Mittwoch, 29. Juni 2016

Der heimtückische Überfall auf die friedliebende Sowjetunion.

aus nzz.ch,  

Die Vorgeschichte zum deutschen Einmarsch von 1941
Russischer Opfermythos
Der 75. Jahrestag des deutschen Überfalls gab Russland einmal mehr die Gelegenheit, den Opfergang des Grossen Vaterländischen Kriegs zu feiern. Dabei war die UdSSR 1941 alles andere als eine Friedensmacht.

Gastkommentar von Nikolai Klimeniouk

«Meinst du, die Russen wollen Krieg?» Mit dieser Zeile aus einem Lied des sowjetischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko warb die Linksfraktion des Deutschen Bundestags für eine Friedensveranstaltung anlässlich des 75. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion. Plakate mit diesem Spruch waren überall auf Berliner Strassen zu sehen. Für viele Deutsche, auch deutsche Politiker, scheint dies eine rhetorische Frage zu sein, die mit einem eindeutigen Nein zu beantworten ist.

Weder die Annexion der Krim noch der Überfall auf die Ostukraine noch Manöver an den Grenzen europäischer Nachbarstaaten mit bis zu 100 000 beteiligten Soldaten oder die Verlegung nuklearfähiger Mittelstreckenraketen in die russische Exklave Kaliningrad mitten in EU-Gebiet oder der Einsatz von geächteter Streumunition in Syrien vermögen Zweifel an russischen Friedensabsichten zu wecken. Viel lieber spricht man, wie der deutsche Bundesaussenminister Frank-Walter Steinmeier, vom «Säbelrasseln» und vom «Kriegsgeheul» der Nato, die in Polen die Abwehr eines nicht näher genannten Aggressors übt, oder vom deutschen Tätervolk.

Doppelt geheuchelt

Im Erscheinungsjahr 1961 konnte man Jewtuschenkos Lied noch als Ausdruck der Kriegsmüdigkeit verstehen. Bezogen auf den 22. Juni 1941 wirkt aber sein Refrain in der aktuellen Politwerbung der Friedensbewegten doppelt geheuchelt. Denn die Sowjetunion, die von Nazideutschland überfallen wurde, war alles andere als ein friedlicher Staat. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 besetzte und annektierte die UdSSR Teile von Polen, Finnland und Rumänien sowie Estland, Lettland und Litauen; Hunderttausende Bürger dieser Länder wurden ermordet und deportiert. So wie heute begleitete damals Friedensrhetorik jeden Überfall: Man habe die ukrainischen und weissrussischen «Brüder» vor polnischen und rumänischen Nationalisten schützen wollen, die baltischen Staaten hätten die UdSSR freiwillig um den Beitritt gebeten, und das imperialistische Finnland, das damals etwa 3,6 Millionen Einwohner zählte, habe selbst vorgehabt, die hochgerüstete Sowjetunion zu überfallen.

Diese üble Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs hat die sowjetische Propaganda später mit allen Mitteln heruntergespielt, damit im historischen Gedächtnis der Welt nur noch der Grosse Vaterländische Krieg bleibe. In den betroffenen osteuropäischen Staaten, auch in denen, die Teilrepubliken der UdSSR waren, ist dieses Kalkül nicht ganz aufgegangen, doch Russland wie Deutschland leben mit diesem Mythos weiter, so als habe es die mörderische Allianz von Hitler und Stalin niemals gegeben.

In Jewtuschenkos Frage, ob die Russen Krieg wollen, schwingt auch eine unfreiwillige Anspielung auf die Moral der Sowjetbürger im ersten Kriegsjahr mit, die der Dichter so bestimmt nicht beabsichtigte. Den entschlossenen Widerstand gegen Hitler gab es nur in der Propaganda, weder die Rote Armee noch die Bevölkerung wollten kämpfen. Bis Ende 1941 gerieten 3,8 Millionen Rotarmisten, unter ihnen 63 Generäle, in deutsche Kriegsgefangenschaft, viele von ihnen freiwillig. 1,5 Millionen Soldaten begingen Fahnenflucht.

Die Sowjetmacht war nicht nur in den frisch besetzten Gebieten, sondern auch im Kernland bei vielen Bürgern verhasst. Das Bild, das die Sowjetpropaganda nach dem Hitler-Stalin-Pakt von Deutschland zeichnete, war dagegen sehr vorteilhaft, man pries den sozialen Aufbau im Nazistaat und seinen Widerstand gegen die imperialistischen Angelsachsen. Der schnelle Vormarsch der Wehrmacht hatte nicht allein mit der Plötzlichkeit des Überfalls zu tun, wie es die Sowjetpropaganda darstellte. Auch war die Rote Armee, entgegen Stalins Behauptung, der Wehrmacht technisch nicht unterlegen, sondern von ihm selbst durch Säuberungen demoralisiert und geschwächt. Breite Teile der Bevölkerung sahen in den einmarschierenden Deutschen mehr Befreier vom Kommunismus denn Besatzer.

Keine deutsch-russische Angelegenheit

Der Antisemitismus war auch in der UdSSR sehr verbreitet, damit hatten viele Sowjetbürger kein Problem. Viel schwieriger war für viele die Entscheidung, sich entweder mit dem Aggressor gegen das Regime zu solidarisieren oder an der Seite des Regimes gegen den Aggressor zu kämpfen. Es vergingen Monate, bis die Grausamkeiten der Besatzungsmacht und die unmenschliche Behandlung der Kriegsgefangenen die Stimmung in der Bevölkerung endgültig zum Kippen brachten.

Dass der deutsch-sowjetische Krieg zum Grossen Vaterländischen Krieg stilisiert und zu einer deutsch-russischen Angelegenheit erklärt wird, die andere osteuropäische Staaten ausklammert und die Sowjetunion als unschuldiges Opfer erscheinen lässt, ist eine besonders perfide Lüge. In vielen Kreisen Deutschlands pflegt man sie aus Angst vor dem Relativieren der Naziverbrechen, so als komme die Anerkennung von sowjetischen Untaten einer Absolution für die deutschen Täter gleich. Russland wiederum begründet damit seine vermeintlichen Einkreisungsängste und rechtfertigt so seine Aggression gegen die Nachbarn.


Nikolai Klimeniouk, geboren 1970 in Sewastopol auf der Krim, war Redaktor bei Forbes Russia, beim Moskauer Stadtmagazin Bolschoj Gorod sowie beim unabhängigen regierungskritischen Online-Magazin Publicpost.ru, das im Juni 2013 unter politischem Druck geschlossen und vom Netz genommen wurde. Seit 2014 lebt er als freier Autor in Berlin.

Dienstag, 28. Juni 2016

Verweiblicht im Alter das Sozialverhalten?

Berberäffin
aus Der Standard, Wien, 24. Juni 2016

Affen zeigen im Alter ähnliches Verhalten wie Menschen
Forscher: Die Zahl der Sozialkontakte geht zurück, die Tiere beschränken sich lieber auf ihren engsten Kreis

Göttingen/Zürich – Man muss Vorsicht walten lassen, wenn man Parallelen zwischen Menschen und anderen Primaten zieht, ein deutsch-schweizerisches Forscherteam glaubt aber eine gefunden zu haben. Und zwar geht es um das Sozialverhalten im reiferen Alter. Mit zunehmendem Alter konzentrieren sich Berberaffen ähnlich wie Menschen auf eine kleinere Gruppe von Sozialpartnern, schreiben Wissenschafter des Deutschen Primatenzentrums (DPZ) in Göttingen und der Universität Zürich in der Fachzeitschrift "Current Biology".

