Dienstag, 31. Dezember 2013

Der Attentäter von Sarajevo.

aus NZZ, 28. 12. 2013                                                                            Gavrilo Princip wird vor Gericht geführt


Der laute Nachhall des Attentats von Sarajevo
Auf dem Westbalkan blickt man mit gemischten Gefühlen auf den hundertsten Jahrestag der Ermordung Franz Ferdinands
 


von Thomas Fuster, Wien

2014 jährt sich die Ermordung des habsburgischen Thronfolgerpaars in Sarajevo zum hundertsten Mal. Serbien blickt dem Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegen. Man fürchtet, erneut auf die Anklagebank der Weltgeschichte gesetzt zu werden.

Man muss kein Prophet sein, um dem Westbalkan für das kommende Jahr einige hitzige historische Debatten vorauszusagen. Den Anlass dazu liefert der 28. Juni 2014. An diesem Datum jährt sich zum hundertsten Mal die Ermordung des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand und von dessen Gemahlin Sophie in Sarajevo. In den meisten Geschichtsbüchern wird das Attentat als die Stunde null des Ersten Weltkriegs behandelt. Sarajevo gilt demnach als Epizentrum, von wo aus sich im Sommer 1914 in Windeseile jenes verheerende Beben ausbreitete, das bald den ganzen europäischen Kontinent erfasste und einen Krieg nach sich zog, der als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in die Geschichte einging. Ausgelöst wurde all dies durch Gavrilo Princip, einen 19-jährigen bosnischen Serben, der die zwei folgenschweren Schüsse abgab.

Präsidiale Intervention

Gar so simpel ist die Sache aber nicht. Das verdeutlichen die auf dem Westbalkan schon ein halbes Jahr vor dem Jubiläum entfachten Streitereien rund um Princip und seine Tat. Vor allem auf serbischer Seite blickt man dem Jahrestag mit gemischten Gefühlen entgegen. Das ohnehin gekränkte Nationalgefühl des Landes droht in den kommenden Monaten eine weitere Verletzung zu erleiden. Nicht genug damit, dass Serbien in den Augen des als notorisch antiserbisch empfundenen Auslands als Hauptschuldiger für die Jugoslawienkriege der neunziger Jahre betrachtet wird. Dasselbe Etikett, so die Erwartung vieler Serben, wird man im Jubiläumsjahr 2014 auch mit Blick auf den Ersten Weltkrieg angeheftet erhalten, in zahllosen Reden, Artikeln, Konferenzen. Das negative Image wird gleichsam zum Selbstläufer für die Serben.

Mit welcher Brille daher die Öffentlichkeit in den kommenden Monaten auf die Anfänge des Ersten Weltkriegs zurückblicken wird, interessiert auf dem Balkan nicht nur Historiker. Auch die hohe Politik meldet sich zu Wort und propagiert die als richtig betrachtete Lesart. Unlängst tat dies Serbiens Präsident Tomislav Nikolic in einem Artikel für die Zeitung «Politika». Darin ärgert er sich über Versuche, die Ermordung des Thronfolgerpaars als einen Akt des Terrorismus darzustellen. Das sei ein weiterer Versuch, Serbien in ungerechtfertigter Weise zu einem Schuldigen zu machen, der wiederholt weltweites Unglück ausgelöst habe. Das Land dürfe solchen Geschichtsrevisionismus nicht stumm hinnehmen, mahnt Nikolic. Schliesslich seien die Opfer für den Befreiungskampf nicht vergebens gewesen; und schliesslich sei Versöhnung auf Kosten der Wahrheit nicht möglich.

Wie zahlreiche Serben wehrt sich Nikolic dagegen, in Princips Tat den zentralen Kriegsgrund zu sehen. Den Anstoss hätten vielmehr die Grossmachtpolitik der europäischen Kaiserhäuser und vorab die Annexion von Bosnien-Herzegowina durch die Habsburger im Jahr 1908 gegeben. Auch Serbiens Ministerpräsident Ivica Dacic, wie Nikolic einst ein Verfechter grossserbischer Phantasien, wertet den Versuch, Serbien als Verursacher des Ersten Weltkriegs zu präsentieren, als Verbiegung der Geschichte und als Resultat jahrzehntelanger Propaganda, die darauf abziele, Serbien als Störfaktor nicht nur für den Balkan, sondern für die ganze Welt darzustellen. Dass man diese Rolle leid ist, eint nicht nur Serbiens Politiker. Auch in der Bevölkerung scheint das Gefühl tief verwurzelt, vom Ausland ungerecht behandelt zu werden - in jüngerer Vergangenheit etwa vom Haager Kriegsverbrechertribunal oder von der EU.

Ein jugoslawischer Held

Entsprechend wohlwollend oder gar ehrenvoll beurteilt man in Serbien den Schützen von 1914. Laut einer im November von der Nachrichtenagentur Tanjug veröffentlichten Umfrage wird Princip von einer klaren Mehrheit der Serben nach wie vor als Held betrachtet; nur ein Viertel erkennt in ihm einen blossen Attentäter. Eine besonders positive Meinung zu Princip haben die über 44-Jährigen. Sie wurden noch zu jugoslawischen Zeiten sozialisiert. Damals veranstaltete man im ganzen Land einen wahren Heldenkult um den Freiheitskämpfer. Zahlreiche Strassen und Brücken trugen den Namen von Princip, und Generationen von Schülern pilgerten an jenen Ort, wo der Sohn eines armen Postbeamten die fremden Herrscher niederschoss. Princip wurde gleichsam als Partisan der ersten Stunde gefeiert, als einer, der mit seinem Tyrannenmord den Weg ebnete für die Zusammenführung der südslawischen Völker.

Tatsächlich waren die Befreiung vom habsburgischen Joch und der Zusammenschluss der südslawischen Provinzen zwei zentrale Ziele der Organisation Junges Bosnien, der Princip angehörte. Zu dieser revolutionären Vereinigung gehörten zwar nicht nur Serben, sondern auch Muslime oder Kroaten wie etwa der spätere Literaturnobelpreisträger Ivo Andric. Die Vereinigung stand jedoch unter dem starkem Einfluss der serbischen Geheimorganisation Schwarze Hand. Diese Organisation war es auch, die Princip für seine Tat ausbildete und mit Waffen versorgte. Dass der Attentäter für den Mord nicht die Todesstrafe erhielt, erklärt sich allein damit, dass er zum Zeitpunkt der Tat noch minderjährig war. Doch weder die Strafe (zwanzig Jahre Isolationshaft in Theresienstadt) noch den Ersten Weltkrieg überlebte Princip; er starb im April 1918 an Knochentuberkulose.

Die landesweite Verehrung für den Attentäter erfuhr mit dem Kollaps des sozialistischen Jugoslawien eine Zäsur. Mit der Zergliederung des Vielvölkerstaates zu Beginn der neunziger Jahre ging auch eine Zergliederung des Geschichtsbildes einher, vor allem im Zuge der dreijährigen Belagerung Sarajevos durch serbische Verbände. Bosnjakische (muslimische) und kroatische Historiker betonten nun in verstärktem Mass die Instrumentalisierung von Princip durch serbische Nationalisten, und auch in Belgrad wurde der Attentäter als Vorkämpfer für eine grossserbische Nation neu zu erfinden versucht. Die Vereinnahmung führte dazu, dass man sich im bosnjakisch dominierten Sarajevo rasch der Erinnerungen an Princip zu entledigen begann. Ein ihm zu Ehren errichtetes Denkmal wurde entfernt, und die nach ihm und seinen Mitkämpfern von Junges Bosnien benannten Strassen, Brücken und Museen erhielten neue Namen.

Der Bosnienkrieg als Zäsur

In Sarajevo sind die Spuren der früheren Heldenverehrung denn auch verwischt. In einem kleinen Museum neben dem Tatort wird das Geschehen von 1914 in sehr nüchternem Ton und ohne jeden Anflug von Heroismus dargestellt. Die Ermordung von Franz Ferdinand und seiner Frau wird in der bosnjakischen Öffentlichkeit weit kritischer beurteilt als in Serbien. Damit verbunden ist auch ein vergleichsweise mildes Urteil über die Habsburger Herrschaft zwischen 1878 und 1918. Diese Milde mag mit den opferreichen Jugoslawienkriegen der neunziger Jahren und der anhaltenden politischen und wirtschaftlichen Misere in Bosnien-Herzegowina zusammenhängen. Tatsache ist, dass die Habsburgerzeit von vielen Bosnjaken nicht zuletzt als eine Zeit der Modernisierung und grosszügiger Investitionen in die Infrastruktur gewürdigt wird.

Doch auch in Bosnien ist man sich mit Blick auf 1914 alles andere als einig. Die ethnischen Trennlinien des fragilen Vielvölkerstaates treten auch bei der Erinnerung an das Attentat zutage. Wenige Gemeinsamkeiten gibt es vor allem zwischen dem serbischen Landesteil, der Republika Srpska, und der bosnjakisch-kroatischen Föderation. Der starke Mann der Republika Srpska, Präsident Milorad Dodik, hat seine Teilnahme an den Gedenkanlässen in Sarajevo bereits abgesagt. Das hat zum einen damit zu tun, dass er die Legitimität eines bosnischen Gesamtstaates mit Sarajevo als Hauptstadt ohnehin negiert und mit einer Reise nach Sarajevo nicht allfällige Zweifel an dieser Haltung erwecken möchte. Zum anderen zeigt er sich aber auch überzeugt, dass die Veranstaltungen sowieso auf eine reine Propaganda gegen Serbien hinauslaufen werden.

