Donnerstag, 29. Dezember 2016

Gibt es doch Fortschritt in der Ukraine?


Maidan, Kiew
aus nzz.ch, 29.12.2016, 05:30 Uhr

Tiefgreifende Reformerfolge in der Ukraine
Angriff der Zivilgesellschaft
Anders, als die westlichen Medien es meist darstellen, stagnieren die Verhältnisse in der Ukraine keineswegs. Die politischen Reformen beginnen langsam, aber ernsthaft zu greifen. 

Gastkommentar von Andreas Umland 

Im Gegensatz zum Bild, welches westliche Medienberichterstattung zur Ukraine meist vermittelt, ist in dem postsowjetischen Land ein ernsthafter Reformprozess im Gang. Zwar sind die ukrainische Politik und Gesellschaft heute nicht weniger, sondern womöglich noch mehr von Skandalen und Anschuldigungen geprägt als zuvor. Möglicherweise entsteht bei einigen Beobachtern gar der Eindruck, dass die Lage derzeit schlimmer als früher ist. Tatsächlich zeugen jedoch die sich verschärfenden politischen Schlachten in Kiew von der zunehmenden Tiefe, Nachhaltigkeit und Unumkehrbarkeit der Veränderungen.

In den vergangenen zweieinhalb Jahren ging es um die Annahme einer Vielzahl neuer Gesetze sowie die Schaffung einer Reihe neuer Institutionen – etwa zur Korruptionsbekämpfung. Nun beginnt allmählich die zwar häufig stockende, aber doch fortschreitende Umsetzung neuer Wirtschafts-, Verhaltens- und Verwaltungsregeln im täglichen Leben. Dies hat für einige Bevölkerungsteile – nicht zuletzt für einen Grossteil der alten Wirtschafts- und Politikerelite – unangenehme, ja manchmal schmerzliche Folgen. Lang gewohnte Subventionen, liebgewonnene Privilegien, alteingesessene Pfründen, eingespielte Mechanismen und weit gesponnene Netzwerke fallen weg oder verlieren an Bedeutung.


Letzte Abwehr der Oligarchen

So geht es in den ukrainischen Medien, Ministerien und Parlamenten heute heiss her. Allwöchentlich gibt es neue Korruptionsvorwürfe gegen diese oder jene Amtsperson – bis hin zum Präsidenten des Landes. Oft sind die Anschuldigungen gerechtfertigt, aber manchmal wird auch gezielt gelogen und diffamiert. Die berüchtigten Oligarchen sind noch immer nicht aus den staatlichen Entscheidungsprozessen verdrängt. Sie spüren, dass sich ihre Zeit dem Ende nähert, wehren sich umso aggressiver gegen den Reformprozess und versuchen noch ein paar Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Der Grund dafür, dass sich die Ukraine derzeit trotzdem ändert, hat wenig mit einem Sinneswandel unter ukrainischen Politikern zu tun. Vielmehr gibt es ein neues Umfeld, in welchem sich die gekauften politischen Parteien, korrumpierten Beamtenapparate und informellen Wirtschaftsnetzwerke heute bewegen.

Zum einen ist die ukrainische Zivilgesellschaft zu einem gewichtigen Faktor im nationalen Gesetzgebungsverfahren und staatlichen Entscheidungsfindungsprozess geworden. Die Aktivisten und Bürgerorganisationen der «Orangen Revolution» vom November/Dezember 2004 zogen sich damals im Anschluss an ihren zunächst erfolgreichen Wahlaufstand wieder aus der Politik zurück. Sich selbst überlassen, versank die alte politische Klasse in zermürbenden Flügelkämpfen und Korruptionsskandalen. Deren Folgen spülten schliesslich 2010 einen der übelsten Vertreter der postsowjetischen Politikerklasse, Wiktor Janukowitsch, an die Macht.

Heute sind dagegen viele der Initiatoren und Organisatoren der «Revolution der Würde» von 2013/2014 in dieser oder jener Form im politischen Prozess verblieben. Hunderte einstige, meist junge Bürgerrechtler üben derzeit als Parlamentarier, Lobbyisten, Publizisten, Analysten, Anwälte und Beamte in Kiew und den Regionen Druck auf die immer noch dominante, alte politische Klasse aus.