Dieses Verhalten, das beim Menschen schon länger bekannt ist, sei offenbar tiefer in der Evolution verankert als bisher angenommen, sagte die DPZ-Affenforscherin Julia Fischer. Affen können das Lebensende nicht lang-fristig antizipieren Das soziale Netzwerk von Menschen im Alter werde kleiner, sagt DPZ-Verhaltensbiologin Laura Almeling. "Sie pflegen dann vor allem Beziehungen zu den Menschen, die ihnen wirklich wichtig sind." Es werde darüber diskutiert, ob das nicht nur mit der abnehmenden Vitalität, sondern auch mit dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit zu tun habe könnte, so Almeling.

Letzterer Punkt ist entscheidend: Bei Affen könne dies nämlich nicht der Fall sein: "Denn Affen sind sich nicht bewusst, dass ihre Lebenszeit begrenzt ist." Man müsse daher davon ausgehen, dass das veränderte Verhalten von Menschen im Alter fest in der Evolution verankert ist.

Die Studie

Die Wissenschafter hatten 118 Tiere im Alter von vier bis 29 Jahren in einem französischen Affenpark beobachtet und verschiedene Verhaltensexperimente gemacht. Das Resultat: Auch die Affen werden mit zunehmendem Alter wählerischer. Bereits im jungen Erwachsenenalter haben sie ein deutlich gesunkenes Interesse an neuen Gegenständen und weniger gut bekannten Artgenossen.

Dies zeige sich besonders bei der gegenseitigen Fellpflege, sagte Almeling. "Diese ist bei den Affen das Maß für die soziale Beziehung." Während die jungen Tiere noch sehr häufig ihre Pflegepartner wechseln, beschränken sich betagtere Affen auf einen kleiner werdenden Kreis befreundeter Tiere. "Die älteren Berberaffen verlieren zwar nicht das Interesse an einem Miteinander", sagte die Forscherin. "Sie konzentrieren sich aber auf eine kleinere Gruppe."

"Die Affen werden mit zunehmendem Alter auch vorsichtiger im Umgang mit Neuem und weniger risikofreudig", hat Almeling herausgefunden. Auch darin seien sie älteren Menschen ähnlich. Auf Hilfeschreie von Artgenossen dagegen reagieren die Tiere bis ins hohe Alter. Die Reaktion auf die Schreie befreundeter Affen, etwa auf die der besten Freundin, sei jedoch stärker. (APA, red, 24. 6. 2016)

Link
Current Biology: "Motivational Shifts in Aging Monkeys and the Origins of Social Selectivity"


Nota I. - Das Einigeln in der eigenen Gruppe ist ein eher weiblicher Charakterzug, der Drang nach draußen ist eher männlich. Verweiblichen Primaten also mit zunehmendem Alter? Wenn man das Weibliche als die Ursprungsnorm und das Männliche als die Variation auffasst, dann kehren sie eher zum Ausgangspunkt zurück: Sie "entmännlichen". (Aber Sie wissen längst: Sowas ist immer nur mit sehr viel Mostrich zu genießen.)

Nota II. - 'Alte Menschen reduzieren ihre Sozialkontakte, weil sie wissen, dass sie bald sterben' - ao lautet ja wohl das Argument. Es ist auch plausibel; aber nur, wenn man 'wissen' nicht als 'sich einer Sache bewusst sein' auffasst. Kein Mensch denkt sich: 'Nein, den muss ich nicht kennenlernen, ich sterbe ja bald.' Aber er weiß natürlich, dass er inzwischen ganz schön alt geworden ist; und wenn sich auch sträubt, dies zu denken, so spürt er es doch. - Mehr braucht man von den Berberaffen auch nicht zu verlangen. 
JE

Sonntag, 26. Juni 2016

Wenn sich das Zugpferd zu ziehen sträubt...

aus nzz.ch, 26. 6. 2016

Mehr oder weniger Integration?

... Grossbritanniens Austritt bringt unangenehme Fragen auf den Tisch. Zwar sind Paris und Berlin in den vergangenen Jahren noch enger zusammengerückt, wenn es um entscheidende Fragen der EU ging. Aber dieser Partnerschaft ist umgekehrt proportional zur demonstrierten Verbundenheit die Substanz abhanden gekommen. In zentralen Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik herrscht vor allem zwischen der CDU-Politikern Merkel und dem Sozialisten François Hollande keine Übereinstimmung. Frankreich gehört eigentlich wirtschaftlich zu den Sorgenkindern der Union, aber um deutsche Dominanz zurückzubinden, tut Merkel so, als seien beide in vergleichbarer Verfassung. In der Flüchtlingskrise liess Hollande die Kanzlerin allein, indem er sich auf den lauernden Front National berief.

Die ersten vertiefteren Stellungnahmen zur britischen Entscheidung zeigen dieses Dilemma. Wie die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» berichtet, haben der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Amtskollege Jean-Marc Ayrault ein Papier über die künftige Gestalt der EU ausgearbeitet. Dieses will demnach den Moment dazu nutzen, die Integration erst recht zu vertiefen und in wichtigen Politikfeldern zusammen mit Gleichgesinnten in Europa auch neue Institutionen zu schaffen. Dass unterschiedliche «Ambitionsniveaus» existierten und diesen Rechnung zu tragen sei, floss etwa in die Abschlusserklärung des Aussenministertreffens der Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) am Samstag in Berlin ein. Mit dem Kanzleramt soll das Papier nicht abgestimmt sein.

Mehr oder gerade weniger Integration – Steinmeier und Ayrault dürften als linke Politiker damit genauso wie der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz eher auf einer Linie liegen als mit Merkel oder Finanzminister Wolfgang Schäuble, die deutlich vorsichtigere Aussagen machen. Überhaupt gehört zu dem deutschen Dilemma die Frage, ob Grossbritanniens Austritt nun auch über die Finanz- und Wirtschaftspolitik hinaus nach stärkerer deutscher Führung ruft. Eine solche müsste allerdings zwingend die Interessen der ostmitteleuropäischen EU-Staaten einbeziehen. Einige von ihnen waren unzufrieden darüber, vom Treffen am Samstag ausgeschlossen zu sein. Einen Bedarf nach dieser Führungsrolle gäbe es wohl. Während einige Staaten das mit alten Ressentiments verbinden, fürchten andere gerade Deutschlands Zaghaftigkeit.

Die SPD versucht sich die aufkeimende Grundsatzdiskussion über die Gestalt der EU für parteipolitische Zwecke und zur Abgrenzung von der Kanzlerin und vom Koalitionspartner zu nutzen. Schon in seiner ersten Stellungnahme verlangte Gabriel einen Kurswechsel gerade Deutschlands – die Abkehr von der sogenannten Austeritätspolitik als Antwort auf die wachsende Skepsis gegenüber der EU. Am Samstag doppelte er an einer Parteiveranstaltung nach. Mit der Euro- und mit der Flüchtlingskrise sind die Zweifel an der EU in Deutschland aber gerade nicht im Sinne der Sozialdemokraten gewachsen. Merkel und die Konservativen scheinen das eher zu verstehen. Sie sieht auch keinen Sinn darin, nun zur Strafe mit Grossbritannien möglichst «garstig», wie sie es nannte, zu verfahren. Das wird schon ein erster Test dafür sein, welche Schlüsse Deutschland aus dem Brexit ziehen will. Steinmeier und die Franzosen sind nämlich anderer Meinung als die Kanzlerin.


Nota. - Über Jahrhunderte lag Großbritanniens Interesse auf den Weltmeeren. Davon war seine Rolle in Europa bestimmt: die kontinentalen Mächte gegeneinander ausspielen, damit sie einander nicht hochkommen ließen und ein starkes Europa nicht das britische Weltreich gefährden könnte. Sein natürlicher Rivale war Frankreich, und Britanniens Rolle als Garant des europäischen Gleichgewichts verlangte zuerst, Frankreich gegen das langsam wieder aufstrebende Deutschland zu hetzen. Dafür nahm es sogar in Kauf, dass sich Frankreich in Europa mit Russland verbündete - Großbritanniens Erzfeind in Asien.