Dodik wehrt sich gegen Versuche, Princip vom Heldendenkmal zu stürzen. In seinem straff geführten Reich finden sich noch immer zuhauf Strassen, die nach dessen Namen benannt sind. In der offiziellen Geschichtsschreibung des serbischen Landesteils erscheint die Herrschaft der Habsburger nicht zuletzt als eine Periode brutaler Unterdrückung. Dodik begrüsst daher den Plan, das 1995 von kroatischen Truppen in Brand gesetzte Geburtshaus von Princip - es liegt im westbosnischen Ort Obljaj nahe der Grenze zu Kroatien - neu aufbauen zu lassen. Unterstützung erhält auch der serbische Regisseur Emir Kusturica, der am Jubiläumstag zu Ehren von Ivo Andric in Visegrad die Filmstadt Andricgrad - von Dodik zu einem serbischen Vorzeigeprojekt stilisiert - eröffnen will. Kusturica hat ferner einen Dokumentarfilm angekündigt, der beweisen soll, dass Princips Kugeln keineswegs verantwortlich waren für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Beide Seiten zitieren Kronzeugen, die ihre Lesart der Geschichte abstützen. Serbiens Präsident Nikolic untermauert seine Thesen zum Kriegsausbruch in seinem Gastbeitrag für «Politika» etwa mit dem deutschen Historiker Fritz Fischer (1908-1999). Das von Fischer 1961 publizierte Werk «Griff nach der Weltmacht» führt den Ausbruch des Ersten Weltkriegs primär auf die hegemonialen Ambitionen des deutschen Kaiserreichs zurück. So habe Deutschland die Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien unterstützt und - überzeugt von der eigenen militärischen Überlegenheit - bewusst einen Konflikt mit Russland und Frankreich in Kauf genommen. Das deckt sich mit Nikolics Überzeugung, wonach sich Deutschland und Österreich schon lange vor Princips Attentat auf einen Krieg gegen die Slawen vorbereitet hatten.

Zu viel Geschichte

Einen Gegenentwurf zu Fischers Ursachenforschung formuliert der australische Historiker Christopher Clark, der in Cambridge doziert. Sein Werk «Die Schlafwandler», das dieses Jahr in deutscher Übersetzung erschien, relativiert die Kriegsschuld Deutschlands. Zwar wehrt sich Clark angesichts der komplexen weltpolitischen Gemengelage bei Kriegsausbruch gegen simple Schuldzuweisungen. Er räumt den serbischen Hintermännern, die das Attentat auf Franz Ferdinand planten, aber vergleichsweise viel Gewicht ein; dasselbe gilt mit Blick auf die expansionistischen Pläne des Königreichs Serbiens, das eine Vereinigung aller Serben anstrebte. In serbischen Zeitungen schlug das Werk hohe Wellen. Es erhielt nicht selten das Prädikat «antiserbisch». Kritiker werten Clarks Thesen mitunter als Versuch, die Mitglieder der EU zu versöhnen und die Kriegsschuld Akteuren ausserhalb der Union anzulasten.

Weitere Bücher werden in den kommenden Monaten folgen und damit wohl auch weitere Kontroversen rund um die adäquate Einordnung der Ereignisse von 1914. Die Differenzen darüber, ob nun Princip in den Geschichtsbüchern passend als Volksheld oder als Terrorist zu bezeichnen ist und warum es zum beispiellosen Gemetzel des Ersten Weltkriegs kam, werden nicht aus dem Weg geräumt sein, wenn am 28. Juni die Wiener Philharmoniker in der neu restaurierten Nationalbibliothek von Sarajevo vor viel politischer Prominenz zum Gedenkkonzert aufspielen werden. Man wird sich bei dieser Zusammenkunft klugerweise Churchills berühmtes Diktum in Erinnerung rufen, wonach der Balkan seit je mehr Geschichte produziert, als er zu verbrauchen vermag - ein Ausspruch, der angesichts des anhaltend lauten Nachhalls von Princips zwei Gewehrschüssen wenig an Gültigkeit eingebüsst hat.

Montag, 30. Dezember 2013

War der erste Weltkrieg vermeidbar?

aus NZZ, 27. 12. 2013

Hundert Jahre Traurigkeit
Erst heute wird deutlich, dass das Desaster des Ersten Weltkriegs vermeidbar gewesen wäre. Die Lehre heisst Realpolitik.


Von Cora Stephan 

Wer in Nordfrankreich die Picardie besucht, ein Gebiet nördlich von Paris und Reims, ist meist weniger an deren lieblicher Landschaft interessiert als an dem, was darunter liegt. Es sind die Toten, die Jahr um Jahr die Besucher anziehen. Vor allem Briten pilgern an die Somme, in das Dreieck zwischen Péronne und Abbeville, auf der Suche nach einem der rund 400 Friedhöfe, die zwischen Wiese, Rübenfeld und Wald liegen, dazwischen Monumente und Totenhallen, Kapellen und Denkmäler. Tausende weisser Steine über den Überresten von Briten und Franzosen - manchmal liegen darunter sogar die Knochen der Männer, deren Namen auf den Steinen stehen, mitsamt Rang, Geburts- und Todestag. Meist ist dazu ein Kreuz eingraviert, oft ein Davidstern, auf vielen aber steht kein Name, sondern nur «A Soldier of the Great War. Known unto God.».

In Thiepval erinnert der Ulster-Tower an die 2500 irischen Soldaten, die hier an einem einzigen Tag gefallen sind, in Beaumont-Hamel gilt die riesige Skulptur eines Karibus dem Regiment der Neufundländer, das dort fast völlig aufgerieben wurde. Noch heute erkennt man in der sanften Dünung des Bodens die Konturen der Schützengräben, in denen sich die gegnerischen Soldaten gegenüber lagen. Jeden Sommer, am 1. Juli, dem Datum, an dem 1916 die für die Briten mit fast 80 000 Toten verlustreichste Schlacht begann, sind die Stätten des grossen Sterbens übersät mit Poppies, jenen Mohnblumen, die zum Symbol der gescheiterten Offensive an der Somme geworden sind.

Unorte, explosiv

Das lothringische Verdun, im Nordosten Frankreichs, ist der wichtigste Erinnerungsort der Franzosen. Auch hier eine Parade weisser Steine, die sich bis zum Horizont erstreckt. Daneben verbotene Orte, unbetretbar, weil der Boden unter Krüppelbewuchs, Gestrüpp und schillernden Sümpfen noch heute explosiv ist. Der Erste Weltkrieg lebt: Selbst im freigegebenen Gelände treffen die Pflüge der Bauern immer wieder auf Stacheldraht und Knochen, auf Geschosshülsen, Bajonette, Koppel. Und auf Blindgänger.

Noch vor zwanzig Jahren war man bei Reisen zu den Schlachtfeldern an der Westfront des Ersten Weltkriegs allein mit den Briten und Franzosen. Auch heute sind deutsche Besucher in der Minderzahl. Für viele Deutsche ist der Erste Weltkrieg «ein paar verwitterte Steine in Form von Kriegerdenkmälern und Soldatenfriedhöfen» und nicht weiter von Bedeutung, wie der ehemalige Aussenminister Joschka Fischer nicht ohne Bedauern anmerkt, er ist überschattet von der grösseren Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Und wie Fischer und sein Nachfolger als deutscher Aussenminister, Guido Westerwelle, reklamieren viele Deutsche die Schuld am Ersten, als ob es angesichts des Zweiten Weltkriegs darauf nun auch nicht mehr ankomme. Sie können mit den völkerverbindenden Trauerritualen der anderen wenig anfangen: Weil die Vorväter eine schmähliche Niederlage erlitten haben? Oder vielmehr, weil man glaubt, die Schützengräben hätten jede Menge williger Gefolgsleute Hitlers ausgebrütet, um die man nicht zu trauern hat?

Für die anderen aber ist der Erste Weltkrieg die bestimmende Signatur des 20. Jahrhunderts: Hier begann, was in Strömen von Blut mündete und erst 1989 zu Ende ging. Und was derzeit auf ungemütliche Weise wieder nähergerückt zu sein scheint.

Mich hat das Thema nie losgelassen. Mehr als fünfzehn Jahre habe ich mit der Suche nach dem Grund verbracht, der die Männer in den Schützengräben ausharren liess, im stinkenden Schlamm, verseucht mit Rattenkot, Leichenresten und Chlorkalk. Was hielt sie dort? Vaterlandsliebe? Der Glaube an die Kultur (die Deutschen) oder die Zivilisation (die Briten)? Der Hass auf den Gegner, die Liebe zum eigenen Regiment? War es ein «guter», ein «gerechter» Krieg, den Briten und Franzosen führten; ging es um die lebensnotwendige Verteidigung gegen feindliche Umzingelung, wie die Deutschen dachten? War es gar der «Krieg, um alle Kriege zu beenden», und galt es, die Welt «sicher für die Demokratie» (der amerikanische Präsident Woodrow Wilson) zu machen? War das legitime Kriegsziel der Alliierten im Ersten ganz ebenso wie im Zweiten Weltkrieg, ein nach der Weltmacht strebendes barbarisches Deutschland in seine Schranken zu weisen? Und war man mit dem Deutschen Reich am Ende viel zu sanft umgegangen, hätte man es «zerschmettern» müssen? Oder war es, umgekehrt, just das ungerechte und rachsüchtige Diktat von Versailles, das Deutschland reif für Hitler machte?

