, hat jetzt diese andere Perspektive eingenommen. Er schreibt mit seinem tausendseitigen Gegenentwurf "Licht aus dem Osten" tatsächlich "Eine neue Geschichte der Welt", wie es der Untertitel des Buches verheißt.


Von den Anfängen der Geschichte bis heute reicht sein großes Werk. In der aktuellen Auseinandersetzung des Westens mit dem Iran um dessen Atomprogramm schreibt Frankopan: "Die Drohung [der USA], Gewalt gegen den Iran einzusetzen, um eine Weltordnung zu schützen, die den westlichen Interessen dient, ist nur ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Versuchs, an einem uralten Kreuzweg der Kulturen die Stellung zu wahren. Dort steht offenbar viel zu viel auf dem Spiel, als dass man auf solche Methoden verzichten könnte."

Um diesen Kreuzweg der Kulturen geht es. Er reicht vom Mittelmeer bis nach China, von Ägypten bis Afghani- stan. Der Autor rückt die Bedeutung dieses "Ostens" schon in der antiken Welt in ein ganz anderes Licht. Für Rom waren nicht etwa Gallien, Britannien oder gar Germania wichtig, sondern die Kornkammern Nordafrikas, der Reichtum Ägyptens, Kleinasien und das damals mächtige Reich der Perser. Dort winkten Reichtum und Luxus, durch diese Regionen führten die Handelswege, die später "Seidenstraße" genannt wurden und auf denen römisches Geld gegen Luxusstoffe aus Asien getauscht wurde. 

Ein Sklavenhandel in unglaublicher Größenordnung 

Es wuchsen dort Kulturen im gegenseitigen Austausch, in den Steppen Asiens bildeten sich nomadisierende Völker mit hohem Organisationsgrad, die die Völkerwanderung auslösten und Europa in einen jahrhunderte- langen Winterschlaf versetzten, während der Osten durch Handel und kulturellen Austausch blühte.

Während einer Schwächephase der Hauptakteure in "Middle East" entstand wie aus dem Nichts mit dem Islam die dritte abrahamitische Religion, deren rasanter Aufschwung die nächsten Jahrhunderte von Spanien bis nach China beherrschte. Die zur Rückgewinnung der heiligen Stätten in Jerusalem unternommenen Kreuzzüge des christlichen Europas verkamen bald zu Handels- und Raubexpeditionen.

In Italien konnten sich Genua und Venedig am lukrativen Osthandel beteiligen. Der Reichtum auch anderer Metropolen an den Kreuzwegen des Orients resultierte aus einem Sklavenhandel, dessen unglaubliche Größen- ordnung Frankopan erstmals in das europäische Bewusstsein rückt. Dieser Menschenhandel verlagerte sich schließlich nach der Entdeckung Amerikas auf den Atlantik und wurde von allen seefahrenden Nationen betrieben.

Portugal und Spanien, danach die Holländer und die Briten eroberten dank ihrer aus Amerika strömenden Edelmetalle und dank besserer Waffen- und Schiffbautechnik die Vorrangstellung, die jahrhundertelang der Osten innegehabt hatte und begannen selbst, diesen Osten, besonders den indischen Subkontinent, zu erobern.

Der wurde für Großbritannien so wichtig, dass – so die plausible Erklärung Frankopans – die Angst vor einem Vordringen Russlands auf dem Landweg gegen diese Goldgrube des britischen Empires den damaligen Außen- minister Edward Grey auf den Gedanken brachte, Russlands Augenmerk von Asien auf Europa abzulenken, also auf Deutschland und Österreich zu richten. Diese Konstellation habe wesentlich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beigetragen. Um diese Zeit begann aber auch das Öl die Welt zu erobern, und dem Orient wuchsen neue Bedeutung und Reichtümer zu.

Frankopans überaus faktenreiches Buch ist fesselnd geschrieben, auch in der deutschen Übersetzung gut zu lesen, durch gut gewählte, typische Anekdoten aufgelockert, und es wartet durch die Urteilskraft seines Autors mit neuen, manchmal überraschenden Gewichtungen auf. Es gibt im Osten nicht das eine große Projekt, wie es die Geschichte des Westens ausmacht. Es ist die geografische Lage des Gebietes zwischen großen Völkern Asiens und Europas, es sind der zwischen diesen Regionen schon immer betriebene Handel und das oft fruchtbare Zusammentreffen unterschiedlich organisierter und kulturell orientierter Völker. Das gilt heute vielleicht noch mehr als in früheren Zeiten. Frankopans Verdienst ist es, diese Erkenntnis aus den Tiefen der Geschichte seinen Lesern bewusst zu machen.