Das britische Weltreich ist längst vergessen (außer offenbar in England), eine positive Rolle in Europa zu spielen ist das Inselreich nicht gewöhnt, dafür ist es sich zu fein und - dafür fehlt ihm längst die Kraft. Doch um nicht ganz in weltweiter Bedeutungslosigkeit zu versinken, ist es auf Europas Stärke angewiesen. Für ein starkes Europa braucht es kein abseits stehendes Zünglein an der Waage, das alle gleich klein hält, sondern einen Schrittmacher mittendrin, der zeigt, wo und wie es weitergeht, und Tempo macht. 

Ein polnischer Außenminister sagte mal, er fürchte sich nicht davor, dass Deutschland eine zu große Rolle in Europa spiele, sondern davor, dass es sie nicht spiele. Inzwischen haben aber auch wir eine Partei - vielleicht nur eine ephemere -, die meint, nationale Selbstständigkeit durch weltweites Raushalten und provinzielle Kleinstaa-terei wahren zu können. Die Bundesregierung hat solchen Neigungen nicht in der Griechenlandkrise und nicht in der Flüchtlingskrise nachgegeben. Jetzt, wo der Zahltag näherrückt, wird die doch hoffentlich nicht weich werden.
JE


Freitag, 24. Juni 2016

Vom Bremsklotz zum Schrittmacher?



Schrittmacher waren die Briten ja nie in Europa. Vielleicht hat es sein Gutes, dass sie jetzt den Bleifuß von der Bremse nehmen. Dann hätten sie uns andern immerhin einen Dienst erwiesen - wenn schon nicht sich selber.





Donnerstag, 23. Juni 2016

Die Vandalen waren gar keine.


Ein berittener Vandale, dargestellt auf einem Mosaik der spätantiken Stadt Karthago.
aus scinexx                                                           Ein berittener Vandale, dargestellt auf einem Mosaik der spätantiken Stadt Karthago

Die Vandalen waren gar keine
Spätantike Völkergruppe war kultivierter als ihr Ruf
Von wegen zerstörerische Barbaren: Die Vandalen der römischen Antike waren weitaus besser als ihr heutiger Ruf. Denn auch wenn sie gegen die Römer kämpften, waren sie und ihre Kultur durchaus zivilisiert, wie ein Historiker berichtet. Die Vandalen waren zudem gar kein einheitliches Volk, sondern bestanden aus mehreren, von den Römern unter der Bezeichnung Vandalen zusammengefassten Völkergruppen.

Sie gelten oft als das Symbol für Zerstörungswut und Barbarentum: die Vandalen. Bekannt ist diese Völkergruppe germanischen Ursprungs dafür, dass sie im Jahr 406 nach Christus nach Westen in römisches Gebiet eindrangen und dabei fränkische und römische Truppen schlugen. Die Vandalen gelangten über Limes und Rhein bis weit nach Frankreich hinein und zogen in den Folgejahren bis nach Spanien und Nordafrika weiter.

Die große Plünderung

455 nach Christus fielen die Vandalen und Alanen sogar in Rom ein und plünderten die Stadt. Der Grund: Der römische Kaiser Valentinian II. hatte dem Vandalen-Prinzen Hunerich seine Tochter versprochen, machte aber einen Rückzieher. Die für die Römer schmerzvolle und verlustreiche Plünderung Roms brachte den Vandalen den Ruf ein, barbarische Zerstörer zu sein.

Doch dem widerspricht nun Roland Steinacher von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. "Basierend auf wissenschaftlichen Fakten waren die Vandalen kultivierte Eroberer und nicht zerstörungswütiger als viele andere Völkergruppen auch", erklärt der Historiker. "Es mag verblüffend klingen für Laien, aber die Vandalen waren keine Vandalen". Selbst bei der Plünderung Roms gibt es keine Hinweise auf blinde Zerstörungswut, stattdessen raubten sie systematisch Wertgegenstände – wie damals zu Kriegszeiten üblich.

Dieser Schildbuckel aus vergoldeter Bronze zeugt von der Kunstfertigkeit der Vandalen.
Dieser Schildbuckel aus vergoldeter Bronze zeugt von der Kunstfertigkeit der Vandalen

Ganz normale "Barbaren"


Wie der Historiker erklärt, waren die Vandalen auch keineswegs besonders barbarisch. Stattdessen gehörten sie während der Spätantike zu den zahlreichen Völkern im Umfeld des römischen Reiches, die mal mit mal gegen die Römer kämpften. Nicht wenige Vandalen verdingten sich als Soldaten für die Römer und lebten als "Ausländer" und damit im römischen Sprachgebrauch als "Barbaren" unter ihnen.

"Die Vandalen waren römische Barbaren - Soldaten, die sich im spätantiken Mittelmeerraum einen privilegierten Platz in der Gesellschaft zu sichern wussten", stellt Steinacher klar. "Dies hatte auch finanzielle Gründe, denn ein römischer Rekrut kostete im 5. Jahrhundert sechs Mal so viel wie ein barbarischer Föderat", betont der Forscher. Die Vandalen waren damit in dieser Hinsicht nicht anders als andere germanische Völker zu jeder Zeit. Kunstvolle Grabeigaben, Schilde und Waffen zeugen zudem von ihrer durchaus fortgeschrittenen Kultur.

Flucht statt Eroberungsdrang

Die Westwärts-Wanderung der Vandalen im 5. Jahrhundert hatte weniger mit Eroberungsdrang zu tun als mit Flucht: Die von Osten heranrückenden Hunnen vertrieben die später als Vandalen zusammengefassten Volksgruppen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten im heutigen Polen. Wie Steinacher erklärt, hätte die römische Führung zu jener Zeit wahrscheinlich auch ohne eine Invasion der Vandalen die Kontrolle in den Provinzen verloren.

Die jeweils als Vandalen bezeichneten, barbarischen Völkergruppen waren auch keine unzivilisierten Kulturzerstörer, wie der Forscher betont. Um das Jahr 440 gründeten sie in Nordafrika ein eigenes, wohlhabendes Königreich, das gut hundert Jahre lang bestand. Dort pflegten die Vandalen einen weitgehend römischen Lebensstil und integrierten sich in die ökonomischen Strukturen der spätantiken Mittelmeerwelt.

Zu ihrem besonders schlechten Ruf kamen die Vandalen übrigens erst im 18. Jahrhundert – mehr als tausend Jahre nach dem Niedergang ihres Königreichs in Afrika. Während in Deutschland die Vandalen als edle und kriegstüchtige Vorfahren galten, wurde im Frankreich der Revolutionszeit der Begriff des Vandalismus für besonders zerstörerische Taten geprägt. Er beruhte auf Geschichten der Spätantike und des frühen Mittelalters, die ein verzerrtes Bild der Vandalenvorstöße über Limes und Rhein widerspiegelten.

(Österreichische Akademie der Wissenschaften, 23.06.2016 - NPO)




Mittwoch, 22. Juni 2016

Ein weiterer Niedergang Großbritanniens würde Europa schwächen.


Whitby Abbey

Man muss kein Experte sein, auch wer nur mit den Fingern rechnen kann, wird zu der Annahme kommen, dass ein Austritt Großbritanniens den Briten selber mehr schaden würde als der Union.


Und das ist Grund genug, dagegen zu sein. Der wirtschaftliche und, im Gefolge, kulturelle Niedergang Großbritan-niens wäre ein schwerer Verlust für Europa; mit und ohne Union.




Der Wert geistiger Arbeit.

aus Süddeutsche.de, 20. Juni 2016, 18:14 Uhr

Naturwissenschaftler Osarenkhoe Uwuigbe
Was kostet ein Gedanke?
Der 21-jährige Naturwissenschaftler Osarenkhoe Uwuigbe kommt in seinen Berechnungen zu einer überraschenden Erkenntnis.

