Mittwoch, 29. Juni 2016

Der heimtückische Überfall auf die friedliebende Sowjetunion.

aus nzz.ch,  

Die Vorgeschichte zum deutschen Einmarsch von 1941
Russischer Opfermythos
Der 75. Jahrestag des deutschen Überfalls gab Russland einmal mehr die Gelegenheit, den Opfergang des Grossen Vaterländischen Kriegs zu feiern. Dabei war die UdSSR 1941 alles andere als eine Friedensmacht.

Gastkommentar von Nikolai Klimeniouk

«Meinst du, die Russen wollen Krieg?» Mit dieser Zeile aus einem Lied des sowjetischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko warb die Linksfraktion des Deutschen Bundestags für eine Friedensveranstaltung anlässlich des 75. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion. Plakate mit diesem Spruch waren überall auf Berliner Strassen zu sehen. Für viele Deutsche, auch deutsche Politiker, scheint dies eine rhetorische Frage zu sein, die mit einem eindeutigen Nein zu beantworten ist.

Weder die Annexion der Krim noch der Überfall auf die Ostukraine noch Manöver an den Grenzen europäischer Nachbarstaaten mit bis zu 100 000 beteiligten Soldaten oder die Verlegung nuklearfähiger Mittelstreckenraketen in die russische Exklave Kaliningrad mitten in EU-Gebiet oder der Einsatz von geächteter Streumunition in Syrien vermögen Zweifel an russischen Friedensabsichten zu wecken. Viel lieber spricht man, wie der deutsche Bundesaussenminister Frank-Walter Steinmeier, vom «Säbelrasseln» und vom «Kriegsgeheul» der Nato, die in Polen die Abwehr eines nicht näher genannten Aggressors übt, oder vom deutschen Tätervolk.

Doppelt geheuchelt

Im Erscheinungsjahr 1961 konnte man Jewtuschenkos Lied noch als Ausdruck der Kriegsmüdigkeit verstehen. Bezogen auf den 22. Juni 1941 wirkt aber sein Refrain in der aktuellen Politwerbung der Friedensbewegten doppelt geheuchelt. Denn die Sowjetunion, die von Nazideutschland überfallen wurde, war alles andere als ein friedlicher Staat. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 besetzte und annektierte die UdSSR Teile von Polen, Finnland und Rumänien sowie Estland, Lettland und Litauen; Hunderttausende Bürger dieser Länder wurden ermordet und deportiert. So wie heute begleitete damals Friedensrhetorik jeden Überfall: Man habe die ukrainischen und weissrussischen «Brüder» vor polnischen und rumänischen Nationalisten schützen wollen, die baltischen Staaten hätten die UdSSR freiwillig um den Beitritt gebeten, und das imperialistische Finnland, das damals etwa 3,6 Millionen Einwohner zählte, habe selbst vorgehabt, die hochgerüstete Sowjetunion zu überfallen.

Diese üble Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs hat die sowjetische Propaganda später mit allen Mitteln heruntergespielt, damit im historischen Gedächtnis der Welt nur noch der Grosse Vaterländische Krieg bleibe. In den betroffenen osteuropäischen Staaten, auch in denen, die Teilrepubliken der UdSSR waren, ist dieses Kalkül nicht ganz aufgegangen, doch Russland wie Deutschland leben mit diesem Mythos weiter, so als habe es die mörderische Allianz von Hitler und Stalin niemals gegeben.

In Jewtuschenkos Frage, ob die Russen Krieg wollen, schwingt auch eine unfreiwillige Anspielung auf die Moral der Sowjetbürger im ersten Kriegsjahr mit, die der Dichter so bestimmt nicht beabsichtigte. Den entschlossenen Widerstand gegen Hitler gab es nur in der Propaganda, weder die Rote Armee noch die Bevölkerung wollten kämpfen. Bis Ende 1941 gerieten 3,8 Millionen Rotarmisten, unter ihnen 63 Generäle, in deutsche Kriegsgefangenschaft, viele von ihnen freiwillig. 1,5 Millionen Soldaten begingen Fahnenflucht.

Die Sowjetmacht war nicht nur in den frisch besetzten Gebieten, sondern auch im Kernland bei vielen Bürgern verhasst. Das Bild, das die Sowjetpropaganda nach dem Hitler-Stalin-Pakt von Deutschland zeichnete, war dagegen sehr vorteilhaft, man pries den sozialen Aufbau im Nazistaat und seinen Widerstand gegen die imperialistischen Angelsachsen. Der schnelle Vormarsch der Wehrmacht hatte nicht allein mit der Plötzlichkeit des Überfalls zu tun, wie es die Sowjetpropaganda darstellte. Auch war die Rote Armee, entgegen Stalins Behauptung, der Wehrmacht technisch nicht unterlegen, sondern von ihm selbst durch Säuberungen demoralisiert und geschwächt. Breite Teile der Bevölkerung sahen in den einmarschierenden Deutschen mehr Befreier vom Kommunismus denn Besatzer.

Keine deutsch-russische Angelegenheit

Der Antisemitismus war auch in der UdSSR sehr verbreitet, damit hatten viele Sowjetbürger kein Problem. Viel schwieriger war für viele die Entscheidung, sich entweder mit dem Aggressor gegen das Regime zu solidarisieren oder an der Seite des Regimes gegen den Aggressor zu kämpfen. Es vergingen Monate, bis die Grausamkeiten der Besatzungsmacht und die unmenschliche Behandlung der Kriegsgefangenen die Stimmung in der Bevölkerung endgültig zum Kippen brachten.

Dass der deutsch-sowjetische Krieg zum Grossen Vaterländischen Krieg stilisiert und zu einer deutsch-russischen Angelegenheit erklärt wird, die andere osteuropäische Staaten ausklammert und die Sowjetunion als unschuldiges Opfer erscheinen lässt, ist eine besonders perfide Lüge. In vielen Kreisen Deutschlands pflegt man sie aus Angst vor dem Relativieren der Naziverbrechen, so als komme die Anerkennung von sowjetischen Untaten einer Absolution für die deutschen Täter gleich. Russland wiederum begründet damit seine vermeintlichen Einkreisungsängste und rechtfertigt so seine Aggression gegen die Nachbarn.


Nikolai Klimeniouk, geboren 1970 in Sewastopol auf der Krim, war Redaktor bei Forbes Russia, beim Moskauer Stadtmagazin Bolschoj Gorod sowie beim unabhängigen regierungskritischen Online-Magazin Publicpost.ru, das im Juni 2013 unter politischem Druck geschlossen und vom Netz genommen wurde. Seit 2014 lebt er als freier Autor in Berlin.

1 Kommentar:

  1. Hallo, guter Beitrag. Schreib doch auch in unserem Forum mit - http://geschichte-forum.forums.ag/

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