Peter Frankopan: Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt. Aus dem Englischen von Michael Bayer und Norbert Juraschitz. Rowohlt Verlag, Reinbeck 2016. 941 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 39,95 Euro.


Nota. - Was an dieser Darstellung das Besondere sein soll, ist aus der Rezension nicht ersichtlich. Dass das Abendland bis zur Entdeckung Amerikas ziemlich am Rand der Weltgeschichte stand, hat sich längsst herum- gesprochen, und nicht erst seit gestern Abend. Aber seit der Entdeckung - und Kolonisierung, bitteschön! - Amerikas ist es deren Kraftzentrum. Wie lange noch, wird sich zeigen, der Historiker hat keine Kristallkugel. 

Aber einen Sinn wird man in der Geschichte nicht erkennen, wenn man sie vom Anfang bis heute betrachtet - da muss das meiste zufällig bleiben; sondern wenn wenn man umgekehrt die Gegenwart als das zu Verstehende erkennt und, rückwärts blickend, das aufsucht, was auf das Heute hingelenkt hat, und als kontingente Rand- bedingung das zur Seite stellt, dessen Spuren sich im Lauf der Geschichte verloren haben.

Das wäre eine einseitige Sicht? Natürlich, wer von allen Seiten zugleicht blickt, kann ja nichts erkennen. Sie muss ja nicht beanspruchen, schon die endgültige zu sein, sondern nur die einstweilen gültige. In hundert Jahren wird man Grund haben, von neuen Seiten her zu blicken.
JE

Dienstag, 1. November 2016




 ...Wär da nicht die "multikulturelle Gesellschaft" das probate Gegenmittel? Doch leider ist das nur eine journalistische Wortblase. Schillernd, aber ohne Inhalt. Wenn in einer Gesellschaft unterschiedliche Wertsysteme nebeneinander bestehen, miteinander konkurrieren und einander womöglich wechselseitig "aufheben" können, dann ist das - und nicht irgendwas sonst - eben ihre Kultur. Eine "ökumenische", alias universalistische Kultur. Die ist aber, nicht wahr, nur möglich unter dieser Voraussetzung: der Scheidung der Lebenswelt in ein öffentliches und ein privates Reich. Nur da wird das Individuum zur Person, wo ihm seine Freiheiten garantiert sind durch einen rechtlich verfaßten öffentlichen Raum. Person wird das Individuum erst durch Anerkennung. Öffentlichkeit ist die Instanz, wo sich die Meinungen aus Gründen rechtfertigen müssen, wenn sie als persönlich gelten sollen; und ist der Platz, wo die Werte - die moralischen wie die ökonomischen - sich im Wettbewerb, in der Krisis vergesellschaften.

Es ist die Problematizität konkurrierender Werte, die eine Kultur unter Spannung setzt und dem Einzelnen eine Wahl, nämlich eine persönliche Bildung abverlangt. So, und das ist das Kennzeichen des Abendlands. Nicht, dass es immer so war, sondern daß es schließlich so geworden ist, aber auch nicht erst seit gestern, sondern in einer jahrtausendelangen Geschichte. Konnte das, lieber Klaus Lederer, in Vergessenheit geraten - bloß weil die DDR in dieser Hinsicht, wie André Brie meint, "noch totalitärer" war als der Nationalsozialismus? Der versuchte Ausstieg aus dem Abendland hat sechsundfünfzig Jahre gedauert. Vor knapp zehn Jahren ist er zum zweiten Mal und endgültig gescheitert. Das war doch ein Glück, oder?