Es ist schon kurios. Alles kann man angeblich messen und alles hat seinen Preis. Nicht nur die Gurke im Supermarkt oder das neue iPhone, auch abstrakte Vorgänge glaubt der Mensch in Preisen berechnen zu können: den möglichen "Brexit"; den offenbar abgewendeten "Grexit"; VWs Dieselgate oder auch das Erwachsenwerden von Kindern, bis sie endlich auf eigenen Beinen stehen. Die Kosten für solch komplexe Dinge haben sogenannte Experten genau beziffert. Nur das, was der Mensch seit Jahrtausenden tut (im besten Fall jedenfalls), das lässt sich angeblich nicht in einem Preis ausdrücken: das Denken.

Ist ja auch schwierig. Wie soll man es messen? Umso verdienstvoller ist es, dass Osarenkhoe Uwuigbe einen Versuch unternommen hat, dem Wert der Gedanken auf die Schliche zu kommen - aus Spaß, aber doch mit dem nötigen Ernst. Jedenfalls hat er darüber eine kleine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben. Darauf gekommen ist der 21-Jährige, weil er der englischen Redewendung "A penny for your thoughts" - was so viel heißt wie: "Ich würde gern wissen, was du denkst" - auf den Grund gehen wollte. Da passte es, dass er an der Universität von Leicester in England Naturwissenschaften studierte und dort das Fach als interdisziplinäre Disziplin gelehrt wird. Das heißt, man lernt, wie man das Wissen aus unterschiedlichen Fachbereichen verknüpft, um Probleme zu lösen.

Simple Erklärung

Uwuigbe verband Neuro- und Naturwissenschaften und kam zu dem Ergebnis: Denken kostet so gut wie gar nichts. Oder präziser ausgedrückt: "Mit einem Penny oder umgerechnet etwas mehr als einem Cent könnte man eine Denkleistung von drei Stunden, sieben Minuten und 30 Sekunden kaufen", sagt Uwuigbe. Wie kommt man auf so was? Der Naturwissenschaftler hat dafür eine ziemlich simple Erklärung: "Das Gehirn braucht im Durchschnitt eine Leistung von 20 Watt zum Denken. Wenn der Preis für die Stromerzeugung wie derzeit in England bei 16 Pence pro Kilowattstunde liegt, dann erhält man für einen Penny eine Denkleistung von etwas mehr als drei Stunden."

Schwieriger ist es im Vergleich dazu auszurechnen, wie wertvoll ein Gedanke ist. "Dazu müsste man wissen, wie lang der Gedanke ist", sagt Uwuigbe. "Generell gilt: Je länger, desto wertvoller." Über die Qualität des Gedankens sagt der Preis dann allerdings immer noch recht wenig aus. Die kann man nicht messen. Jeder würde sie unterschiedlich einschätzen und die meisten hielten ihre eigenen Gedanken wohl für besonders herausragend - selbst wenn keiner davon erfährt. Nach der Definition des Uwuigbes ist ein Gedanke erst mal nur eine bewusste Idee im Kopf. Er muss nicht ausgesprochen werden.

Insofern, könnte man diesmal mehr im Scherz als im Ernst hinzufügen, kommt noch eine weitere Erkenntnis aus der Forschungsarbeit Uwuigbes hinzu: Selbst brillante Gedanken sind demnach nicht nur wert-, sondern auch nutzlos, wenn ihnen keine Taten oder Worte folgen.

Leben könnte man jedenfalls nicht vom Denken allein. "Um sich ein 20-Pfund-Lunch im Restaurant leisten zu können, müsste man 6250 Stunden oder mehr als 260 Tage denken", flachst Uwuigbe. "Wenn man wirklich so viel Zeit mit Denken verbringen will, hat man sich das Essen definitiv verdient."

Andererseits schaffen es ja viele ihre Gedanken zu monetarisieren, indem sie sie aufschreiben, Reden halten, gemeinsam mit anderen etwas entwickeln oder erfinden. Die Wertsteigerung kann dann ziemlich hoch sein. Uwuigbe ist gerade selber auf der Suche danach, wie er seine Geistesarbeit in ein monatliches Gehalt umwandeln könnte. Nach dem Studium würde er jetzt am liebsten einen Job in der Nanotechnologie finden.


Nota. - Wirklich lustig ist das nicht. Dafür ist der Denkfehler zu elementar, um nicht zu sagen zu plump. Eine Ware ist soviel wert, wie ihre Herstellung kostet. Nach den klassischen Wertlehre lösen sich die Kosten letzten Endes in die Herstellungskosten der insgesamt verbrauchten Arbeit(szeit) auf. Sagen wir also per Analogie: in die Herstellungskosten des verbrauchten elektrischen Stroms.

Aber jetzt kommt die Pointe: In der Realität ist ein Arbeiter schneller, geschickter, stärker als der andere. Es ist der Markt, auf dem alle Arbeiten miteinander gemein werden und sich ein Mittelwert herausbildet, so dass die Arbeitsstunde des einen wie zwei Stunden, die des andern aber nur wie eine halbe Stunde gewertet wird.

Sind die Herstellungskosten von einem Watt Strom aus der Steckdose dieselben wie von einem Watt Gehirn-strom? Vergesellschaften sie sich miteinander auf irgendeinem Markt, so dass sich regelmäßig ein Durch-schnittswert ausbildet? -

Uwuigbes Rechnung ist nicht lustig, sondern einfach nur blöd.
JE

Montag, 20. Juni 2016

Eine Feministin in den Grenzen des gesunden Menschenverstands.

aus nzz.ch, 18.6.2016, 05:30 Uhr              Marie de Gournay, wie sie der Lithograf Joseph Langlumé im 19. Jahrhundert imaginierte.  
                                                            
Marie de Gournay, eine Intellektuelle in der frühen Neuzeit
Über die Schwierigkeit, klug sein zu dürfen
Zu den «fast Vergessenen» der Geistesgeschichte gehört Marie de Gournay (1565–1645), eine Femme de lettres, Philosophin und Frauenrechtlerin, die es schaffte, ein eigenes Leben zu führen.

von Ursula Beitz

«Glücklich bist du Leser, wenn du nicht zu dem Geschlecht gehörst, dem man alle Güter verwehrt, indem man ihm die Freiheit versagt [...] und es zu keinen Pflichten, Ämtern und öffentlichen Funktionen zulässt [...] Glücklich auch der, der ohne ein Verbrechen zu begehen, weise sein kann: deine Eigenschaft, Mann zu sein, gesteht dir zu, was man den Frauen verwehrt: jegliches bedeutendes Handeln, jegliches abwägende Urteil und jegliche ausserordentliche Spekulation.»

Ungestraft gelehrt und weise sein zu können, war schon früh der Wunschtraum von Marie Le Jars de Gournay, die 1565 als ältestes von sechs Geschwistern in Paris geboren wurde. Als Marie zwölf Jahre alt ist, stirbt der Vater, woraufhin ihre nun mittellose Mutter die Metropole verlassen muss und sich mit den Kindern auf dem Anwesen der Familie in Gournay-sur-Aronde niederlässt, einem Weiler in der Picardie.

Begegnung mit Montaigne

Die Möglichkeit, auf eigenen Besitzungen zu leben, rettete die Familie zwar vor totaler Verarmung, aber für die wissbegierige Jugendliche bedeutete es gähnende Langeweile und den Verzicht auf weitere angeleitete Bildung. Einzige Zuflucht vor der mütterlichen Absicht, sie auf die traditionelle weibliche Bestimmung von Ehe und Spinnrocken vorzubereiten, stellt die väterliche Bibliothek dar. Hier findet Marie Schriften der römischen Antike, und sie bringt sich, wie sie erzählt, «in heimlich abgezweigten Stunden die klassische Literatur und sogar Latein bei, ohne Grammatik und Hilfe», nur indem sie die französischen Übersetzungen mit den Originalen vergleicht.

