Sonntag, 8. Dezember 2013

Südafrika nach Mandela.

aus NZZ, 7. 12. 2013

Das schwierige Erbe Nelson Mandelas
Die Kluft zwischen Arm und Reich in Südafrika ist auch 20 Jahre nach dem Ende des Apartheidregimes tief


von Claudia Bröll, Kapstadt 

Südafrika verdankt Nelson Mandela auch den wirtschaftlichen Aufstieg nach dem Ende des Regimes der Rassentrennung. Unter seinen Nachfolgern haben sich aber viele Hoffnungen der schwarzen Bevölkerung auf ein besseres Leben nicht erfüllt. 

«Wir normalen Südafrikaner müssen tagtäglich eine Realität schaffen, in der alle die Hoffnung auf ein glorreiches Leben haben.» Mit Sätzen wie diesen bereitete Nelson Mandela 1994 seine Landsleute auf eine neue Ära vor, als er als erster demokratisch gewählter Staatspräsident Südafrikas sein Amt antrat. Der am Donnerstagabend verstorbene Nationalheld war für Millionen Menschen nicht nur ein Verfechter der Gerechtigkeit gewesen, sondern auch ein Hoffnungsträger für wirtschaftliches Wohlergehen.

Hausgemachte Probleme

Mit der Wahl Mandelas war Südafrika nach langer Isolierung in die Weltwirtschaft zurückgekehrt. Etliche Unternehmen hatten die «Regenbogennation» zu einem ihrer Lieblingsstandorte auserkoren. Eine ausgeklügelte Politik der Förderung von Schwarzen sollte den einst Unterdrückten den Weg zu Geld und Einfluss im Wirtschaftsleben ebnen. Seit diesen Anfängen wurden aber viele Chancen verspielt. Fast 20 Jahre später steckt die grösste afrikanische Volkswirtschaft in Nöten: Das Wachstum stagniert, die Arbeitslosigkeit verharrt bei mehr als 25%, die Landeswährung Rand ist so schwach wie seit Jahren nicht mehr, und der Zorn in der Bevölkerung über eine sich masslos bereichernde politische Elite wächst. Die derzeitige Führung des Landes habe es nicht geschafft, auf dem von Mandela gebauten Fundament aufzubauen und vor allem der jungen Generation die Aussichten auf ein besseres Leben zu eröffnen, bilanziert der Ökonom Iraj Abedian, der einst die Regierung Mandelas in wirtschaftspolitischen Fragen beraten hat.

Nach dem Jahr 1994 erlebte das Land eine 15 Jahre lange Aufschwungsphase, die in Wachstumsraten von bis zu 6% gipfelte. Die aufstrebende Nation profitierte von der Öffnung neuer Exportmärkte und dem Rohstoffhunger in Asien. Zugute kam ihr ein pragmatischer Kurs in der Wirtschaftspolitik, den viele von der Regierungspartei Afrikanischer Nationalkongress (ANC), einem Verbündeten der Sowjetunion in Widerstandszeiten, nicht für möglich gehalten hatten. Mandela sei es um das übergeordnete Ziel gegangen, sagt Abedian: die schwarze Bevölkerung von der Unterdrückung zu befreien und ein friedliches Miteinander von Schwarzen und Weissen zu ermöglichen. Die Wirtschaftspolitik sei dafür lediglich ein Mittel zum Zweck gewesen. So schlug der ANC einen marktwirtschaftlich orientierten Kurs ein, stabilisierte die Staatsfinanzen, umgarnte ausländische Investoren und unterstützte zukunftsträchtige Branchen wie die Autoindustrie mit Subventionen. Seit 2009 jedoch hat sich das Blatt gewendet, nicht nur wegen der globalen Wirtschaftskrise. Auch die hausgemachten Probleme nahmen zu. Ausländische Investoren beklagen schlechtere Standortbedingungen und immer grössere Unsicherheiten, vor allem wenn sie direkt mit der Regierung zu tun haben. Vor kurzem hat eine einseitige Kündigung bilateraler Investitionsschutzabkommen europäische Wirtschaftspartner - darunter auch die Schweiz - verärgert.