Und was bedeutete noch ein «Sieg» nach einem vierjährigen Schlachten, in dem schätzungsweise zehn Millionen Männer umkamen, nicht zu reden von den tödlichen Folgen der Blockadepolitik und der Grippewelle, die vielfach auf eine ausgehungerte Zivilbevölkerung traf?

In Grossbritannien ist ein Etat von 50 Millionen Pfund für die Gedenkfeierlichkeiten 2014 beschlossen, doch dort streitet man schon jetzt um das, was genau das grosse Erinnern denn nun vermitteln soll. Trauern um des Trauerns willen? Erinnerung um der Erinnerung willen? Was bei den Deutschen so auffällig fehlt, ist bei den Briten im Überfluss vorhanden, wo es in den letzten Jahrzehnten eine Flut von Literatur zum «Krieg des kleinen Mannes» gegeben hat. Während viele Deutsche ihre Vorfahren offenbar allesamt für irgendwie schuldig halten, sehen die Briten in ihren Gefallenen nur Opfer und nicht Männer, die doch ebenfalls getötet haben, wie die Historikerin Joanna Bourke moniert, die fürchtet, dass Erinnerung auch verklären, verkleistern und Rachegefühle nähren kann.

Kurz: Es geht um die Lehren aus dem grossen Krieg, und die sind, sofern man es nicht beim mahnenden «Nie wieder Krieg!» belässt, nicht eben leicht zu ziehen. Kritiker unter den britischen Historikern bestreiten, dass es sich um einen «gerechten Krieg» gehandelt habe - und konstatieren, dass von einem «Sieg» wohl kaum gesprochen werden könne. Tatsächlich hat der Erste Weltkrieg nicht ein einziges Problem gelöst, dafür viele neue geschaffen. Er gebar die bolschewistische Revolution und den Stalinismus. Die Verträge von Versailles schufen keinen Frieden, sondern neuen Sprengstoff, etwa zwischen Polen und Deutschland. Sie ebneten Hitler den Weg, der die Welt glauben machte, in den Schützengräben hätten «Volk und Führer» zusammengefunden, eine Propagandalüge, die Thomas Webers «Hitlers Erster Krieg» abschliessend widerlegt hat. Ebenso wenig befriedete die Nachkriegsordnung den Balkan oder den Nahen Osten. Schon 1994 machten die Kriege im auseinandergebrochenen Jugoslawien klar, dass die Transformationsprozesse auf dem Balkan hinter dem Eisernen Vorhang nur ruhiggestellt, aber nicht abgeschlossen waren.

Paradigmenwechsel

Tatsächlich war das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 mehr als ein blosser Anlass eines aus anderen Gründen überfälligen Konflikts. Es war die (nur zufällig geglückte) Tat der «Schwarzen Hand», einer von Serbien unterstützten Terroristentruppe. Österreich hatte jedes Recht, Serbien dafür zur Verantwortung zu ziehen. Erst im Laufe der Julikrise weitete sich der lokale Konflikt im Chaos von Bündnisverpflichtungen und diplomatischen Fehleinschätzungen aus und wurde, zuerst durch die russische Mobilmachung und zuletzt durch den Kriegseintritt Grossbritanniens, global. Seine Ausweitung war, so argumentieren auch Historiker wie Sean McMeekin, Niall Ferguson oder Andreas Rose, alles andere als notwendig, zwingend oder konsequent. Und die Rolle des Schurken mit dem rauchenden Colt in der Hand bleibt unbesetzt, es sei denn, man möchte unbedingt Frankreich und Russland an die Stelle des Deutschen Kaiserreichs setzen.

Man darf das sicher einen Paradigmenwechsel nennen. Christopher Clarks «Die Schlafwandler» und Herfried Münklers Werk «Der Grosse Krieg» sind dazu die Bücher der Stunde. Zwei literarische Ereignisse, die zeigen, was Geschichtsschreibung vermag, die sich der moralischen Wertung und ideologischen Verzerrung enthält und die so weit wie irgend möglich auf jenen «Rückschaufehler» verzichtet, mit dem vergangene Ereignisse vom Wissen um ihr «Ergebnis» her beurteilt werden. Der historische Kanon muss neu aufgelegt werden.

Die Führungseliten von Grossbritannien und Russland, Frankreich und Österreich-Ungarn, Serbien und Deutschland: Sie alle haben ihren Anteil an der grossen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Deutschen, nicht nur, aber auch, weil sie dumm genug waren, Österreich-Ungarn eine Blankovollmacht zu erteilen; die Franzosen, die der russischen Führung versprachen, im Falle eines österreichischen Angriffs auf Serbien den Bündnisfall zu erklären; die Russen, die als Erste mobilmachten, und die britischen Politiker, die neben ihrer Bündnisverpflichtung gegenüber Frankreich und Russland keinen Grund hatten, sich einzumischen - ausser, dass sie Russland mehr fürchteten als Deutschland. War es wirklich das Leid Belgiens, das der britischen Regierung ein Eingreifen gebot? Oder diente die deutsche Verletzung der belgischen Souveränität, jene unbestreitbaren «Greuel» beim Durchmarsch durch Belgien, als Vorwand? Erst mit der britischen Intervention wurde der Konflikt global. Wusste die britische Regierung, was sie tat?

Der grosse Krieg war, wie Niall Ferguson schon vor Jahren schrieb, ein «falscher Krieg». Fergusons provozierende These: Hätte man das Deutsche Reich 1914 nicht bekämpft, sondern an den Tisch der Grossmächte gelassen, hätte man ganz ohne Millionen von Toten erreicht, was heute der Fall ist: Deutschland ist als stärkster (ökonomischer) Faktor die Zugmaschine Europas.

Tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass man in Grossbritannien langsam vom nationalen Mythos Abschied nimmt, dass man im Deutschen Reich das Böse bekämpft habe und in diesem grauenvollen Gemetzel die Guten gewesen sei. Eine nationale Legende, die über den Verlust der Weltmacht an Amerika hinweggetröstet hat: Bei Kriegsende war Grossbritannien nicht mehr Gläubiger, sondern Schuldner der USA, des einzigen Beteiligten, der vom europäischen Krieg profitiert hat. Deutschland, sonst gewohnheitsmässig Objekt britischer Häme, ist im Land des Hun-Bashing heute so beliebt wie nie zuvor. Nur die Deutschen trennen sich ungern von der Rolle des schuldigen Schurken.

Warum? Weil Rechtsausleger nun frohlocken könnten, die «Kriegsschuldlüge» sei endlich widerlegt? Lasst sie doch. Dass es keinen gibt, den man als einzig Schuldigen am Tod von Millionen herausgreifen kann, macht die Sache ja nicht besser, ganz im Gegenteil. Der wahre Skandal ist die Erkenntnis, dass das grosse Schlachten vermeidbar gewesen wäre, dass es ganz und gar sinnlos gewesen sein könnte, dieses Ausharren und Sterben der Männer in den Schützengräben und der Menschen an der «Heimatfront». Und dass es beim besten Willen nicht gelingt, dem gigantischen Blutbad im Nachhinein auch nur ein Fünkchen Sinn zu implantieren. Der Krieg, der alle Kriege beenden sollte, endete in einem Frieden, der allen Frieden zunichtemachte. Es gibt keine Sinngebung des Sinnlosen.

Die Europäer haben nicht nur eine traumatische Erfahrung gemeinsam, wie man heute vielleicht deutlicher erkennt als je zuvor. Sie haben auch allesamt einen Trost verloren: dass es, hier wenigstens, Schwarz und Weiss gibt im Krieg, Täter und Opfer, Schuldige und weisse Ritter, Schurken und Helden. Nur solange man an das Böse glauben kann, ist auch das Gute denkbar. Das mag einer der Gründe sein, warum man in Deutschland die Bürde des Schurken nicht erleichtert abwirft. Und könnte eine Paradoxie erklären: Wer an eine Inkarnation des Bösen glaubt, erwartet vom «Guten» oft mehr, als menschenmöglich ist.

Doch hat der deutsche Schurke nicht wenigstens den Nachbarn ein gutes Gefühl gegeben: den Franzosen moralische Überlegenheit trotz Niederlage, den Briten den Trost, ihr Weltreich für die richtige Sache riskiert zu haben? Gewiss. Zyniker verweisen überdies darauf, dass nur ein Schuldspruch den Siegern erlaubte, die enormen Kosten des Krieges auf den Besiegten abzuwälzen. Die Reparationszahlungen sind seit dem 3. Oktober 2010 abgeleistet.

Moralische Sinnstiftung

Der Abschied von Gut und Böse führt ins Reich der Schatten und in die kalte Welt der Realpolitik, in der Interessen zählen, ohne dass Moral sie veredelt. Und das ist gut so. Denn der Erste Weltkrieg hat weiteres Unheil in die Welt gesetzt: die moralische Aufladung, aus der Notwendigkeit gezeugt, dem Sinnlosen einen Sinn zu verleihen. Ging es wirklich, wie der britische Premier Asquith 1916 postulierte, um einen edlen Kreuzzug gegen «Barbarei» und «ungezähmte Machtgier»? Dass Grossbritannien wegen «Little Belgium» das Risiko der Globalisierung des Konflikts eingegangen ist, dass es moralisch dazu gezwungen gewesen sei, dass es eingreifen musste, ist natürlich eine entschieden sympathischere Deutung als die kühle Schilderung Christopher Clarks: Belgien sei das einzige Argument gewesen, das die Regierung Grey noch hatte, um den Krieg vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Denn auch in den britischen und französischen Kriegsplänen war das neutrale Belgien als Durchmarschgebiet vorgesehen. Und die USA, die erst recht keinen Grund hatten, sich in die kontinentalen Querelen einzumischen? Woodrow Wilson wählte die hochtrabende Begründung, dies sei nicht weniger als «ein Krieg, um alle Kriege zu beenden».