Zum anderen hat sich die Bedeutsamkeit internationaler – meist westlicher oder westlich geprägter – Organisationen und auch der westlichen Botschaften im politischen und wirtschaftlichen Leben der Ukraine seit 2014 deutlich erhöht. Der IMF und die EU stellen heute – gemeinsam mit Dutzenden weiteren Geberorganisationen – der Ukraine eine Art neuen Marshall-Plan zur Verfügung. Mit dem frischen Geld aus Brüssel, Washington und Berlin gehen auch härtere Forderungen nach mehr Transparenz, substanzieller Transformation und vorzeigbaren Resultaten einher.

Häufig arbeiten die westlichen Diplomaten und Geber in Kiew bei der Formulierung der Konditionen und Modi ihrer finanziellen Förderung mit ukrainischen Aktivisten, Forschern und Journalisten zusammen. Die alte politische Klasse ist daher heute in einer Art Sandwichsituation gefangen: Von der einen Seite fordert die Zivilgesellschaft schnellere Reformen. Von der anderen Seite verleihen die internationalen Geber diesen Forderungen mit Zuckerbrot und Peitsche Gewicht.

Der ukrainische Transformationsprozess dürfte auch in Zukunft von Rückschlägen, Stagnationsphasen und Zickzackbewegungen geprägt bleiben. Jedoch wird die laufende Mammutreform letztlich zum Erfolg führen. In zirka zehn Jahren wird die Ukraine ein anderes Land mit weniger Korruption, einem erfolgreicheren Wirtschaftsmodell und besserem Verwaltungsapparat sein. Ein Grossteil des weitreichenden ukrainischen Assoziierungsabkommens mit der EU sowie des derzeit anlaufenden tiefgehenden Dezentralisierungsprogramms wird umgesetzt sein. Damit wird die Ukraine auch als Neumitglied für die EU interessant werden und früher oder später Beitrittsverhandlungen aufnehmen.

Unwille in Moskau und Minsk

Grösster Risikofaktor einer solchen Prognose sind nicht die innerukrainischen Reformgegner. Vielmehr drohen künftige ukrainische Reformerfolge und eine EU-Mitgliedschaftsperspektive auf Unwillen in Moskau und Minsk zu stossen. So lange, wie Russland und Belarus nicht selbst ernsthafte Reformen und ihre eigene Assoziation mit der EU angehen, werden neue Eskalationen insbesondere in der Ost- und der Südukraine wie ein Damoklesschwert über Kiew hängen.

Seinen Low-Intensity-Hybridkrieg gegen die Ukraine wird Moskau womöglich ohnehin noch für Jahre fortführen. Solange das fundamentale Sicherheitsproblem der Ukraine ungelöst ist, besteht das Risiko, dass die erheblichen ukrainischen Reformanstrengungen und gutgemeinten westlichen Hilfsmilliarden letzten Endes sinnlose Liebesmüh bleiben.

Andreas Umland ist Senior Research Fellow am Institut für Euro-Atlantische Kooperation in Kiew.


Nota. - Das klingt so triumphal, als hätte er dafür Geld bekommen; ich meine, mehr als das übliche Autoren- honorar. Aber weil es im Kontrast steht zu dem, was man sonst liest, bringe ich es doch. Womöglich ist ja was dran.
JE

Mittwoch, 28. Dezember 2016

Ein neues Jalta?

aus nzz.ch, 28.12.2016, 07:00 Uhr

Trump, Putin und Europa
Ein neues Jalta?
Trumps vermutete Nähe zu Russland hat Befürchtungen geweckt, der nächste US-Präsident könnte einen Deal mit dem russischen Präsidenten abschliessen: einen Deal auf Kosten Europas.