Mit achtzehn erlebt die autodidaktisch Gebildete das, was sie als Offenbarung bezeichnet: Ihr geraten die «Essais» von Michel de Montaigne in die Hände, die sie mit Begeisterung verschlingt. Sie ist restlos fasziniert von diesem neuartigen Stil, der philosophische Sentenzen der römischen Klassiker mit persönlichen Betrachtungen und kritischen Äusserungen zu aktuellem Zeitgeschehen verbindet. Die junge Frau brennt darauf, sich mit dem Autor über das Werk auszutauschen, was zunächst zu einem Briefwechsel zwischen den beiden führt. Zu einer persönlichen Begegnung kommt es, als sich Montaigne 1588 zur Vorbereitung einer neuen Ausgabe der «Essais» bei seinem Pariser Verleger Abel L'Angelier aufhält. Von hier aus fährt er nach Gournay zu seiner jungen Leserin, die er inzwischen als «Wahltochter» bezeichnet.

Marie ist ihrem intellektuellen Vater eine wichtige Gesprächspartnerin geworden. Ab September 1588 tritt sie mit Randbemerkungen zu den «Essais» in Erscheinung, «zu dem Zeitpunkt, als Montaigne die Überarbeitung eines Textes begann, zu dem seine junge Bewunderin sich von Anfang an zugehörig fühlte», wie der Renaissanceforscher Jean Balsamo in einer Studie zum frühen Verlagswesen schreibt.

Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt die mittellose Adlige 1591 nach Paris zurück. Hier kann sie auf den wohl durch Montaigne hergestellten Kontakt zu Abel L'Angelier zurückgreifen; sie ist nun auf einen Broterwerb angewiesen. Es sei nicht ganz ausgeschlossen, so Balsamo, dass Marie de Gournay seit dieser Zeit «mit editorischen Arbeiten kleinere Einkünfte erzielte, und obwohl sie nicht aus einer Buchdruckerfamilie stammte, konnte sie Aufgaben einer Korrekturleserin oder Lektorin bei einem Drucker, der für L'Angelier arbeitete, übernehmen». Damit stellt Marie de Gournay eine Ausnahme in der jungen Pariser Verlagswelt dar, denn Frauen waren zwar im Verkauf tätig, aber sie ist die einzige Frau, die in einer Werkstatt tätig war.

Eigene Schriften

Als ambitionierte femme de lettres begnügt sie sich nicht damit, am Werk eines anderen mitzuwirken, sondern sie will auch eigene Schriften publizieren. Ihre erste Veröffentlichung, «Der Spazierweg des Herrn de Montaigne» – der Titel stellt geschickt eine Verbindung zwischen ihr selbst und dem bekannten Mentor her –, erzählt vordergründig die Geschichte einer unglücklichen Liebe aus der Antike: Alinda, eine persische Königstochter, die als Kriegsbeute dem parthischen Herrschersohn versprochen ist, verliebt sich in einen anderen, dem sie am Hof des Zukünftigen begegnet. Dieser erwidert zunächst ihre Liebe, lässt sich aber dazu hinreissen, mit der Schwester des Bräutigams eine Liaison einzugehen. Als Alinda erkennt, dass sie betrogen wurde, ist sie so verzweifelt, dass sie bereit ist zu sterben.

Das Schicksal der persischen Königstochter, die als Spielball in den Machtintrigen der Männer eingesetzt wird, muss die dreiundzwanzigjährige Marie de Gournay so empört haben, dass sie die Geschichte zu einem Gesprächsthema bei ihren Spaziergängen 1588 mit Montaigne machte. Sie nahm Alinda zum Anlass, um mit ihm über die Benachteiligung von Frauen auch zu ihrer Zeit zu diskutieren.

Ihr 1594 erschienener roman discursif nimmt die Liebesgeschichte aus der Antike als Ausgangspunkt für einen Exkurs, in dem beklagt wird, dass Frauen bewusst in Dummheit und Abhängigkeit gehalten würden, damit die Männer leichtes Spiel mit ihnen hätten. Sobald eine Frau jedoch aus dem vorgesehenen Schema ausbreche und sich bilde, müsse sie mit Anwürfen der Männerwelt rechnen: «Jedenfalls wird man sagen, dass es ein heikles Unterfangen ist, weiser zu werden als seine Mitmenschen [...]; und wenn eine Frau nur klug genannt wird, wird man ihr schon übel nachreden.»

Über die Gleichheit

Hier hat sie im Keim das angelegt, was de Gournay zwanzig Jahre später – Jahre, in denen sie sich immer wieder zu gesellschaftlichen und politischen Themen äussert – zu der Schrift «Über die Gleichheit von Männern und Frauen» ausarbeitet. Darin hebt sie augenzwinkernd mit einer rhetorischen Bescheidenheitsfloskel an: «Viele derer, die für die Frauen Partei ergreifen gegen jene dünkelhafte Bevorzugung, die die Männer sich anmassen, stehen diesen in nichts nach, denn sie verschieben den Vorzug wiederum auf die Frauen. Ich meinerseits, [...] begnüge mich damit, sie den Männern gleichzustellen.» Die Autorin argumentiert nicht, sondern zitiert – männliche – Autoritäten der Antike und der Kirchengeschichte, denn, so ihre Erläuterung, die Triftigkeit des Versuchs einer weiblichen Stimme, «die positiven Fähigkeiten der Frauen mit Vernunft zu beweisen, würden die verbohrten Herren wieder bestreiten».

Soziale Herkunft

Die Frauen in Unwissenheit zu halten, sei absichtsvolles Bemühen der Männerwelt – das hätten schon antike Autoren erkannt. Platon führe Lastemia und Axiothea als Ausnahmeerscheinungen an, die zeigten, was Bildung auch bei Frauen bewirken könne: «Platon, dem niemand den Titel des Göttlichen streitig gemacht hat, und Sokrates [...] billigen den Frauen gleiche Rechte, Fähigkeiten und Ämter in ihrem Staat und überall sonst zu.» Dass sie innerhalb der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts einen minderen Status hätten, liege daran, dass man sie absichtlich von Bildung ausschliesse; und es sei «ein Wunder, dass der Mangel an guter Erziehung nichts Schlimmeres» anrichte.

Schon damals ist ihr klar, dass die soziale Herkunft entscheidender für Bildungschancen ist als das Geschlecht: «Um dies zu beweisen: Gibt es denn mehr Unterschiede zwischen Männern und Frauen, als unter den Frauen selbst, je nach der Bildung, die sie erhielten, je nachdem, ob sie in der Stadt oder im Dorf erzogen wurden?»

Die Geschlechterfrage bleibt das, was ihr wohl am wichtigsten ist, aber Marie de Gournay beschränkt ihre Gesellschaftskritik nicht auf diesen Themenbereich. Geschult am Variantenreichtum der grossen römischen Autoren wie Vergil, Tacitus und Sallust, deren Werke sie ins Französische übertragen hat, äussert sie sich in mehreren Traktaten auch zu sprachtheoretischen Fragen und plädiert vehement für die Erhaltung einer Sprache, die reich an Synonymen ist und die auch dialektale Wendungen nicht verachtet.

Keine Puristin

Sie widerspricht darin den Sprachpuristen, die glauben, dass «perfekt zu sprechen, heisse, einfaches und reines Französisch zu sprechen» – und gibt sich damit als noch ganz der Generation der Poetengruppe der Pléiade verpflichtete Traditionalistin zu erkennen. Dies lässt sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts, vor allem für oberflächliche Köpfe bei Hofe, als altmodisch erscheinen. Regelmässige Debatten über poetologische und sprachtheoretische Fragen führt Marie de Gournay mit Gelehrten wie Boisrobert und La Mothe le Vayer, die zu den ersten Mitgliedern der 1635 gegründeten Académie française gehören werden, jener Institution, die bis heute über die Entwicklung der französischen Sprache diskutiert und diese reglementiert. Freilich sollte es bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts dauern, bis mit Marguerite Yourcenar die erste Frau in diesen illustren Kreis der «vierzig Unsterblichen» aufgenommen wird.