Man bemühte höchste Ziele, weil naheliegende nicht zu haben waren. Dabei weiss jeder verstandesbegabte Befehlshaber, dass ein Sieg von überlegenen Kräften und dem Glück abhängt und nicht vom moralischen Zuschnitt des Siegers.

Tatsächlich setzte der Erste Weltkrieg vor allem in Grossbritannien eine Propagandamaschinerie in Gang, die das Sinnlose mit den gröbsten Mitteln moralisch zu veredeln suchte. Es ist halt das Problem von Demokratie, dass man Kriegshandlungen nicht einfach anordnen kann, man muss das Volk überzeugen - was meistens heisst: es manipulieren. Wie immer man die Appeasement-Politik Chamberlains gegenüber Hitler beurteilen mag (und auch hier gibt es nicht nur Schwarz und Weiss): Britischen Politikern war später sehr wohl bewusst, dass die britische Propaganda gegen das Kaiserreich sämtlichen Gepflogenheiten widersprach, die in den europäischen Staatenkriegen bis dato galten, wozu Respekt vor dem Gegner gehörte. Frontsoldaten hat der Jingoismus an der Heimatfront denn auch zutiefst abgestossen. Nicht zufällig gab es zu Weihnachten zwischen Deutschen und Briten Versöhnung über die Schützengräben hinweg.

Was zu lernen wäre

Welche Lehren soll man also ziehen? «Nie wieder Krieg»? Das ist ein frommer, aber kindlicher Wunsch. Militärische Gewalt ist ja nicht immer sinnlos. Und berechtigte Interessen oder die nationale Souveränität muss man auch verteidigen können.

Mehr Europa? Auch das ist ein frommer Wunsch, wenn man ihn an der Realität misst. Nicht in erster Linie die EU oder die deutsch-französische Freundschaft haben dem Kontinent Jahrzehnte des Friedens geschenkt, sondern der Kalte Krieg. Mit dem Ende der bipolaren Welt 1991 ist Krieg wieder begrenzbar und damit möglich geworden. Die krisenhafte Neuformierung Ex-Jugoslawiens ist einstweilen beendet, die Brandherde im Nahen Osten aber sind noch lange nicht gelöscht.

Und was den Euro betrifft: Ganz offenbar hat er Europa nicht vereint, sondern die unterschiedlichen Interessen, die seine Nationen vertreten, schmerzhaft deutlich gemacht. Deutschland zur Kasse bitten mit dem Argument, dass das Land nach zwei verschuldeten Weltkriegen mit seiner Euro-Politik die dritte Katastrophe verursache, ist keine überzeugende Basis für ein einiges Europa. Dass das Argument überhaupt eine Rolle spielt, zeigt, dass das neue Deutschland in einer Hinsicht das alte ist: Wieder wirkt es isoliert, unsicher, in welche Richtung es schwanken soll, nicht willens, eine Rolle zu übernehmen, die es nicht ein einziges Mal gemeistert hat, nämlich wenn nicht Weltmacht, so doch zumindest Führungsmacht zu sein. Es ist heute das, was Churchill ihm einst an den Hals wünschte: «fat and impotent».

Wir müssen, gerade jetzt, in seiner schwersten Krise seit 1945, Europa neu denken. Der Kontinent hat sich vereint die Wunde geschlagen, von der er sich bis heute nicht erholt hat. Hitlers unvorstellbare Verbrechen haben den Blick darauf verstellt.

Kann man die Wunde heilen? Die erneute Isolation Deutschlands als des ewigen Schurken ist fatal. Wenn der Euro als Fortsetzung von Versailles mit anderen Mitteln betrachtet wird, muss er scheitern. Das starke Deutschland braucht starke Bündnispartner. Ein Tipp: Man kann ihnen womöglich am 1. Juli an der Somme begegnen.

Cora Stephan lebt als Buchautorin, Kolumnistin und Essayistin in Hessen. 2011 ist bei Knaus erschienen: «Angela Merkel. Ein Irrtum». Ihr Buch «Handwerk des Krieges» ist jüngst als E-Book wiederaufgelegt worden.


Nota.

Natürlich war Deutschland, historisch betrachtet, der Hauptkriegsschuldige -  als Störenfried im europäischen, und das hieß damals: im internationalen Gleichgewicht, das England und Frankreich an der Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert ausgefochten hatten; erst in den Koalitions-, dann in den napoleonischen Kriegen. Deutschland war die zuspätgekommene Nation, und der Platz an der Sonne, den es beanspruchte, hatten schon Andere besetzt. Die musste es von da verdrängen - sofern sie nicht friedlich nachgaben. 

Das ist die Betrachtung des Historikers. Politisch betrachtet, ist das Bild ein anderes. Dass Österreich 1908 Bosnien annektiert hat, war zwar völkerrechtlich bedenklich; aber hätte es darauf verzichtet, wären die Folgen kaum friedlicher gewesen. Russland hat sich allerdings nicht um des Friedens, sondern um der Meerengen willen bis über die Ohren in Serbien engagiert. Und dass das republikanische Frankreich sich auf Gedeih und Verderb mit dem Selbstherrscher aller Reußen verbündet hatte, wird man mit gutem Recht dem Revanchismus eher zuschreiben als der Sorge um das Europäische Gleichgewicht.

Mit andern Worten, wer bei der Veranlassung des Ersten Weltkriegs die größere Rolle gespielt hat, ist eine Frage für den Aktenkundler. 

Wer den Ersten Weltkrieg verursacht hat, ist für den Historiker keine Frage. Und eine moralische schon ganz und  gar nicht.
JE 

 

Sonntag, 29. Dezember 2013

Die normative Kraft des Faktischen.

aus Der Standard, Wien ,29. 12. 2013

Hydraulik der Macht, komplexe Krisen
Drei bemerkenswerte Sachbücher des Jahres 2013 befassen sich mit Krisenphänomenen: vor dem Ersten Weltkrieg und in der Gegenwart

von Bert Rebhandl 

Im Jahr 1892 schrieb der österreichische Jurist Georg Jellinek ein Buch mit dem Titel "System der subjektiven öffentlichen Rechte", in dem er von der "normativen Kraft des Faktischen" sprach. Die Formulierung ist zu einer Redewendung geworden; sie verweist darauf, dass wir uns in der Regel auch an außergewöhnliche Umstände irgendwie gewöhnen und sie schließlich als normal ansehen. So ist zum Beispiel nicht so richtig klar, ob die Mittelschichten derzeit im reichen Zentrum Europas in einer Krise leben oder von dieser nur am Rande betroffen sind, etwa durch extrem niedrige Sparzinsen. Politiker argumentieren gern mit der normativen Kraft des Faktischen, während Politik doch eigentlich zum Ziel hätte, das Faktische mit dem Erstrebenswerten zu vermitteln.

In ähnlicher Weise war den Eliten und auch dem größten Teil der Bevölkerung in den Monaten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht klar, ob es Alternativen zu der internationalen Nervosität gab, mit der die europäischen Mächte auf die Katastrophe zusteuerten. Das Faktische schien zu übermächtig, die Zukunft war nur eingeschränkt offen, wie Christopher Clark in seinem Buch "Die Schlafwandler" schreibt. Auf 900 Seiten erschließt der britische Historiker darin die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Das Buch findet sich seit vielen Wochen ganz oben in den Sachbuch-Bestsellerlisten. Das ist ein Erfolg, der Fragen aufwirft, die auf das Lesen von Sachbüchern insgesamt zurückwirken.
Denn eine der Überlegungen zu der Attraktion von Clarks detailreichem Schinken weist in die Richtung, dass das Buch eben als ein historisches Beispiel für eine sich schließende Zukunft gelesen wird. Clark selbst spricht an einer Stelle von der Julikrise von 1914 als der "komplexesten und undurchschaubarsten Krise der Moderne".

Taktische Mittel

Er versucht dabei nun nicht, diese Komplexität und Undurchschaubarkeit aufzulösen, sondern ihr in seiner Darstellung gerecht zu werden. Geschichte wird für den in Cambridge lehrenden Historiker zu einer Erfahrung fehlenden Durchblicks. Die handelnden Personen sind allesamt zu sehr in die "Hydraulik" oder "Fluidität" der Macht verstrickt, als dass sie in der Lage wären, einen klaren alternativen Gedanken zu fassen, der die "normative Kraft des Faktischen" außer Kraft setzt. Clark erwähnt den staatsrechtlichen Klassiker von Jellinek aus dem Jahr 1892 nur am Rande, allerdings an zentraler Stelle seines Buches, nämlich im Zuge der Zwischenbilanz, die er zieht, bevor er zu dem Attentat von Sarajevo kommt.

Der Effekt, den Clark mit seiner Gelehrsamkeit beim Lesen erzeugt, ist dabei selbst ein Aspekt von Modernität. Denn er löst das historische Handeln mehr oder weniger in kleinteilige Horizontlagen auf. Ein kurzer Passus zum Schlieffen-Plan macht das sehr schön deutlich. Während meiner Schulzeit war das noch einer der zentralen Lerninhalte zum Ersten Weltkrieg. Er stand für die strategische Vorbereitung Deutschlands auf einen Zweifrontenkrieg, und zwar schon ein Jahrzehnt vor dessen Ausbruch.