Nicht, daß die Türken in Deutschland eine andere, gar eine morgendländische Kultur haben, ist das Problem. Die haben die Inder in England und die Algerier in Frankreich auch. Sondern daß sie sich in drei Generationen zu einer nationalen Minderheit stabilisiert haben, deren Integration noch auf sich warten läßt. Die Losung von der multikulturellen Gesellschaft steht im Gegensatz zur Integration - die eine erst noch zu bewältigende Aufgabe wäre. Wenn nach allem, was wir Deutschen uns in diesem Jahrhundert aufgeladen haben, jemand den Mut hat und allen Ernstes einer von uns werden will - das können wir ja nur begrüßen, und selbst die CSU ist, wie ich höre, inzwischen dafür. Wenn er mal nur weiß, worauf er sich da einläßt! Oder wird er uns gar sagen: "Auschwitz? Da will ich nichts mit zu tun haben!" 

Ach, dabei fällt mir ein - die "multikulturelle Gesellschaft" haben sich Mitte der achtziger Jahre ein paar ergraute 68er in der Kreuzberger Alternativen Liste ausgedacht. Die meinten auch, die Nation sei "historisch überlebt" und hielten die "deutsche Zweistaatlichkeit" für eine Gewähr, "daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht". Damals kam es auf, von den Deutschen als von der "Bevölkerung" zu reden: Wie nach dem 30jährigen Krieg war Deutschland "nur ein geographischer Begriff" - aber es gab noch Leute, die seinen Boden bevölkerten. Im Ernst: Die "multikulturelle Gesellschaft" wurde nicht um der türkischen Minderheit willen ausgeheckt, sondern damit sich die bequeme Linke, als sie sich aus der deutschen Geschichte davonstahl, dabei auch noch ihrer Kühnheit brüsten durfte: faul und feige!


Vier Jahrzehnte lang haben die Türken in Deutschland in der Vorstellung gelebt, sie wohnten auf gepackten Koffern. Aber jetzt werden Enkel, bald schon Urenkel hier geboren! Eine lebenslange Subkultur in der Schwebe zwischen zwei Welten - das entnervt und demoralisiert. Immer schärfer wird darum in den türkischen Gemeinden der Konflikt zwischen denen, die sich integrieren, und denen, die sich absondern wollen. Das ist ganz normal und völlig in Ordnung. "Schwebende" Staatsangehörigkeiten müssen die Ungewißheit ;verewigen und das Dilemma vertiefen. Doch jene, die gegen die Integration und für das "Identität wahren" optieren, landen im Lager der islamischen Integristen oder der Grauen Wölfe - weil sie eine andere Alternative nicht haben. Darf ichs noch einmal sagen? Die abendländische Kultur ist universalistisch, aber gerade darum nicht beliebig. Mit Rassismus und Integrismus verträgt sie sich nicht.                                  


Klaus Lederer klärt mich auf, daß die westliche Zivilisation nicht gerade ein Produkt deutschen Wesens sei. Ich revanchiere mich mit dem Hinweis daß nichts desto weniger das abendländische Prinzip nirgends weiter getrieben wurde als bei uns. Nicht durch unser Verdienst, im Gegenteil: als unser Schicksal. Nämlich durch die Erblast der deutschen Zerrissenheit.Nirgend sonst stoßen die gegensätzlichen Elemente der abendländischen Kultur so hart aufeinander wie hier; nicht vermittelt in einem Medium, sondern bei einander gehalten unter einem Spannungsbogen. Die reichste Kultur ist die, wo die Anordnung, die Umordnung der Werte prozessierend immer wieder neu geschieht - in der Öffentlichkeit. Sie ist das Fegefeuer, die Krisis in Permanenz. Öffentlichkeit ist allerdings nicht unsere stärkste Seite. Im Gegenteil. Immer litten wir unterm Provinzialismus und dem Mief unserer "Milieus". Hier die Waldsiedlung Wandlitz, dort das U-Boot Bonn. ...




aus Was ist die gemeinsame Grundlage Europas?


...Er schreibt über Europa, und nicht einmal fällt das Wort Abendland. Das ist das Land, wo die Eule der Minerva aufsteigt. Auf Weisheit erheben alle Anspruch, sie streiten nur, wo man sie findet. Bei uns im Westen - damals fing er an der anatolischen Agäisküste an - sagte man vor rund zweieinhalb tausend Jahren: in deinem eigenen Urteil. Das ist, was bis heute das Abendland zusammenhält, und was es von allen andern unterscheidet.