Ausser zu Erziehungsfragen und zu religiösen Themen hat Marie de Gournay auch zu politisch brisanten Themen das Wort ergriffen. In Pamphleten kritisiert sie mit beissender Ironie den Typus des Höflings, der sich sogar über gute Freunde lustig mache, nur um sich damit bei Höhergestellten einzuschmeicheln. Zu Recht bezeichnet Renate Baader in ihrer Anthologie französischer Autorinnen Marie de Gournay als Moralistin, die es mit den männlichen Autoren ihres Jahrhunderts aufnehmen kann.

Zeit ihres Lebens hat Gournay ihre Texte immer wieder überarbeitet und neu gruppiert. Eine erste Sammlung ihrer Werke erscheint 1626 unter dem Titel: «L'Ombre de la Damoiselle de Gournay». 1641 gibt sie als «Les Advis» eine erweiterte Fassung ihrer Reflexionen heraus, in der auch die «Klage der Frauen» aufgenommen ist. Mit Blick auf ihre eigene Erfahrung fasst sie die Unbill, mit der sich weibliche Gelehrte ihrer Zeit auseinandersetzen mussten, noch einmal zusammen: Keine öffentlichen Ämter bekleiden zu können, nicht weise sein zu dürfen, dem Geschlecht anzugehören, dem «als einziges Glück, als einzige Tugend die Unwissenheit bleibt, die Unterwürfigkeit und die Fähigkeit, den Dummen zu geben».

Das Bemerkenswerte am Leben dieser streitbaren Intellektuellen, die sich nicht scheute, öffentlich das Wort zu ergreifen, ist, dass sie sich nicht nur theoretisch mit der Frauenfrage beschäftigt hat, sondern auch ganz praktisch das Leben einer unabhängigen Frau ohne finanzielle Absicherung durch einen Ehemann geführt hat – und das im frühen 17. Jahrhundert. Sie hat sich auch nicht, wie manche ihrer gelehrten Zeitgenossinnen, in den schützenden Raum eines Klosters begeben.

Als alleinstehende Frau lebte sie mit einer Bediensteten und einigen Katzen im Zentrum von Paris. Im Jahr 1642, da ist sie 78 Jahre alt, diktiert sie im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten einem Notar ihr Testament, in dem sie ihre finanziellen und materiellen Angelegenheiten regelt. Ihr geistiges Testament sind ihre Schriften, die glücklicherweise seit 2002 in einer kritischen Ausgabe vorliegen.

Ursula Beitz studierte Romanistik und Philosophie; sie übersetzt aus dem Französischen und lebt in Heidelberg.


Nota. - Ist es Ihnen aufgefallen? Die kluge Frau beschäftigt sich zu ihrer Zeit ausschließlich mit der Stellung der Frauen in der Öffentlichkeit. Es ist nämlich die Zeit, als eine 'Öffentlichkeit' im bürgerlichen Verständnis überhaupt erst zu entstehen begann - den Beitrag, die der Hof in Versailles dabei spielen sollte und die Frauen dort, hat sie gar nicht mehr erlebt. Erst mit dem Aufstieg der bürgerlichen Klassen unterm Schutz der absoluten Monarchie konnten der Markt sowohl als L'opinion publique Macht über das tägliche Leben der Normalbürger gewinnen; konnte 'das Private' politisiert werden.


In den traditionellen Gesellschaften geschieht ein Austausch nur zwischen Gütern, die der Produzent zufällig übrig hat. Er bleibt ein Phänomen am Rande, lediglich das kleine häusliche Handwerk - Töpfern und Weben - wird bewusst für den Tausch betrieben. Die Vorformen eine Markts bilden sich nur an den Rändern, und das heißt: zwischen den Gemeinwesen aus, und wenn dort in erster Linie Männer tätig sind, die traditionell den Haushalt nach außen vertreten, fällt das weder auf noch ins Gewicht, denn es ist ein Epiphänomen. Das Wesentliche bleibt die Hauswirtschaft, und im Haus haben die Frauen ihre eigenen Zuständigkeiten, die denen der Männer im Prinzip nicht nachstehen.

Mit dem Übergreifen des Marktes und der Öffentlichen Meinungen auf die häusliche Privatsphären ändert sich das. Die Männer begegnen einander auf Schritt und Tritt, während die Frauen am Herd isoliert bleiben. Es entsteht über den traditionellen Gemeinwesen eine Gesellschaft, und dort herrschen allerdings die Männer. Als Scharnier würde später der Salon wirken, dessen Aufblühen Frau de Gournay auch nicht mehr erlebt hat; aber er stand nur den Damen der vornehmen Klassen offen, und Frau de Gournay ahnte es: Der Schlüssel war Bildung. 

Den Rahmen des gesunden Menschenverstands musste sie noch nicht verlassen; aber ihr Leben als alte Jungfer führen.
JE


Sonntag, 19. Juni 2016

Schuf den Roboter nach seinem Ebenbild...

Wir stellen uns die Roboter nach unserem eigenen Abbild vor und machen sie uns ähnlich. Werden wir darum bald auch ähnlich wie sie?
aus nzz.ch, 16.6.2016, 05:30 Uhr

Roboter und künstliche Intelligenz
Der hinausgeworfene Mensch
Hartnäckig formen sich in unseren Köpfen die Roboter nach unserem Abbild: mit Kopf, Armen, Augen. Das hat mit der Realität wenig, mit unseren Imaginationen viel zu tun – und birgt eine Gefahr.

von Philipp Theisohn

Als im vergangenen August eine Hackergruppe unter dem Namen «The Impact Team» die Daten von 32 Millionen Nutzern des Seitensprungportals Ashley Madison veröffentlichte, durchforsteten Blogger den freigelegten Quellcode und förderten Bemerkenswertes zutage. Da das Portal offensichtlich nur über sehr wenige Kundinnen verfügte, hatte Ashley Madison eine Armee von Fembots rekrutiert: Computerprogramme generierten Zehntausende von weiblichen Nutzerprofilen, die, ausgerüstet mit einigen unbeholfenen Brocken an Flirttext, die männlichen Klienten zum Gebrauch ihrer Kreditkarte animieren sollten. (Die «!Mediengruppe Bitnik» ermöglicht diesen Fembots zurzeit im Kunsthaus Langenthal ein zweites, unabhängiges Leben.)

Ökonomische Macht des Eros

Im zeitweiligen Erfolg dieses Geschäftsmodells manifestierte sich nicht nur die ungebrochene ökonomische Macht des Eros, sondern auch der Wirkungszusammenhang von künstlicher Intelligenz und körperlicher Imagination. Genaugenommen legt der unverhoffte Einblick in die Algorithmen des Begehrens nur eine Struktur offen, die das digitale Zeitalter überhaupt kennzeichnet: die erotische Aufladung des Datenverkehrs. Diese wurzelt in der Einsamkeit – die uns wiederum überfällt, sobald wir die Geräte ausschalten. Am Anfang waren wir einsam, und weil wir das nicht ausgehalten haben, erfanden wir etwas, das zu uns sprechen sollte: die Maschinen.

Wir glauben immer noch, dass die Maschinen zu uns sprechen. Aber eigentlich, wie Friedrich Kittler uns das immer zu erklären versuchte, wollen Maschinen nur mit Maschinen kommunizieren. Wir verstehen sie nicht. Die Datenströme, die zwischen ihnen fliessen, unterlaufen unsere Wahrnehmung. Wir vernehmen sie nur als ein Rauschen.

Dieses Rauschen jedoch produziert in uns Bilder humaner Tätigkeit: den Bankbeamten, der Überweisungen entgegennimmt; die Angestellte im Reisebüro, die unseren Flug bucht; die Geliebte, die in der Ferne auf Kurzmitteilungen wartet oder uns warten lässt. Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Das Rauschen der Daten erzeugt in uns eine Lust, in die wir zu investieren bereit sind – Liebe, Zeit, Arbeit, Geld, Informationen. Die Maschinen arbeiten nicht für uns, sondern wir für sie.