Clark zitiert nun mehr oder weniger en passant eine Studie, dass der "Kriegsplan" von Schlieffen möglicherweise gar nicht als solcher gedacht war, sondern ein taktisches Mittel in den Bemühungen einer Fraktion um den deutschen Kriegsminister, den fiskalkonservativen Kanzler Bethmann Hollweg zu größeren Militärausgaben zu bewegen. Was mir in der Schule also noch als taktische Idee von hannibalischer Größe nahegebracht worden war, wird bei Clark zu einem Ereignis von sehr heutiger Resonanz: zu einem Detail in einem innenpolitischen Verteilungskampf.

Man riskiert wohl nicht zu viel, wenn man den Erfolg von "Die Schlafwandler" auch in einer bestimmten Ambivalenz begründet sieht. Denn bei Clark löst sich Komplexität letztendlich auf Detailliertheit hin auf, sein Buch liest sich stellenweise wie eine Meditation darüber, dass relativ hoch entwickelte Mächte 1912 ihre Politik aus Zeitungsartikeln herleiteten, die einander die Büros verschiedener Ministerien zuschickten, nicht selten in dem teilweise sogar begründeten Glauben, aus einem lancierten Text spreche die gegnerische Regierung. Die Gründlichkeit, mit der Clark dies alles erzählt, ist ermüdend, und auch ein wenig fatalistisch. "Die Schlafwandler" ist kein Menetekel, aber doch ein Abgesang auf die Idee von historischer Handlungsmacht. Die "undurchschaubarste Krise der Moderne" löste sich von selbst, und zwar höchst gewaltsam, und sie brauchte dazu ein halbes Jahrhundert.

Zum Abschluss seines Buches legt Christopher Clark selbst einen aktuellen Bezug nahe: Er sieht Parallelen zu der Finanzkrise in der Eurozone 2011/2012: "Die ganze Zeit über nützten die politischen Akteure während der Eurokrise die Möglichkeit einer allgemeinen Katastrophe aus, um sich bestimmte Vorteile zu verschaffen. So gesehen sind die Akteure von 1914 unsere Zeitgenossen." Allerdings sind die Unterschiede, wie er danach gleich einräumt, ebenso bedeutend wie die Gemeinsamkeiten. Eine wichtige Gemeinsamkeit entgeht ihm dabei sogar, obwohl er sie selber nahegelegt hat: Die Finanzkrisen seit 2008 sind Krisen, in denen es wesentlich um die "normative Kraft des Faktischen" geht.

Das Faktische ist in diesem Fall eine kapitalistische Wirtschaftsordnung, die als alternativlos gilt. Der Kapitalismus muss sich nicht mehr legitimieren, während er im Grunde in einer seiner größten "Legitimationskrisen" steckt. Das ist jedenfalls eine der Pointen des Buches "Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Sozialismus" von Wolfgang Streeck. Der in Köln lehrende Soziologe sucht darin nach einer historischen Verortung der gegenwärtigen Schwierigkeiten zwischen Geld- und Realwirtschaft. Er findet das Ursprungsszenario an der Schwelle von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren, in einer Phase also, in der bestimmte Übereinkünfte aus den Wirtschaftswunder-Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg brüchig wurden. Der Kapitalismus als "gesellschaftliche Großformation" hatte sich in dieser Periode um eine "demokratische Lizenz" bemüht, nun aber brach "die alte Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie" wieder auf.

Streeck zieht aus der Beobachtung, dass die Kritische Theorie um Adorno und Friedrich Pollock das Kapital als Akteur unterschätzt hatte, einen konsequenten Schluss und setzt es mit Macht als Handlungsfaktor ein: Das Kapitalinteresse als solches revoltiert seit den Siebzigerjahren gegen die demokratisch eingehegte "mixed economy" der Nachkriegszeit. Die Politik reagiert darauf, indem sie Zeit kauft: durch Wohlfahrtsleistungen, die zu Staatsschulden führen; durch Privatisierung öffentlicher Güter; durch Vergrößerung der Geldmenge; durch Verschuldung der privaten Haushalte, die nun für Leistungen aufkommen müssen, aus denen sich der Staat zurückzieht. Streeck löst also eine Krise, die es an Undurchschaubarkeit durchaus mit der von 1914 aufnehmen kann, in einen einfachen Gegensatz auf: Kapitalismus und Demokratie gehen nicht Hand in Hand, sondern der eine treibt die andere vor sich her.

Seine konkreten Vorschläge für einen "Rückbau der Währungsunion" und ein "europäisches Bretton Woods" (also ein reguliertes Wechselkurssystem) sind vergleichsweise pragmatisch. Der Vorzug von Streecks Buch liegt aber darin, dass er den demokratischen Kapitalismus als historische Formation konturiert. Ohne es so richtig zu begreifen, haben die heute Fünfzigjährigen einen Formationswechsel mehr oder weniger erlitten - ein Exempel für eine "normative Kraft des Faktischen", gegen die sich erst wieder eine demokratische Politik formieren muss.

Es gibt wohl nur noch eine historische Formation, in der sich das "Faktische" noch allgemeiner und normativer zeigt als in den verschiedenen Marktordnungen der Wirtschaft: in jenem wissenschaftlichen (modernen) Weltbild, das uns auf eine umfassende Naturordnung verweist, in der alles zusammenhängt. Die immer noch enormen Fortschritte, die auf diesem Feld erzielt werden, haben gerade in den letzten Jahren zu einem neuen "Naturalismus" geführt, der immer wieder auch auf die menschliche Handlungsfreiheit veranschlagt wird. Für eine solche gibt es in einem radikalen Szientismus keinen Raum.

Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel antwortet auf diesen Reduktionismus in seinem Buch "Geist und Kosmos" mit einer weitreichenden Revision des Stellenwerts des wissenschaftlichen Weltbilds. Der Untertitel enthält gleich zwei der wesentlichen Begriffe, und er zeigt bereits den Argumentationsduktus von Nagel: "Warum die neodarwinistische materialistische Konzeption von Natur so gut wie sicher falsch ist". Nagel zielt nicht auf eine neue Gewissheit, sondern zuerst einmal auf eine Relativierung alter Gewissheiten. Er legt geduldig dar, warum er es für unwahrscheinlich hält, dass der Geist (also die menschliche Fähigkeit, sich denkend auf sich selbst und auf die Welt zu beziehen) das Produkt evolutionären Zufalls* ist. Dass ein Wesen, das von den Bakterien abstammt, wie Nagel in einer schönen Zuspitzung einer der berühmten "Kränkungen" formuliert, auch über einen langen historischen Zeitraum durch Mutation und Auslese entsteht, ist für Nagel eine "Annahme" und eben keine wissenschaftliche Tatsache.

Dem hält er eine Beschäftigung mit "intelligent design" entgegen, also mit Versuchen, die Naturordnung als auf Geist hin aus- und eingerichtet zu begreifen. Das ist gemeinhin ein Argument, das von religiöser Seite kommt: Gott wäre dann derjenige, von dem dieses "Design" stammt. Nagel kann damit nichts anfangen, der Theismus erscheint ihm genauso verkürzt wie der Materialismus. Er will mit seinem Buch nur einen Raum für eine erweiterte Naturwissenschaft schaffen, in der der Geist zu einem zentralen Faktum würde - und nicht zu einem Epiphänomen wie in der Evolutionslehre. Das geht nicht ohne Zirkelschlüsse, schafft aber ein Gegengewicht zu der "normativen Kraft des Faktischen", das sich schließlich sogar bei der Lektüre von Büchern über Krisen von 1914 bis 2014 noch als bedeutsam erweist.

*Nota.

Na, allzuweit scheint er sich ja von der "wissenschaftlichen Weltanschauung" - so hieß der flache Materialismus im pp. Realexistierenden - nicht entfernt zu haben. Auf das 'Naturgesetz' von Anpassung und Selektion hat er wohl verzichtet; aber ganz ohne Naturgesetze mag er doch nicht auskommen. Wenn's nicht die Automatik von Ursache und Wirkung sein kann, dann muss es ein anderer -matismus sein, und notfalls ein allererster Beweger von Allem. Nicht in Frage kommt, dass die Dinge eben so sind wie sie sind und einen tieferen Sinn für sich gar nicht reklamieren. Sinn, Zweck, Logik, Verstand und Folgerichtigkeit sind sämtlich menschliche Erfindungen. 'Die Natur' weiß nichts davon, und wir haben kein Mittel, sie eines Besseren zu belehren.
JE 

Samstag, 28. Dezember 2013

Türkische Krise.

aus NZZ, 27. 12. 2013

Die Türkei auf schiefer Bahn
Die innenpolitischen Unruhen verschärfen die aussenwirtschaftliche Verletzlichkeit

von Thomas Fuster, Wien

Die türkische Wirtschaft glänzt zwar mit hohem Wachstum. Die Expansion erfolgt aber auf sehr ungleichgewichtige Weise. Durch die Unruhen der vergangenen Tage sind die aussenwirtschaftlichen Risiken weiter gestiegen.

Die türkische Regierung hat 2013 aufgrund des unzimperlichen Vorgehens gegen friedliche Demonstranten viel politischen Goodwill verspielt. Mit Blick auf das Wirtschaftswachstum kann sich das Land am Bosporus aber sehen lassen. Mit einer für 2013 auf 4% geschätzten Expansion hat man nach der willkommenen Abkühlung im Vorjahr (2,2%) auf einen Wachstumspfad zurückgefunden, der beeindruckend anmutet. Für Ministerpräsident Erdogan ist dies mit Blick auf die Lokalwahlen im März und die Präsidentschaftswahl im Sommer von besonderer Wichtigkeit. Angesichts der notfallmässigen Regierungsumbildung am Mittwochabend wegen der laufenden Korruptionsermittlungen gegen regierungsnahe Personen wird der zusehends autoritär agierende Regierungschef alles daransetzen, das Wahlvolk mit brummender Wirtschaft bei Laune zu halten.