Die Brücke von der antiken Bildung zum modernen Europa war Augustinus? Tatsächlich war es die Römische Kirche. Man mag sie nicht für einen Hort der Freigeisterei halten; doch hat sie eben das bewahrt, was dem Islam als das Heidnische daran vorkommt: Während der Koran Gottes eignes Wort ist, das der Erzengel Gabriel dem Propheten direkt auf die Zunge gelegt hat, ist die Bibel, das Neue Testament zumal, lediglich Zeugnis: von Menschen vor Menschen. Sie haben sich nicht gescheut, in Konzilien zu entscheiden, was wahr ist und was falsch, und so von Anfang an. Nie hat die abendländische Vernunft gezögert, zu urteilen. 

Sie war allerdings im Dogma befangen, das seine zweifelhafte Legitimität stets dadurch zu erkennen gab, das an ihm vernünftelt werden muss, um es geltend zu machen. Das ist die andere Vokabel, deren Fehlen noch mehr verblüfft als 'das Abendland': Wer für sich ein eigenes Urteil beansprucht, das aber doch von Andern anerkannt werden soll, muss sich der Vernunft ergeben. Der antike homo politicus konnte sich noch unbefangen den Vorteilen und den Sitten seines Gemeinwesens überlassen - der aus "der Freiheit eines Christenmenschen" hervorgegangene Bürger, homo oeconomicus, muss sich allenthalben vor dem Richtspruch der Vernunft ausweisen - die nämlich, weil sie für alle gleichermaßen gilt, die Freiheit jedes Einzelnen möglich macht, und umgekehrt: Nur Freiheit jedes Einzelnen, nur eigenverantwortliches Urteilen eines Jeden, macht Vernunft möglich. 

Wenn es für Europa eine gemeinsame Grundlage gibt, dann ist es diese. Gemeinwesen, die andere Voraus- setzungen für sich in Anspruch nehmen, schließt sie aus. Nordamerika müsste noch fleißig an sich arbeiten, wenn es zugelassen werden wollte; will es aber wohl nicht.

 







Dem Abendland ist der Islam fremd.

aus nzz.ch, 

Islam und Christentum
Ist die Aufklärung vom Himmel gefallen?
Will der säkulare Staat den Islam integrieren, muss er sich auf seine christliche Herkunft besinnen

von Martin Rhonheimer

Als vor einiger Zeit CVP-Präsident Gerhard Pfister im Interview mit dieser Zeitung den säkularen Rechtsstaat als «christliches Verdienst» bezeichnete, konterte SP-Chef Christian Levrat: «Ich finde es erschreckend, dass es in der Schweiz politische Kräfte gibt, die sich auf eine Religion berufen müssen, um die Werte unserer Gesellschaft zu rechtfertigen.» Denn diese Werte, so Levrat, stammten aus der Aufklärung. Die Aufklärung aber, ist sie plötzlich vom Himmel gefallen? In voraussetzungslosem Raum entstanden?

Allgemeine Rechtsgrundsätze

Ihr Kennzeichen war die Forderung, den eigenen Verstand zu gebrauchen, Autoritäten, auch die der christlichen Offenbarung, zu hinterfragen. Die Aufklärung wurzelte in dem Bewusstsein, dass es Rechtsgrundsätze gibt, die unabhängig vom Willen der Mächtigen und der religiösen Autoritäten gelten und der menschlichen Vernunft zugänglich sind. Ihre institutionelle Voraussetzung waren eine Diskussionskultur als Trainingsfeld dieser Vernunft sowie der akademische Freiraum der Universität, ihr liberaler Impuls die Forderung nach einer definitiven Scheidung von Politik und Religion. 

Dies alles ist – unleugbar – auf dem Boden des Christentums gewachsen, der ersten Religion, die aus ihren heiligen Texten keine rechtliche und politische Ordnung ableitete. Die vom Christentum geprägte Zivilisation basiert auf dem römischen Recht, das die Kirche im Mittelalter zu ihrem eigenen, dem Kirchenrecht ausbaute.


Kirchenjuristen erneuerten und transformierten die altrömische Tradition des Naturrechts hin zu einem «ius naturale» als Ergebnis der Fähigkeit der natürlichen Vernunft, Recht und Unrecht zu unterscheiden. Darauf basierend reinigten sie überkommenes germanisches Gewohnheitsrecht von diskriminierenden und antirationalen Elementen, bereiteten so den Boden für das moderne Menschenrechtsdenken. Und die Kirche etablierte Universitäten als akademische Lehr- und Forschungsräume und förderte damit trotz gelegentlichen Widerständen eine Naturphilosophie, aus der die moderne Naturwissenschaft entstand.