Kolumne von Ulrich Speck 

Der nächste amerikanische Präsident, Donald Trump, sieht sich selbst als Meister des Deals, er hat ein ganzes Buch darüber geschrieben: «Die Kunst des Deals». Es ist zu erwarten, dass er das, was in seinem Leben als Businessmann funktioniert hat, auch auf seine Amtsführung als Präsident übertragen wird: Politik als eine Serie von Deals. An seinem designierten Aussenminister, dem Chef des Ölkonzerns ExxonMobil, Rex Tillerson, hat Trump vor allem die Qualitäten als «dealmaker» gerühmt. Einer seiner grossen Vorzüge sei, dass er enorme Deals in Russland abgeschlossen habe. Trump selbst hat immer wieder gesagt, er wolle mit Russland in ein kooperatives Verhältnis treten; Teile des Clinton-Lagers sehen den Sieg von Trump auch als eine Folge russischer Interventionen in den amerikanischen Wahlkampf, insbesondere durch der Internetplattform Wikileaks zugespielte, gehackte Informationen.

Trumps vermutete Nähe zu Russland hat Befürchtungen geweckt, der nächste amerikanische Präsident könnte, über die Köpfe der Europäer hinweg, einen Deal mit dem russischen Präsidenten abschliessen: ein neues Jalta, eine neue Aufteilung Europas in Interessensphären. Bekanntlich besteht eines der Ziele des russischen Präsidenten darin, Russland wieder zu einer Weltmacht zu machen. Und wie zu Zeiten der Sowjetunion gehört zu diesem Status, nach Verständnis des Kremls, eine Sphäre des «privilegierten Einflusses».

Donald Trump, der massive Spannungen mit Russland über die Ukraine und Syrien erbt, könnte glauben, als professioneller Dealmaker könne er den Knoten durchschlagen und mit Putin eine Abmachung finden, bei der beide Seiten etwas bekommen würden. Überraschend wäre das nicht: Es gehört mittlerweile zum Ritual, dass neue amerikanische Präsidenten glauben, sie könnten durch den Aufbau einer persönlichen Beziehung mit Putin eine Atmosphäre der Kooperation schaffen. Doch Obama ist damit ebenso gescheitert wie George W. Bush: Es hat sich bisher noch jedes Mal herausgestellt, dass des Kremls Grossmachtambitionen im Konflikt stehen mit der liberalen internationalen Ordnung, für deren Erhalt die USA noch immer die Positionen eines Garanten einnehmen.

Diesmal könnte es anders sein. Trump hat offenbar kein Interesse an dieser Ordnung: Sein Amerika, soweit wir es aus seinen Äusserungen und Personalentscheidungen herauslesen können, ist nicht mehr Weltordnungsmacht, nicht mehr Garant der liberalen internationalen Ordnung, sondern auf seinen eigenen, sehr eng und kurzfristig definierten nationalen Vorteil bedacht. Zudem will Trump den Kampf gegen den radikalen Islam im Nahen Osten zur Priorität machen und könnte dabei auf ein enges Waffenbündnis mit Russland setzen, in Syrien und darüber hinaus.
Und Trumps Hauptgegner ist offenkundig nicht Russland, sondern China. So freundlich sich Trump gegenüber Russland gibt, so konfrontativ äussert er sich zu China. Womöglich steckt dahinter nicht nur Ressentiment, sondern Strategie: Es könnte sein, dass Trump Russland mit Amerika verbünden will, um China zu isolieren und zu schwächen. Im Gegenzug für Unterstützung für Amerika aber würde der Kreml freie Hand in Osteuropa fordern, womöglich auch darüber hinaus. Europa muss sich warm anziehen und lernen, für die eigenen Interessen selbst einzustehen, wenn es nicht zum Spielball werden will.


Nota. - Wer's während der Flüchtlingdkrise nicht begriffen hat, wird es nach der Wahl Donals Trumps begreifen müssen: Weil Europa Deutschland als Führungsmacht braucht, braucht Deutschland selbst ein Führung; keine spektakuläre, aber eine verlässliche: die, die es hat,
JE  

PS. Falls Sie sie nicht erkannt haben sollten: Die dritte in dem Bund auf dem oberen Foto ist Marine Le Pen.