Im Klub der «fragilen fünf»

Doch der Glanz des Wachstums - im dritten Quartal betrug das Plus 4,4% - ist kein Grund für Selbstzufriedenheit. So zeigt ein Blick auf die wichtigsten Antriebskräfte eine sehr ungleichgewichtige Entwicklung. Seit Jahren verdankt das Land sein Wachstum primär der Konsumnachfrage. Das war auch im dritten Quartal nicht anders: So stieg der Konsum der Privathaushalte um über 5%. 

Beunruhigend stimmt dabei, dass dieser Konsum immer öfter mittels Krediten finanziert wird, während die Sparquote auf rekordtiefem Niveau verharrt. Die Aussenwirtschaft leistet keinerlei positiven Beitrag zum Wachstum. So sanken die Exporte im dritten Quartal um 2,2%, während die Importe um 6% zulegten - eine Bewegung, die teils auch mit der hohen Abhängigkeit von Energieimporten zu erklären ist.

Folge dieses Ungleichgewichts ist eine tiefrote Leistungsbilanz. Das entsprechende Defizit dürfte in diesem Jahr einmal mehr bei über 7% des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu stehen kommen. Um diesen Fehlbetrag finanzieren zu können, ist die Türkei auf Gedeih und Verderb auf einen hohen Zufluss von ausländischem Kapital angewiesen. Nicht von ungefähr sorgen die Mutmassungen rund um das Wann und Wie einer etwas weniger grosszügigen amerikanischen Geldpolitik für besonders hohe Nervosität in der Türkei. Die Währung des Landes wird von Ökonomen denn auch dem Klub der «fragilen fünf» zugeordnet. Dazu gehören neben der Türkei auch Brasilien, Indonesien, Indien und Südafrika - Länder, die alle mit hohen externen Ungleichgewichten und einer starken Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen kämpfen.

Mit entsprechend hoher Volatilität und Verletzlichkeit gegenüber raschen Stimmungsschwankungen muss auch 2014 gerechnet werden. Die in homöopathischer Dosierung bereits in Angriff genommene Drosselung der Anleihenkäufe durch das Fed dürfte die türkische Lira, die dieses Jahr gegenüber dem Euro schon um 17% an Wert eingebüsst hat, weiter unter Druck setzen. Dies umso mehr, als das Leistungsbilanzdefizit zu über 80% durch kurzfristige Portfolioinvestitionen finanziert wird und nicht durch Direktinvestitionen, die naturgemäss weit langfristiger und somit auch stabiler sind. Setzt man die kurzfristigen ausländischen Verbindlichkeiten der Türkei in Relation zu den nicht allzu üppig geäufneten Devisenreserven, zeigt sich, dass diese Quote (von Moody's Investors Service als Indikator der Verletzlichkeit bezeichnet) in kaum einem Investment-Grade-Land ähnlich hoch ausfällt wie in der Türkei.

Zu lockere Geldpolitik

Was wäre zu tun? Zur Stützung der kränkelnden Lira und zur Dämpfung der Importnachfrage erschiene eine Anhebung der Zinsen naheliegend. Dies auch deshalb, weil die Inflation dieses Jahr erneut deutlich über den von der Zentralbank mittelfristig angepeilten Zielwert von 5% zu liegen kommt; per November lag der Preisanstieg bei 7,3%. Höhere Zinsen könnten zudem helfen, die Bevölkerung mehr zum Sparen zu motivieren und die ungestüm wachsende Kreditnachfrage zu dämpfen. So lag das Kreditwachstum per November im Vorjahresvergleich bei 30% und somit auf einem doppelt so hohen Niveau wie die von der Notenbank angestrebte Rate von maximal 15%. Zwar hat die Bankenaufsichtsbehörde jüngst diverse Massnahmen zur Abkühlung der Kreditwirtschaft angekündigt; diese Massnahmen wären aber weit wirksamer, wenn sie auch geldpolitisch flankiert würden.

Doch die Notenbank, gefangen in einer sehr unorthodoxen Geldpolitik, macht keine Anstalten, den Schlüsselsatz zu erhöhen. Sie fährt einen Kurs, der mit Blick auf Wachstum und Inflation als sehr locker zu taxieren ist. Dass dies nicht nur ökonomische Gründe hat, ist anzunehmen. So übt Erdogan unverhohlen Druck auf die Zentralbank aus und fordert möglichst tiefe Zinsen. Dahinter stehen zum einen die anstehenden Wahlen und das Interesse an hohem Wachstum. Zum andern ist dem strenggläubigen Regierungschef das Zinswesen äusserst suspekt. Je länger die Zentralbank den Wünschen Erdogans nachkommt und dem Wachstum mehr Gewicht beimisst als der Preisstabilität, desto grösser wird der Verdacht, dass Erdogan in der von ihm straff geführten Türkei längst auch schon die Geldpolitik kontrolliert - trotz formeller Unabhängigkeit der Währungshüter.

Freitag, 27. Dezember 2013

Erst eine Schwellenmacht.

aus NZZ, 27. 12. 2013



Die halbe Weltmacht
David Shambaugh sieht China noch weit entfernt vom Grossmachtstatus
 


von Jürgen Kahl 

China gilt als die unbedingte Weltmacht der Zukunft. In der Gegenwart entspricht Pekings Einfluss auf das Weltgeschehen allerdings noch längst nicht demjenigen einer Supermacht. 

Als David Shambaugh an seinem jüngsten Buch über China schrieb, waren die Massstäbe, an denen der amerikanische Politikwissenschafter die aufsteigende Grossmacht misst, noch halbwegs intakt. Spätestens seit den Enthüllungen über die abgründigen Ausspähpraktiken des militärischen Geheimdienstes NSA muten manche seiner Urteile jedoch ironisch zwiespältig an, etwa, dass China heute der weltweit aggressivste «Cyber-Staat» sei. Dass der amerikanischen Regierung im Kampf gegen den Terror anscheinend jedes Mittel recht ist, macht das chinesische Regime nicht sympathischer. Aber es stärkt auch nicht die Glaubwürdigkeit des Überlegenheitsanspruchs, den der Autor für die liberale Rechtsstaatlichkeit der westlichen Vormacht implizit geltend macht.

Kompakte Gesamtschau

Dennoch fällt «China Goes Global» nicht in die Kategorie des wohlfeilen China-Bashing. Shambaugh, der den zweiten Aufbruch der Volksrepublik seit Beginn der achtziger Jahre aufgeschlossen kritisch begleitet, hat in seinem jüngsten Buch versucht, den globalen Fussabdruck, also das tatsächliche Gewicht Chinas im internationalen Gefüge, nach allen Seiten seines wirtschaftlichen, diplomatischen, militärischen und kulturellen Einflusses zu vermessen. Von besonderem Interesse ist, dass die kompakte Gesamtschau auch einen Einblick vermittelt, wie kontrovers und widersprüchlich selbst in den aussenpolitischen Think-Tanks in China das internationale Rollenverständnis des Weltmacht-Aspiranten diskutiert wird.
 


David Shambaugh:
China Goes Global.
The Partial Power.
Oxford University Press, New York 2013. 409 S., Fr. 45.00




Das Ergebnis, zu dem Shambaugh kommt, nimmt der Untertitel des Buchs vorweg. Die Kennzeichnung Chinas als «partial power» begründet er mit drei Kernaussagen. Die erste bezeichnet die These, wonach das Land dem Status einer Weltmacht greifbar nahe gerückt sei, als irreführende Spekulation.

Durch einen beispiellosen Kraftakt sei China in kurzer Zeit zu einem gewichtigen globalen Akteur geworden. Von der Fähigkeit, das internationale Geschehen über das regionale Umfeld hinaus zu bestimmen, sei es angesichts seines begrenzten diplomatischen und militärischen Einflusses aber noch weit entfernt. Ökonomisch verfüge die zweitgrösste Volkswirtschaft zwar über eine enorme Hebelkraft, die in Schlüsselbereichen wie Auslandinvestitionen oder der Internationalisierung der Unternehmen jedoch noch schwach ausfalle.

Was sich aus der Analyse der chinesischen Aussenbeziehungen ergibt, fasst Shambaugh mit dem Begriff «lonely power» zusammen. Er beschreibt das Profil einer Grossmacht, die dank ihrer omnipräsenten Diplomatie beachtliche Terraingewinne verbuchen kann, aber kaum politische Freunde gewonnen hat. Das periodische Auf und Ab im Verhältnis zu den USA ist von wechselseitig tiefem strategischem Misstrauen geprägt. Auch die von wiederkehrenden Irritationen überschatteten Beziehungen zu Europa bleiben störungsanfällig.

Selbst in Afrika, wo China dank seiner grosszügigen Entwicklungshilfe in Umfragen am besten abschneidet, haben die Begehrlichkeiten nach Rohstoffen unterschwellig eine Abwehrhaltung gegen die neokoloniale Ausbeutung erzeugt. Einer strategischen Partnerschaft am nächsten kommt die chinesisch-russische Tandembeziehung, die bei kritischen Abstimmungen im Uno-Sicherheitsrat wie im Fall Syrien als «Koalition der Unwilligen» auftrete. Aber auch diese Verbindung wecke Zweifel, ob die Gemeinsamkeiten über die geostrategisch opportune Frontstellung gegenüber den USA hinausreichten.