Diese entstand nicht im Konflikt mit der Kirche. Der «Fall Galilei» wird deshalb immer wieder genannt, weil er der einzige war. Antikopernikanisch war nicht die katholische Kirche, die von Galilei lediglich wissenschaftliche Beweise verlangte, sondern Luther, der Kopernikus einen Narren nannte, weil sein heliozentrisches System der wörtlichen Auslegung der Schrift widersprach. Es war das Prinzip «sola scriptura», das mit der modernen Wissenschaft in Konflikt stand. Dieser wurde im Protestantismus schliesslich durch Bibelkritik gelöst.

Religionsinterne Aufklärung


In der Frühzeit der Dynastie der Abassiden (750–1258) kannte auch der Islam eine theologische Richtung (der Mu'taziliten), die Vernunft und Glaube in Einklang bringen wollte. Doch wurde sie verdrängt von einer Orthodoxie, die einzig Koran und Scharia-Recht als Quellen der Erkenntnis der Weltordnung zuliessen. Al-Ghazali (1058–1111) schliesslich erklärte, die Suche nach Gesetzen und Ordnung der Natur, ja jegliche rationale Reflexion des Glaubens sei Leugnung von Gottes absoluter Freiheit und Allmacht und somit Blasphemie. Die «griechischen Wissenschaften», speziell die Physik, wurden deshalb aus dem Curriculum der islamischen Schulen verbannt. Dies kam einem «intellektuellen Selbstmord» (Robert Reilly) gleich – mit Folgen in der muslimischen Kultur bis heute.

Christliche Theologie im vergleichsweise autonomen Raum der von der Kirche gegründeten und geförderten Universitäten war – so der Christentumskritiker Herbert Schnädelbach – doch immer auch «religionsinterne Aufklärung im Sinne einer Reflexion und rationalen Durcharbeitung des Geglaubten». Gross war dabei das Interesse an physikalischen Fragen, weshalb die Naturphilosophie zum universitären Curriculum gehörte. Noch Newton titelte sein Hauptwerk: «Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie». Die islamische Mathematik, trotz bedeutenden Leistungen auch in der Astronomie, war hingegen kein Weg zur modernen Naturwissenschaft.

Heilsverheissungen

Ohne Christentum und kirchliche Kulturschöpfung hätte es weder diese Entstehungsbedingungen der modernen Wissenschaft gegeben, noch gäbe es die europäische Rechtstradition. Der Kieler Rechtshistoriker Hans Hattenhauer sieht die mittelalterliche Kirche als «Lehrmeisterin des weltlichen Rechts». Unter Historikern unbestritten, war es die sogenannt päpstliche Revolution des Hochmittelalters, die für die moderne Rechts- und Staatsentwicklung die Grundlagen legte. Sie entsakralisierte König- und Kaisertum und erneuerte damit den Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt.

Das 11. Jahrhundert war die Wende zur Neuzeit. Auch hatte das Christentum, so der Oxforder Historiker Larry Siedentop, «das Individuum erfunden»: Auf der zur Antike konträren Idee, alle Menschen seien gleich, nämlich vor Gott, und als Individuen selbst verantwortlich für ihr Heil, basiert die spätere Kultur der Freiheitsrechte des Individuums.

Die grossen theologischen und zivilisatorischen Leistungen der antiken und mittelalterlichen Kirche sind auch Erbe und Nährboden der aus der Reformation hervorgegangenen Christenheit und damit gemeinsame Wurzel der Moderne. Der säkulare, freiheitliche Staat ist auf dem Humus einer Zivilisation christlicher Prägung gewachsen, ja erst möglich geworden. Die Aufklärung war eine reife Frucht dieser Entwicklung. Als solche war sie begründeter Protest gegen die intolerante und repressive Allianz von Staat und Kirche, wie sie infolge der Glaubensspaltung – als Friedensformel zur Beendung der verheerenden Glaubenskriege, also aus politischen Gründen – im konfessionellen Staat der Neuzeit entstanden war. 