Bürokratische Feudalität.

rauchquarz
aus nzz.ch, 28.12.2016, 07:00 Uhr

Informelle Netzwerke in Russland
Wo die Sowjetunion überlebt hat
Die Sowjetunion verdankte ihre lange Existenz nicht der Planwirtschaft. Entscheidend waren die Tricks, die Planwirtschaft zu umgehen. Solche Seilschaften wird ein Land aber nur schwer wieder los.

Kolumne von Benjamin Triebe, Moskau

Es gibt etwas, was Witzbolde die Paradoxien des Sowjetstaates nennen: 1. Keiner arbeitet, aber der Plan wird erfüllt. 2. Der Plan wird erfüllt, aber die Regale in den Geschäften sind leer. 3. Die Geschäfte sind leer, aber die Kühlschränke sind voll. 4. Die Kühlschränke sind voll, aber jeder ist unglücklich. 5. Jeder ist unglücklich, aber bei Wahlen stimmt jeder für den offiziellen Kandidaten. 6. Jeder stimmt für den offiziellen Kandidaten, aber der Staat ist zusammengebrochen. 

In diesen Tagen, wo an den Zerfall der Sowjetunion vor 25 Jahren erinnert wird, ist angesichts dieser systemimmanenten Widersprüche ein Detail bemerkenswert: Dass die Sowjetunion überhaupt fast 70 Jahre bestehen konnte. Möglich war das, weil sich die entscheidenden Dinge nicht im planwirtschaftlich formellen, sondern im informellen Sektor abspielten. Beziehungen, Freundschaftsdienste und Korruption erwiesen sich als die beste Methode zur Verteilung der Ressourcen.

Es gibt auch den Witz über den sowjetischen Präsidenten, der eine scheinbar mustergültige Kolchose besichtigt und fragt: «Wer ist hier der Chef?» Antwort: «Immer der, der gerade nicht im Gefängnis ist.» Schliesslich war es ohne Gesetzesverstoss oft nicht möglich, einen Betrieb zu führen. Auch im Russland nach der Wende gab es das Phänomen. Wenn der Brandschutz vorschreibt, dass ein Ladengeschäft im Erdgeschoss keine Gitter vor den Fenstern haben darf, aber wenn der Diebstahlschutz Gitter verlangt – dann muss der Besitzer zum Schmiergeld für den Inspekteur greifen und steht immer mit einem Bein im Gefängnis.

Informelle Netzwerke werden dann wichtig, wenn keine sicheren Rechtsinstitutionen bestehen. Haben diese Seilschaften einmal eine kritische Größe erlangt, ist es aber leider sehr schwierig, sie allein durch die Einführung von Regeln wieder auszumerzen. Auf dieses Problem machte jüngst die Politikwissenschafterin Aljona Ledenjowa bei einem Vortrag aufmerksam. So existiert in Russland inzwischen zwar technisch gesehen ein guter Eigentumsschutz, aber trotzdem hielten es viele Magnaten im Jahr 2014 nach Ausbruch der Ukraine-Krise für angebracht, dem Kreml zu versichern, er könne beliebig über ihre Unternehmen verfügen.

Was Minderheitsaktionären den Schweiss auf die Stirn trieb, war für die Milliardäre der beste Weg, Loyalität zu zeigen. Sie schützten ihre Firmen damit letztlich besser, als es alleiniges Vertrauen auf das Recht getan hätte. Solchen informellen Zusammenhängen in einer Wirtschaftsstruktur ist mit dem technokratischen Erlassen von Gesetzen nach westlichem Vorbild, wie es internationale Organisationen oft verlangen, schwer beizukommen.



Montag, 26. Dezember 2016

Erst die Fremde schafft Identität.

Hagen und Gunther in der Fremde
institution logo
„Der deutsche Ursprung liegt im Fremden“ - Interview mit dem Historiker Johannes Fried 

Ulrike Jaspers
Public Relations und Kommunikation
Goethe-Universität Frankfurt am Main  

FRANKFURT. Die Deutschen traten „sich selbst immer ein wenig fremd gegenüber“, schreibt der Mittelalter-Historiker Johannes Fried in seinem Buch „Die Anfänge der Deutschen“. Das viel beachtete Werk, das nach 20 Jahren in einer Neuausgabe vorliegt, lässt sich mittlerweile auch als Kommentar zur Diskussion um die angebliche Bedrohung „eigener“ Werte lesen.