Wenig politisches Engagement

Als dritte Auffälligkeit weist Shambaugh auf die Diskrepanz zwischen dem diplomatischen Aktionismus und der starken Zurückhaltung Chinas bei der Bewältigung globaler Probleme hin. Ein aussenpolitisches Verhaltensmuster, das er als zögerlich, risikoscheu und in sehr engem Sinne vom Eigennutz bestimmt charakterisiert und im innerchinesischen Diskurs gespiegelt findet.

Die grösste Gefahr gehe von einem China aus, das vom Rest der Welt überschätzt wird und sich selbst überschätzt. Die Antwort auf die Frage, was daraus für die westliche Chinapolitik folge, fällt bemerkenswert wortkarg aus. Das mag daran liegen, dass Shambaugh sonst einräumen müsste, dass es China weltweit mit Grossmächten zu tun hat, die allesamt selbst nur noch als «partial powers» in Erscheinung treten.

Donnerstag, 26. Dezember 2013

Serbien vor dem Weltkrieg.

König Petar I.
aus NZZ, 21. 12. 2013 
                                                                                                          
Dunkler Fleck?
Christopher Clarks serbischer Sonderfall

von Andreas Ernst · Was Christopher Clarks «Schlafwandler» aus vielen Neuerscheinungen zum «Grossen Krieg» heraushebt, ist nicht die gleichmässige Verteilung der Kriegsschuld. Diesem Trend folgen viele. Hingegen ist die Rolle, die der Balkan beim Kriegsausbruch erhält, aussergewöhnlich: Der Balkan symbolisiert für einmal nicht nur die «Zündschnur», die durch die Schüsse von Sarajevo das Pulverfass Europa zur Explosion bringt. Clark zeigt vielmehr, wie Russland und Frankreich durch ihre serbische «Balkan-Connection» in den Konflikt zwischen Wien und Belgrad hineingezogen werden. Der Balkan wird vom randständigen Unruheherd zum europäischen Akteur. Serbien, schreibt Clark, erscheine zu Unrecht bis jetzt als «weisser Fleck» im Tableau des Kriegsausbruchs. Diese Sicht teilt er mit dem einschlägigen Standardwerk der serbischen bzw. jugoslawischen Geschichtsschreibung, mit Andrej Mitrovics erstmals 1984 erschienener Studie «Serbien im Ersten Weltkrieg». Doch der Vergleich zeigt auch markante Differenzen.

Im Aufbruch

Was wir bei Clark von Serbien zu sehen bekommen, ist das faszinierende und unheimliche Bild eines Landes, das sich in einem gewaltigen Aufbruch befindet. Es ist ein Staat, dessen Fläche sich in den Balkankriegen 1912/1913 auf Kosten des Osmanischen Reichs fast verdoppelt hat - der aber nicht über die Mittel verfügt, die neuen Gebiete administrativ zu integrieren. Dafür ist der Einfluss des Militärs massiv gewachsen, und Teile des Offizierskorps konkurrieren erfolgreich mit der Regierung von Ministerpräsident Pasic um die Macht. Armee und Geheimdienst unterhalten eine Art «tiefen Staat», in dem nationalistische Geheimorganisationen wie die «Schwarze Hand» über die Drina blicken - ins österreichisch annektierte Bosnien, wo die Serben die grösste Volksgruppe sind. Belgrad mit seinen irredentistischen Ambitionen erscheint als ein «serbisches Piemont».



Auch das ist bei Mitrovic ähnlich. Aber die nationale Bewegung beschränkt sich bei ihm nicht auf Belgrad und nicht auf die Serben. Im Gegenteil. Im österreichisch annektierten Bosnien ist eine Befreiungsbewegung entstanden, das «Junge Bosnien», die sich nicht primär aus der Belgrader Agitation speist, sondern von den bosnischen Zuständen motiviert wird. Es sind Schüler serbischer, aber auch kroatischer und muslimischer Herkunft, die gegen die koloniale Fremdherrschaft rebellieren. Aus ihren Reihen werden sich die Juni-Attentäter rekrutieren. Das Ziel ist für die einen die Vereinigung aller Südslawen, für andere der Zusammenschluss mit Serbien. Bei Clark dagegen kommt die «kriminelle Energie» aus Belgrad. Obwohl es ihm nicht gelingt, die Spur vom Attentat in Sarajevo zur Regierung nach Belgrad aufzuzeigen, ist für ihn Serbien die treibende Kraft bei der Ermordung des Thronfolgerpaars durch Gavrilo Princip.

Im Vergleich zum stets als «ultranationalistisch» bezeichneten «Serbisch-Piemont» erscheint Clarks Österreich-Ungarn fast wie ein idyllischer Vorläufer der EU: zwar mit unübersehbarem Demokratiedefizit, aber seine Völker erfolgreich modernisierend. Das trifft auf manche Gebiete und bestimmte Zeiten wohl zu - aber gewiss nicht auf Bosnien nach der Annexion 1908: Schliesslich hatten die österreichischen «Landeschefs» die osmanische Fronbauernschaft ganz einfach übernommen. Es ist nicht zufällig, dass Mitrovic den Balkan viel stärker als fremdbeherrschten Raum zeichnet, in dem die Interessen der Osmanen, Österreicher und Russen aufeinanderprallen und vom deutschen «Drang nach Osten» überlagert werden. Der schrittweise Rückzug der Türken eröffnet neue Chancen - erstmals nicht nur den Mächten, sondern auch den Balkanvölkern selber: Sie werden zu historischen Subjekten. Dieses antikoloniale Moment entgeht Clark und ebenso die Hoffnung, die sich mit der Befreiungsbewegung der Südslawen verband. Zu Recht dagegen zeigt er die Kehrseite dieser Selbstbefreiung: den serbischen Kolonialismus in den neuen Untertanengebieten Mazedonien und Kosovo.

Ein «Anti-Fischer»

Clarks imposantes Buch ist nicht zuletzt ein «Anti-Fischer». Fritz Fischers These - der deutsche «Griff nach der Weltmacht» als Ursache der Katastrophe - ist für Clark ein Produkt bundesrepublikanischer Vergangenheitsbewältigung der 1960er Jahre. Der Vorwurf der Rückprojektion allerdings fällt auf Clark zurück. Durch Quervergleiche und Anspielungen (auf Srebrenica, Rambouillet, Kosovo) macht er deutlich, dass er Serbien und den Balkan aus der Perspektive der jugoslawischen Zerfallskriege der 1990er Jahre sieht - mit dem (ewigen?) serbischen Ultranationalismus als Hauptschuldigen. Das ist bedauerlich, weil ahistorisch - und seltsam, weil mit Ressentiments verbunden. Auf Proteste aus dem Balkan hat Clark übrigens reagiert. In der deutschen Übersetzung erscheinen Gavrilo Princip und seine Mitstreiter nicht mehr als «Terroristen», sondern als «Attentäter».

Mittwoch, 25. Dezember 2013

Wer war schuld am Ersten Weltkrieg?

aus NZZ, 21. 12. 2013

Hineingeschlittert und nicht herausgekommen
Wichtige neue Bücher zum Ersten Weltkrieg werfen die Frage nach der Kriegsschuld noch einmal auf


von Cord Aschenbrenner 

Im kommenden Jahr wird der Erste Weltkrieg in den Fokus der Erinnerungskultur rücken. Nicht wenige Bücher sind bereits in den vergangenen Wochen und Monaten erschienen. Nachfolgend werden einige, die herausragen, vorgestellt. 

Es ist hundert Jahre her, da brachte im Dezember 1913 die sogenannte Liman-Krise die diplomatischen und politischen Kreise Europas in Wallung. Auf Bitten des Osmanischen Reiches hatte das Deutsche Reich eine Militärmission unter dem Generalleutnant Otto Liman von Sanders nach Konstantinopel geschickt, die die klapprigen osmanischen Streitkräfte reformieren sollte. Liman sollte zudem Kommandogewalt haben und Chef eines osmanischen Armeekorps werden. Das veranlasste die russische Presse zu einem kollektiven Wutschrei: Die Dardanellen und der Bosporus in deutscher Hand! Insbesondere im russischen Aussenministerium sorgte man sich, dass die Deutschen erstens fortan einen für die russische Wirtschaft immens wichtigen Seeweg kontrollieren würden und zweitens dauerhaft am Bosporus Fuss fassen könnten.

Christopher Clark, Herfried Münkler

«Die Liman-Episode löste eine gefährliche Eskalation der Stimmung unter den zentralen russischen Akteuren aus», schreibt der als souveräner Preussen-Kenner bekanntgewordene australische Historiker Christopher Clark in seinem neuen Werk «Die Schlafwandler». Deutschland lenkte schliesslich ein, Liman wurde aus der Schusslinie genommen, noch gab es keinen kontinentalen Krieg. Aber insgesamt hatte die Affäre gezeigt, wie kriegerisch man in Russland mittlerweile gestimmt war.

Die Liman-Krise ist eine von vielen in Christopher Clarks Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs; die finale war die «Julikrise» 1914, die nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares in Sarajevo ihren Lauf nahm. Der in Cambridge lehrende Historiker zeichnet detailliert ein überaus spannendes Panorama der Vorkriegszeit und betrachtet dabei auch die Mentalität, man könnte auch sagen: den Geisteszustand der Handelnden. Überwiegend geht es um einige hundert Menschen, «Falken» und «Tauben», in den Kanzleien, Ministerien, Botschaften und Herrscherhäusern West-, Mittel- und Osteuropas - um diejenigen, die die Geschicke ihrer Länder durchdachten, besprachen und lenkten, die also Geschichte «machten». Clark, ein brillanter Autor, der sich in die grosse Tradition der britischen Geschichtsschreibung mit nüchterner Darstellung und lebendiger Szenerie einreiht, zeigt die Politiker und Diplomaten des Dreibundes und der Entente bei der politischen Arbeit unter zunehmender Anspannung.