Der Aufklärung war aber auch der fragwürdige Impetus eigen, Offenbarungsreligion und Kirchenglauben ausmerzen und damit ihre eigenen Voraussetzungen tilgen zu wollen. Das erst brachte ihr die Feindschaft der Kirche ein. Denn der freiheitliche säkulare Staat ist aus dem spannungsvollen Gegensatz von weltlicher Macht und Kirche als Institution des ewigen Heils entstanden. Die Freiheitlichkeit der Moderne war und ist immer dann in Gefahr, wenn sie sich an die Stelle der Kirche setzen, wenn ihrerseits die Politik Heilsverheissungen anbieten will.

Die Staatsvergottung hat das 20. Jahrhundert in Form zweier Totalitarismen schmerzlich erfahren. Eric Voegelin, und danach Emilio Gentile und Hans Maier, nannten totalitäre politische Ideologien deshalb «politische Religionen», Hermann Lübbe bezeichnete sie – phänomenologisch korrekter – als «Anti-Religionen».

Islam als politische Religion

Der Islam dagegen ist eine politische Religion. Seine Schöpfungsordnung ist zugleich die Ordnung des Heils. Eine Scheidung von religiösem und weltlichem Recht, von religiöser und politisch-sozialer Ordnung gibt es nicht im Islam. Er ist nicht, was unsere unter christlichen Voraussetzungen entstandene säkulare Rechtsordnung unter Religion versteht: eine von der politischen, rechtlichen und sozialen Ordnung separate Ordnung des Glaubens an eine Heilswahrheit und eine entsprechende kultische Praxis.

Da für das Christentum Politik, Staat und Recht ihrer Natur gemäss nicht im Dienst ewigen Heils stehen, konnte sich auf seinem Boden – nicht ohne kirchliche Widerstände – ein rechtlich-politischer Begriff von Religionsfreiheit entwickeln, der letztlich auf dem genuin christlichen Dualismus von politisch-rechtlicher und religiöser Ordnung beruht.

Dieser Dualismus, dem im Zeitenlauf zwar oft zuwidergehandelt wurde, steht im Widerspruch zum Wesen des Islam als integrale religiöse, politische, rechtliche und soziale Ordnung. Daher rührt die Mühe im Islam, das Ethos anzuerkennen, aufgrund dessen wir in einer vom Christentum geprägten Kultur zu leben gelernt haben: dass Menschen verschiedenen Glaubens und unterschiedlicher Moralvorstellungen auf der Grundlage eines Gefüges von religionsunabhängigen, säkularen rechtlichen Regeln und auf der Basis bürgerlicher Gleichheit zusammenleben. Dieses Ethos verlangt keine bestimmte Gesinnung, wohl aber die Befolgung von Regeln und überlässt, vereinfacht gesagt, alles andere dem Freiraum der Privatsphäre.

Die grösste Herausforderung, mit der die freiheitliche westliche Gesellschaft sich künftig auseinandersetzen muss, ist nicht die Gewalttätigkeit der politisch extremsten Spielarten des Islam. Sie besteht vielmehr darin, dass die Anerkennung des säkularen Ethos bürgerlichen Zusammenlebens dem politisch-religiöses Selbstverständnis aller Varianten des Islam widerspricht. Um dieses Problem zu lösen, müsste der Islam von einer politischen zu einer rein religiösen Religion werden – was nicht völlig unmöglich ist, wie die Geschichte etwa des Balkans zeigt.

Der Islam wird zu Europa gehören. Ob und wie sein Selbstverständnis sich modifizieren wird, hängt davon ab, wie sehr die Menschen muslimischen Glaubens sich in unsere Gesellschaft integrieren können und wollen. Integration und die damit verbundene, zumindest partielle Assimilation der Lebensweise bewirkt kulturelle Veränderung. Diese müsste die Abkehr vom politischen Verständnis der eigenen Religion einschliessen und damit eine unzweifelhafte Anerkennung des Primats der freiheitlich säkularen Rechtsordnung über die Scharia. 

Falsch verstandene Toleranz 

Der Westen wird der Herausforderung des vermehrt in seinen Gesellschaften präsenten Islam nur gewachsen sein, wenn er nicht die christlichen Wurzeln seiner politischen und rechtlichen Kultur verleugnet. Das ist nun keineswegs ein Ruf nach einer neuen christlichen Leitkultur. Vielmehr ist es die vom Christentum und seiner Scheidung von Politik und Religion ermöglichte säkulare «Leitkultur» des freiheitlichen Rechtsstaates, der sich gegenüber religiösen Wahrheitsfragen sowie der religiösen Zugehörigkeit seiner Bürger indifferent verhält.