Um zu verstehen, woher diese Abhängigkeit kommt und warum wir sie so bereitwillig auf uns nehmen, muss man wissen, dass sie mit einer Erzählung verknüpft ist, die unsere Gegenwart immer noch überlagert. Die Ikone dieser Erzählung ist der Roboter. Die ungebrochene Präsenz des Roboters in der Emblematik des digitalen Zeitalters, insbesondere in der Emblematik der Cyborg-Debatte, ist durchaus bemerkenswert, bedenkt man die zunehmend gestaltlose Realität der Robotertechnik.

Aus Maschinen werden Programme, aus Robotern werden Bots – aber unsere Wahrnehmung der Robotik ist immer noch in erster Linie geprägt von einer quasi-humanoiden Arbeitsmechanik, von Industrierobotern, Marssonden und Haushaltshilfen, ganz zu schweigen von der zeitgenössischen Science-Fiction, die ganz regelhaft Menschmaschinen inszeniert. Hinter dieser Diskursverzerrung, der Asymmetrie von Wirklichkeit und Wahrnehmung der Roboter, liegt nun aber auch der Schlüssel zum Verständnis unserer Beziehung zu den sich verselbständigenden Gerätschaften.

Um den Schlüssel zu bergen, sollte man zur Geburtsstätte des Roboters zurückkehren, zu Karel Čapeks 1921 in New York uraufgeführtem Drama «R. U. R. – Rossum's Universal Robots». Abgesehen davon, dass der Begriff «Roboter» (von Tschechisch «robota» = Fronarbeit) hier erstmals überhaupt auftaucht, gibt uns das Stück auch einige Definitionen an die Hand, mit denen sich arbeiten lässt.

Die wichtigste davon betrifft das Wesen der Roboter: Nachdem der Firmengründer, der alte Rossum, sich an der Herausforderung, künstliche Menschen detailgetreu herzustellen, finanziell übernommen hat, reduziert sein Sohn die Kosten, indem er die Produktion ganz auf einen einzigen Zweck – die Arbeitsfähigkeit – ausrichtet und alle überflüssigen Details löscht. «Damit warf er eigentlich den Menschen hinaus und erschuf den Roboter», so heisst es in der Übersetzung von Otto Pick, und damit ist eine Konstellation geschaffen, die uns bis heute in Beschlag nimmt.

Im Roboter begegnen wir einem Körper, den wir als den unseren erkennen, aus dem wir aber vertrieben wurden. Was in diesem Körper vor sich geht, aus welchem Grund er welche Entscheidungen trifft, wessen Einflüsterungen er folgt, das begreifen wir zunehmend weniger. Dessen ungeachtet halten wir daran fest, dass es doch unser Körper ist, und wenn wir die Roboter immer noch für unsere mehr oder weniger abstrakten Abbilder halten, dann hat das genau einen Grund: Die Fremdheit der Maschinen soll uns erzählbar bleiben. Als evolutionäre Formen des humanen Prototyps gehorchen sie immer noch der in uns eingeschriebenen und ihnen von uns eingepflanzten Verhaltensmatrix. Was Roboter tun und lassen, das sollten wir also verstehen.

Indessen ist das mit dem Verstehen von Robotern nicht so einfach, mögen die Prinzipien, denen wir ihre Schaltkreise unterworfen haben, noch so simpel sein. Analysiert wird dieser Sachverhalt nirgends so präzise wie in Isaac Asimovs Robotergeschichten. Diese gelten wegen der ihnen zugrunde liegenden «drei Gesetze der Robotik» gemeinhin als paradigmatische Ausformungen der Science-Fiction-Erzählung. Ihren Anfang nehmen diese Geschichten grundsätzlich bei einer Irritation: Ein Roboter verhält sich dem Augenschein nach widergesetzlich. Er gefährdet Menschen (oder verweigert ihnen die Hilfe), gehorcht ihren Befehlen nicht oder setzt ohne Not seine eigene Existenz aufs Spiel.

Die Erzählungen führen dieses Fehlverhalten dann in detektivischer Arbeit auf bestehende Konflikte zwischen den drei Gesetzen zurück und entfalten dabei nach und nach eine Roboterpsychologie – während umgekehrt die Handlungen und Emotionen der menschlichen Erzählerfiguren immer mechanischer werden. Die Mensch-Maschine-Interaktion erweist sich somit als ein Tauschgeschäft: Je stärker wir dazu übergehen, den Roboter zu humanisieren, umso programmierbarer erscheinen wir im Gegenzug uns selbst.

Der Roboter definiert uns

Um auf das eingangs erwähnte Beispiel zurückzukommen: Wenn die männliche Lust geskriptete Seitensprung-Avancen in die körperliche Vorstellung einer verführbaren Frau übersetzt, dann heisst das umgekehrt auch, dass die männliche Lust sich kodifizieren, über Software steuern, robotisieren lässt. Und um über dieses Beispiel hinauszugehen: Wenn wir Geräten, die uns an Denkkapazität, Kraft und Geschwindigkeit um ein Vielfaches übertreffen, immer noch ein menschliches Antlitz zu geben bestrebt sind – Geräten, die keine Schmerzen kennen, keinen Liebeskummer, die weder Schlaf brauchen noch den Tod fürchten –, dann setzen wir uns selbst auch den Erwartungen aus, die wir an solche Geräte stellen.

Der Roboter als gesellschaftliche Imago (und nicht als ingenieurwissenschaftliches Faktum) besitzt demnach eine doppelte Funktionalität. Sein humanoides Erscheinungsbild weist uns einerseits weiterhin als die Urheber der Maschinen aus und gibt uns das Gefühl, mit ihnen noch vereint zu sein, ihre Sprache noch zu sprechen und sie verstehen zu können. Andererseits wird der Roboter dabei auch zum Inbegriff unserer eigenen Existenz, unserer Vorstellung von Arbeit und Liebe. Er definiert unseren Ort und unsere Aufgabe in der technisierten Welt.

In der durch den Roboter repräsentierten dynamischen Verschränkung von Mensch und Maschine entscheidet sich somit auch das Verhältnis von künstlicher Intelligenz und Gesellschaftsleben. Je überhöhter die menschliche Schöpfungsphantasie, umso totalitärer fällt im Gegenzug die Robotisierung der Wirklichkeit aus. Der prometheische Akt, der Materie die Illusion selbstbestimmter Freiheit zu geben, birgt in sich eine existenzielle Bedrohung der Menschheit, wie sie etwa Nick Bostrom von der zukünftigen Entwicklung der künstlichen Intelligenz ausgehen sieht.

So faszinierend sich gegenwärtige Überlegungen zur Erzeugung eines Maschinenbewusstseins auch ausnehmen mögen (die faszinierendste unter ihnen vielleicht Andrew Smarts Gedankenexperiment, Robotern LSD zu verabreichen): Der Demiurgenstolz, die Maschinen in ihrer Weiterentwicklung sich selbst überlassen und auf scharf begrenzte Zielsetzungen verzichten zu können, führt letztlich zur Zurichtung und Vernichtung des Menschen durch die Maschinen. Der Mensch stört.

Der Mensch steht im Weg

Die populären Erzählungen, die uns das Leben in einer von algorithmischen Prozessen durchsetzten Wirklichkeit anschaulich zu machen versuchen – von «The Matrix» (1999) über Daniel Suarez' Roman «Daemon» (2010) bis hin zu der in diesen Tagen in den Kinos anlaufenden Dystopie «Aurora» des Schweizer Regisseurs Robert Kouba –, kommen immer wieder auf diesen Verdacht zurück. In den Augen der künstlichen Intelligenz, die der Mensch damit beauftragt hat, ihm die beste aller möglichen Welten zu bauen, erweist sich der Mensch selbst just als der Faktor, welcher der Erfüllung dieses Auftrags im Wege steht. Folglich muss er beseitigt werden.