Clark nennt sie Schlafwandler: «wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Greuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten». Für ihn ist der Kriegsbeginn «eine Tragödie, kein Verbrechen». Weil man nämlich nicht den einen Schuldigen wie in einem «Agatha-Christie-Thriller (. . .) über einen Leichnam gebeugt auf frischer Tat ertappen» könne. Sein Monumentalgemälde birgt Überraschungen, weil Clark neu erschlossene Quellen zitieren kann, die zeigen, dass Deutschland keineswegs der planvoll agierende Hauptverantwortliche für den Krieg war, wie es der Hamburger Historiker Fritz Fischer und seine Schule in den sechziger Jahren behaupteten. Fischer hatte in seinem Buch «Griff nach der Weltmacht» dem Kaiserreich ein bewusstes Hinsteuern auf den Krieg attestiert. Mindestens so viel Schuld wie bei Deutschland als Kriegstreiber sieht Clark bei Frankreich; Deutschland habe sich nicht ohne Grund von der Triple-Entente aus Grossbritannien, Frankreich und Russland eingekreist gefühlt, deren militärisches Potenzial immer grösser geworden sei. Das heisse nicht, «dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten».

Mit anderen Worten: Christopher Clark erzählt eine andere Geschichte, als sie wenigstens in Deutschland seit der «Fischer-Kontroverse» gängig gewesen ist. Am ehesten steht er aufseiten des ehemaligen britischen Kriegspremiers Lloyd George, von dem das Diktum stammt, keiner habe 1914 den Krieg gewollt, die Regierungen seien in ihn «hineingeschlittert». Eine der Erkenntnisse Clarks ist, dass es in Europa 1914 «keine Begeisterung für den Krieg an sich» gegeben habe, wohl aber einen «defensiven Patriotismus, denn die Zusammenhänge dieses Konflikts waren so komplex und seltsam, dass die Soldaten und Zivilisten in allen kriegführenden Staaten überzeugt sein durften, dass sie einen Verteidigungskrieg führten . . .»

Zeichnet Christopher Clark ein Bild der Aussenpolitik Europas vor 1914, so setzt der deutsche Politikwissenschafter und Ideenhistoriker Herfried Münkler in seinem bald tausendseitigen Opus mit dem Kriegsbeginn erst ein. Er wirft, anders als Clark, nur einen kurzen Blick auf Serbien und die «Krisenregion Balkan» und widmet sich dann der Welt von 1914 bis 1918: dem «Grossen Krieg» mit seinen zehn Millionen Opfern. So hiess der Erste Weltkrieg bisher nur bei Deutschlands westlichen Nachbarn. Es scheint sich die Idee durchzusetzen, dass der Erste nicht nur als Vorläufer des Zweiten Weltkriegs zu verstehen oder vom Zweiten her zu betrachten sei - was eine deutsche Perspektive war, die zudem zu sehr Deutschland als Hauptverantwortlichen sieht, was Münkler, so wie Clark, «keineswegs» tut. Man müsse vielmehr, so der an der Humboldt-Universität lehrende Autor, den ersten Krieg wieder als «für sich allein stehendes, komplexes Ereignis behandeln».

Sein Buch ist die erste deutsche Gesamtdarstellung seit über vierzig Jahren - eine, die nicht nur den Blick auf die Opfer lenkt oder den «Krieg des kleinen Mannes» beschreibt (dessen alleinige Perspektive nach Münklers Urteil zu viele deutschsprachige Historiker eingenommen haben, ohne damit wirklich erklären zu können, warum etwa der Krieg so lange gedauert hat), sondern auch die Perspektiven der Schlachtenlenker und die «komplexen Interaktionszusammenhänge» rekonstruiert.

War der Erste Weltkrieg zwangsläufig? Münkler ist überzeugt, er hätte vermieden werden können, hätte es auf allen Seiten mehr Weitsicht und Urteilsvermögen gegeben. Ähnlich wie Clark sieht er «ein Lehrstück der Politik (. . .), in dem das Zusammenspiel von Angst und Unbedachtheit, Hochmut und grenzenlosem Selbstvertrauen auf einen Weg führte, auf dem schliesslich keine Umkehr mehr möglich schien» - weder in den letzten Julitagen 1914 noch während des Krieges. 

Der Autor zeigt aber, welche Optionen den militärischen und politischen Protagonisten zur Verfügung standen, hätten sie anders gehandelt, als sie es taten - und auch, welche Rolle Zufälle und Unvorhergesehenes spielten.

Bewundernswert an Münklers Buch ist, neben seiner guten Lesbarkeit und dem gewissermassen zivilen Stil, der nicht nachlassende, bis ins Kleinste kenntnisreiche Zugriff des Autors auf sein Sujet: Der Krieg wird an allen seinen Fronten sichtbar, ebenso als politische Herausforderung, als Antrieb gesellschaftlichen Wandels, als Laboratorium kommender Konflikte. Ein umfassendes Standardwerk.

Oliver Janz, Adam Hochschild

Das Zeug zum Standardwerk hat auch das deutlich schmalere Buch von Oliver Janz, Geschichtsprofessor an der Freien Universität Berlin. Janz hat eine schlankere, aber dennoch kraftvolle Darstellung verfasst, in der er die These aufstellt, dass der Krieg, den man als den ersten globalen betrachten müsse, nicht 1918 beendet gewesen sei, sondern erst um 1923, durch seine Folgekonflikte im Osten - zuvörderst den russischen Bürgerkrieg -, in Ostmitteleuropa und Südosteuropa. Zudem habe der Krieg bereits Züge eines «entgrenzten» Konflikts getragen, es sei also die völkerrechtlich bestimmte Grenze zwischen Militär und Zivilbevölkerung immer wieder verwischt worden. Auch dies geschah überwiegend im Osten; dort waren die Opfer des Krieges auch wesentlich höher als an der Westfront - die dennoch das kollektive Bild vom Ersten Weltkrieg wesentlich stärker geprägt hat.

Schliesslich korrigiert Janz auch das Bild der angeblich so kriegsbegeisterten Deutschen: «In keinem Land sind im Juli 1914 mehr Menschen gegen den Krieg auf die Strasse gegangen als in Deutschland.» Die Führung der Sozialdemokraten nutzte die Ablehnung des Krieges vor allem in der Arbeiterschaft jedoch nicht ausreichend, um Druck auf die Reichsregierung auszuüben, sondern stellte sich vielmehr hinter diese.

Eine Geschichte der Kriegsverweigerer hat, wenigstens teilweise, der amerikanische Journalist Adam Hochschild geschrieben. Er beschreibt den Krieg fast überwiegend aus britischer Perspektive - derjenigen der Befürworter des Krieges und der seiner Gegner und Gegnerinnen, von denen es in Grossbritannien mehr als in anderen Ländern gegeben habe. Dem Krieg zu widersprechen, sich gegen seine Familie, seine Freunde, seine gesellschaftliche Klasse zu stellen, erforderte grossen Mut in einer in England genauso wie in Deutschland vor Nationalismus glühenden Gesellschaft.

Hochschild beschreibt fesselnd und anschaulich, dabei geschickt die Quellen nutzend, Angst, Leid und Tod ebenso wie den Wahnsinn und die Verblendung der Befehlshaber während dieser vier Jahre dauernden Katastrophe. Eine Geschichte des Grossen Krieges ist es nicht, wie der deutsche Titel suggeriert; wohl aber eine seiner Schrecken - etwa der Sommeschlacht.

Ernst Piper

Mit der Haltung der Intellektuellen beider Seiten beschäftigt sich die «Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs» von Ernst Piper, unter anderem. Pipers Interesse gilt auch den Werken der Kriegsteilnehmer, so dem des fast vergessenen Expressionisten August Stramm, der 1915 an der Ostfront fiel, oder dem des ebenfalls im Krieg, aber durch Kokain umgekommenen Georg Trakl. Piper geht es vor allem, wie er schreibt, um «die jeweiligen diskursiven Anstrengungen zur Legitimation des kriegerischen Handelns beziehungsweise des Handelns in Kriegszeiten, also der umfangreichen Literatur im Kontext der geistigen Mobilmachung». Ähnlich akademisch ist mancher Satz in diesem Buch geraten, andererseits geht es dann wieder ganz handfest um Propaganda, um die Kriegsziel-Diskussionen, mit anderen Worten: um die Ideen und ihre ganz unterschiedliche Materialisierung. Immer wieder bettet Piper dies gekonnt und kenntnisreich in die Geschichte des Kriegsverlaufs in Ost und West ein, wobei er nicht nur die Mittelmächte, sondern auch ihre Gegner in den Blick nimmt. Und das Land, das intellektuelle Kriegsgegner aller Länder bei sich duldete: die Schweiz.

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Deutsche Verlagsanstalt, München 2013. 895 S., Fr. 55.-.
Herfried Münkler: Der Grosse Krieg. Die Welt 1914-1918.
Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 923 S., Fr. 42.90.

Oliver Janz: 14 - Der Grosse Krieg. Campus, Frankfurt am Main 2013. 415 S., Fr. 26.-.
Adam Hochschild: Der Grosse Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg. Aus dem amerikanischen Englisch von Hainer Kober. Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 525 S., Fr. 39.90.
Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Propyläen-Verlag, München 2013. 586 S., Fr. 38.90.