Eine solche Leitkultur gilt es von Muslimen wie von allen Bürgern einzufordern, wobei allen, Muslim oder nicht, die gleichen Rechte und gleiche Behandlung zustehen. Das allerdings setzt voraus, dass der Westen an seinem christlich fundierten Verständnis von Religion festhält und es unverrückbar allen Tendenzen entgegensetzt, die – im Namen falsch verstandener Religionsfreiheit und Toleranz – eine mit unserem Rechtsverständnis inkompatible Islamisierung der Gesellschaft zuzulassen bereit sind.

Eine sich auf die religionsfeindlichen Aspekte der Aufklärung berufende Ächtung religiöser Heilsverheissungen als freiheitsfeindlich hingegen hätte totalitäre Züge. Sie würde indirekt den Staat überhöhen und eine säkular-freiheitliche politische Kultur untergraben. Diese lebt ja gerade vom Gegenüber heilsverheissender Institutionen. Sie bewahren den Staat – im Interesse der Freiheit – davor, selbst soziale oder politische Heilsversprechen anbieten zu wollen.
 
Martin Rhonheimer ist katholischer Priester, Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce (Rom) und Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy (Wien). Zum vorliegenden Thema veröffentlichte er das Buch «Christentum und säkularer Staat», Freiburg i. Br. 2012.



Nota. - Lebt unsere säkular-freiheitliche politische Kultur davon, dass ihr in Gestalt der Amtskirchen heilsver- heißende Institutionen gegenüberstehen, weil sonst die Menschen wieder versucht werden könnten, ihr Heil beim Staat zu suchen? Ich denke, wenn wir den säkular-freiheitlichen Charakter unserer politischen Kultur recht pflegen und kultivieren wollten, würden die Menschen vielleicht gar nicht mehr ein Heil suchen.

Das kann der römische Priester bei Strafe der Selbstaufgabe natürlich nicht für möglich halten, und ich will es ihm auch nicht zumuten. Dass es die Kirchen in ihrem christlich-dualistischen Verständnis gibt, muss den ungläubig-Gottlosen nicht verdrießen, denn in der Sache hat Pater Rhonheimer natürlich Recht. Die Scheidung zwischen geistlichem Heil und weltlichem Recht ist allein im Christentum geschehen, und gewiss waren einige seiner dogmatischen Grundlagen geeignet, sie möglich zu machen. 

Rhonheimer erwähnt es nicht, es gehört nicht zu seinem Amt, aber ich darf darauf hinweisen, dass die relative Selbstbescheidung der Kirchen weniger ihr eignes frommes Verdienst ist, sondern wohl eher dem Widerstand, gar der Aggression der weltlichen Mächte zu danken ist, wenn sie die Allmacht, die sie doch immer wieder mal beanspruchten, nie erringen konnten; so wie wir es den westlichen Kirchen zu danken haben, dass die Despotie keine europäische Herrschaftsform wurde, sondern auf Asien beschränkt blieb. Ein Blick nach Russland erhellt: Die deutschen Könige von Rom konnte nicht zu Selbstherrschern aller Abendländer werden, weil sie die römi- schen Bischöfe hindern mussten, es zu werden.

Ehe der Islam ein Teil Europas wird, müsste er sich entorientalisieren. Er ist eine asiatische Religion in dem Sinn, dass nie ein Herrschender und schon gar kein zur Herrschaft Drängender es im Orient je versäumt hat, sich der koranischen Formeln zu bedienen, so wie keine islamische Institution und nicht einmal die Sufi-Orden je darauf verzichtet hat, aufs Leben des Gemeinwesens Einfluss zu nehmen. Das müsste schon eine ganz andere Religion werden, die sich nicht auf die Menge ihrer Vorschriften, sondern auf die Fülle ihrer Glaubensinhalte gründete. Ginge das mit dem Koran überhaupt? 

Bis dahin sind wir wirklich Ungläubigen gehalten, dem Einsickern des Islam in Europa entschiedener entgegen- zutreten als die Vertreter der christlichen Kirchen. Für die ist das eine Konkurrenz. Für uns ist das ein Gegner.
JE


Mittwoch, 25. Januar 2017


 

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