Südafrika gehört seit 2010 zwar offiziell dem Brics-Klub der wachstumsstarken Schwellenländer der Welt an. Die Reserve Bank jedoch korrigierte vor kurzem die Wachstumsprognose nach unten auf nur noch 2% in diesem Jahr - keine berauschende Zahl für ein Brics-Mitglied. In der verarbeitenden Industrie sinkt die Produktion. Wegen eines sieben Wochen langen Streiks rollten in den Autofabriken im September 70% weniger Fahrzeuge von den Bändern als im Jahr zuvor. Dem Bergbau, einer Schlüsselbranche, machen ebenfalls Arbeitskämpfe zu schaffen - zusätzlich zu sinkenden Rohstoffpreisen und immer höheren Förderkosten. Auch das Vertrauen der Konsumenten ist so niedrig wie seit neun Jahren nicht mehr. Zusätzlich halten sich die Banken mit der Vergabe ungesicherter Kredite zurück, die früher die Kauffreude angestachelt haben.

Eine baldige Wende zeichnet sich nicht ab. Die Möglichkeiten, kurzfristig über die Geldpolitik oder die Fiskalpolitik gegenzusteuern, sind begrenzt. Die Zentralbank liess die Leitzinsen in ihrer jüngsten Sitzung bei 5% und damit auf dem niedrigsten Niveau seit 35 Jahren. Weitere Senkungen würden die Inflation antreiben und die Landeswährung Rand schwächen, argumentierte Notenbankpräsidentin Gill Marcus. Auch Finanzminister Pravin Gordhan hat kaum Spielraum. Rating-Agenturen beäugen das wachsende Defizit im Staatshaushalt mit Sorge. In Südafrika ist die Zahl der Empfänger staatlicher Hilfen dreimal so hoch wie die Zahl der Steuerzahler.

Staatspräsident Jacob Zuma brüstet sich dennoch mit dem bisher Erreichten. Die Wirtschaft sei seit 1994 um 83% gewachsen, 3,5 Mio. Menschen seien in Beschäftigung gekommen, und soziale Hilfen erreichten 16 Mio. statt zuvor nur 2,5 Mio. Südafrika sei ein viel besserer Ort als vor 1994, vor allem in den vergangenen fünf Jahren habe sich die Lage verbessert.

Die Regierung hat tatsächlich hohe Summen in neue Sozialbauten im ganzen Land gesteckt. Viele Bürger haben nun Anschluss an das Stromnetz und fliessendes Wasser. Trotzdem leben Millionen immer noch in Wellblechhütten, mehr als 2 Mio. Haushalte verfügen über keine eigene Toilette. Das staatliche Bildungswesen ist in einer so maroden Verfassung, dass trotz Fachkräftemangel mehr als jeder zweite junge Südafrikaner keine Arbeit findet. In einer Studie des Weltwirtschaftsforums über die Qualität der Ausbildung landete Südafrika nur auf Rang 140 - vor Haiti, Libyen, Burundi und Jemen. Anders als es sich die Menschen von Mandela erhofft hatten, profitierten vom «neuen Südafrika» vor allem grosse Teile der ohnehin schon wohlhabenden weissen Bevölkerung und eine neue schwarze Elite. Zwischen Arm und Reich klafft damit eine tiefere Kluft als während der Zeit der Rassentrennung.

Streiks und Proteste

Kaum ein Tag vergeht, an dem die Menschen in den Armenvierteln nicht aus Protest gegen schlechte staatliche Leistungen auf die Strasse gehen. Im vergangenen Jahr eskalierte ein Streik auf dem Gelände einer Platinmine so sehr, dass Minenarbeiter von schwarzen Polizisten erschossen wurden. Arbeitskämpfe haben Südafrika im vergangenen Jahr 0,5 Prozentpunkte des Wirtschaftswachstums gekostet und eine Herabstufung der Bonitätsnote von allen Rating-Agenturen eingebracht. Im Andenken an Mandela zeigt das südafrikanische Fernsehen Filmaufnahmen von den Aufständen gegen das Apartheidregime in den 1980er Jahren. Was sich heute auf den Strassen und auf dem Gelände der Minen abspielt, sieht jedoch oft bedrückend ähnlich aus. In die Trauer um Mandela mischt sich daher auch die Sehnsucht nach einer Führungspersönlichkeit seines Formats. Die sonst zurückhaltende Zentralbankchefin fand unlängst klare Worte: «Wir stecken in einer Krise, die koordinierte und weitreichende politische Reaktionen erfordert.»

Nelson Mandela prophezeite im Jahr 1991 am World Economic Forum in Davos: «Die Menschen werden sich nicht mit höflichen, aber inhaltsleeren Antworten zufriedengeben. Sie werden sich nicht mit dem Versprechen zufriedengeben, dass sich morgen etwas ändert, wenn heute nicht erkennbar ist, wie es dazu kommen soll.» Knapp zwanzig Jahre später würden sich viele in Südafrika wünschen, ihr Nationalheld könnte mit solchen Sätzen noch einmal zu Wort kommen.

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