Das alles kann man aber bereits in Čapeks Roboterdrama nachlesen. Dort ist es die Menschenrechtsaktivistin Helena Glory, die dafür sorgt, dass die mechanischen Arbeitssklaven eine Seele erhalten und damit vollends menschlich werden dürfen. Am Ende werden diese dann aus einer ungünstigen Verbindung von freiem Willen und Effizienzdenken heraus die Menschheit ausrotten. Und schliesslich die geschlechtliche Roboterliebe entdecken – einen Eros, der nicht mehr der unsere ist.


Nota. - Haben Sie's gemerkt? Wenn Sie all das mystifizierende Raunen wegnehmen, bleibt schiere Platitüde. Da malt er das Gespenst des perfektionierten Roboters an die Wand, der den Menschen schließlich beiseiteschiebt, während die Risiken von Anfälligkeiten und Dysfunktionen viel aktueller sind: dass die Datenfluten gewisser-maßen einen Kolbenfresser kriegen und wir merken, dass wir uns von viel zu unvollkommenen Maschinen ab-hängig gemacht haben. Aber diese Ahnung haben auch Meier und Schulze, damit kann sich kein Feuilleton, kein Feuilletonist wichtigtun.
JE   


Freitag, 17. Juni 2016

Vulkane und das Ende der antiken Zivilisation.

Die Folgen gleich zweier Vulkanausbrüche könnten das Ende der Spätantike gefördert haben.
aus scinexx                                                                                                                                               Pierre-Jacques Volaire

Vulkanausbrüche förderten Ende der Antike
Zwei Eruptionen veränderten das Klima vor 1.500 Jahren so stark wie nie seither
Missernten, Krankheiten und eine geheimnisvolle Wolke: Der Übergang von der Spätantike ins Mittelalter vor rund 1500 Jahren war eine Zeit der Krisen. Warum, blieb unklar – bis jetzt. Denn Forscher haben nun herausgefunden, dass zwei Vulkanausbrüche hintereinander das Klima der Nordhalbkugel stark beeinträchtigten. Sie kühlten das Klima um bis zu zwei Grad ab und dimmten jahrelang die Sonne. Das könnte einige der gesellschaftlichen Umbrüche der damaligen Zeit erklären.

Dass Vulkanausbrüche das Klima verändern können, ist nichts Neues. Bekannt ist dieser Effekt beispielsweise für das "Jahr ohne Sommer" nach dem Ausbruch des Tambora im Jahr 1815 und schon in der Urzeit könnten heftige Eruptionen sogar Massenaussterben ausgelöst haben. Grund für diesen Abkühlungseffekt sind vor allem schwefelhaltige Aerosole, die die Sonneinstrahlung abschirmen.

Krisen, Krankheiten und Hunger

Den Verdacht, dass Vulkane auch am krisenhaften Übergang von der Spätantike zum Mittelalter schuld waren, gibt es schon länger. Denn Baumringe und zeitgenössische Chroniken zeugen von klimatischen Veränderungen und damit einhergehenden gesellschaftlichen Krisen in den Jahren ab 536 nach Christus. So berichten zeitgenössische Chronisten wie der Byzantiner Prokopius von einer mysteriösen Wolke, die das Licht der Sommersonne über dem Mittelmeer verdunkelte.

Das gesamte Jahrzehnt zwischen etwa 1535 und 1540 war im Mittelmeerraum und wahrscheinlich auf der gesamten Nordhalbkugel geprägt von Krisen und Katastrophen. Bereits im letzten Jahr hatten Forscher dann in Eisbohrkernen Hinweise darauf entdeckt, dass es genau zu jeder Zeit zwei große Eruptionen gegeben haben könnte.
Enorme Mengen Schwefel-Aerosole in der Atmosphäre ließen das Klima um bis zu zwei Grad kälter werden.
Enorme Mengen Schwefel-Aerosole in der Atmosphäre ließen das Klima um bis zu zwei Grad kälter werden.
Fataler Doppelausbruch

Ob diese beiden Ausbrüche aber wirklich ausreichten, um die Krisen, Missernten und Seuchenausbrüche zu erklären, haben nun Matthew Toohey vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel und seine Kollegen anhand eines Klima-Aerosol-Modells der Erde überprüft. Dieses erlaubte es ihnen, die von den Vulkanen ausgestoßene Aerosolwolke zu rekonstruieren und ihre Wirkung abzuschätzen.

Das Ergebnis: Der vulkanische Doppelausbruch von 536/540 war stärker als jedes andere dokumentierte Ereignis der vergangenen eineinhalb Jahrtausende, selbst die Tambora-Eruption hatte schwächere Nachwirkungen. "Schon einer der Ausbrüche hätte zu einer deutlichen Abkühlung der Erdoberfläche geführt. Beide so kurz hintereinander haben wahrscheinlich das kühlste Jahrzehnt der vergangenen 2.000 Jahre verursacht", sagt Toohey.

Folgen besonders für Nordeuropa

Die beiden Eruptionen entließen so viele Aerosole in die Atmosphäre, dass die Sonneneinstrahlung über der Nordhalbkugel für mehrere Jahre reduziert war. Die "geheimnisvolle Wolke" der zeitgenössischen Chronisten dimmte das Licht schon nach der ersten Eruption im Jahr 536 um mehr als zehn Prozent – und das bis zu 18 Monate lang. Als Folge sank die Durchschnittstemperatur um bis zu zwei Grad Celsius.
Simulierte Sommerdurchschnittstemperaturen im Jahr 536 n. Chr. als Folge der Aerosol-Wolke
Nordeuropa und insbesondere Skandinavien waren damals wahrscheinlich die Regionen, die am meisten unter der Abkühlung nach den beiden Eruptionen gelitten haben. Aus historischen Aufzeichnungen geht hervor, dass sich Missernten und Hunger sowohl im Mittelmeerraum als auch in Irland und sogar China häuften. In Skandinavien führte der Klimaeinbruch zu schweren gesellschaftlichen Krisen: Siedlungen wurden aufgegeben, Felder lagen brach und die Menschen versuchten, durch Opfer von Tieren und Goldschmuck die Götter zu besänftigen.

"Jede der Eruptionen von 536/540 hat menschliche Gesellschaften wohl beeinflusst. – und das gleich zweimal kurz hintereinander", sagt Koautorin Kirstin Krüger von der Universität Oslo.

Wo lagen die Vulkane?

Rätselhaft bleibt bisher allerdings noch, welche Vulkane damals konkret ausgebrochen sind. Beim Ausbruch von 540 sprechen die Daten aus der Simulation dafür, dass der Vulkan etwa im Bereich des 15. nördlichen Breitengrad gelegen haben könnte – möglicherweise in Mittelamerika. Die Eruption von 536 dagegen könnte sich in den hohen nördlichen Breiten ereignet haben. "Es werden verschiedene Kandidaten diskutiert, unter anderem in Indonesien, Nord- und Mittelamerika", sagt Toohey. "Aber das müssen zukünftige Untersuchungen zeigen."

Nach Ansicht der Forscher spricht einiges dafür, dass die gesellschaftlichen Veränderungen, die den Beginn des Mittelalters einleiteten, zwar auf eine komplexe Kombination von Ursachen zurückgehen, dass aber die beiden Vulkanausbrüche ebenfalls eine wichtige Rolle spielten. "Denn unsere Ergebnisse stützen die Theorie eines direkten Einflusses der Eruptionen von 536 und 540 auf landwirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen vor allem in Nordeuropa und Skandinavien", so die Forscher. (Climatic Change, 2016; doi: 10.1007/s10584-016-1648-7)

(GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, 20.04.2016 - NPO)