„Ich muss entschieden bestreiten, dass es diese überhaupt gibt!“, widerspricht Fried in der jüngsten Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ (2/2016). Es gebe viele Werte, die auch bei den Deutschen zu Hause seien. „Aber es gibt keine deutschen Werte.“ Als durchaus „wissbegierige Barbaren“, so der emeritierte Professor der Goethe-Universität in dem Interview mit dem Journalisten Bernd Frye, seien die Deutschen erst spät in ihr nationales Dasein „geschlittert“.

Das Wissenschaftsmagazin der Frankfurter Universität widmet sich aktuell dem Thema „Fremd und Eigen“ – aus naturwissenschaftlicher, medizinischer, soziologischer und auch historischer Perspektive. Wenn die heutigen Deutschen die Wurzeln ihrer nationalen Eigen- und auch Einheit bei den „alten Germanen“ suchen, seien sie jedoch, so Fried, auf der falschen Fährte. Ebenso falsch sei es, im Jahr 9 nach Christus die „Geburt der Deutschen“ zu sehen, wie Medien hierzulande anlässlich des 2000. Jahrestages der sogenannten Varusschlacht titelten. Im Germanien der Römerzeit gab es viele verschiedene Völkerschaften mit jeweils eigenem Identitätsbewusstsein und Selbstverständnis. „Sie sprachen zwar verwandte Sprachen, aber sind deswegen noch lange kein gemeinsames Volk gewesen.“ 

Ein weiteres „Jubiläum“ dieser Art hätte man ganz aktuell feiern können. Vor 2000 Jahren, im Jahr 16, verzichteten die Römer nach erneuten schweren Rückschlägen für immer auf die Eroberung Germaniens. Ist da etwa ein Jubiläum verschwitzt worden? „Nein, wir haben kein Jubiläum verschwitzt, sondern allenfalls ein trauriges Ereignis zu beklagen“, so Fried. Die Römer hätten die Region zwischen Rhein und Elbe seitdem „nicht mehr für ihre eigene Zivilisation fruchtbar werden lassen. Das ist für die künftige deutsche Geschichte von großer Bedeutung.“ Der kulturelle Einschnitt bezog nicht zuletzt auf die Sprache: „Die Hochzivilisation bedurfte des Lateins als der lingua franca dieser Welt.“

Die Sprache ist ein Dreh- und Angelpunkt der deutschen Ethnogenese – und das gilt auch für den Namen des werdenden Volkes. „Deutsch“ bedeutet in der althochdeutschen Version „theodisk“ zunächst soviel wie „zum Volk gehörig“ oder auch „in der Sprache des Volkes“. Schritt für Schritt zum Eigennamen für ein ganzes Volk wurde „deutsch“ und „die Deutschen“ seit den Italienfeldzügen, beginnend mit Otto dem Großen im 10. Jahrhundert. Um den fremden Völkerschaften, die über die Alpen nach Rom zogen, einen gemeinsamen Namen zu geben, griffen die Italiener das Wort „theodisk“ auf – und sind, von geringen sprachlichen Verschleifungen abgesehen, auch eintausend Jahre später dabei geblieben, „i tedeschi“. 

Fried betont, dass sich die deutschen Völker erst als Heer in Italien als Deutsche begriffen hätten. Doch das war ein zeitlich und örtlich begrenztes Phänomen: „Sie verstehen sich nur in Italien als einheitliche Gruppe und bringen von dort diesen Einheitsnamen mit. Aber sobald sie zu Hause sind, bleiben sie die Bayern und die Franken und die Sachsen. Sie haben ihre eigene Heimat, ihre eigene politische Elite und vor allen Dingen ihr eigenes Recht.“ Die Eigenheiten der einzelnen Völker äußerten sich auch in ihren jeweils eigenen Sagen und Mythen, in denen sie sich übrigens alle als Einwanderer aus der Fremde sahen: „Die Franken hielten sich für Enkel der Trojaner, und die Schwaben kamen einst in großer Zahl übers Meer gefahren. Bei den Bayern gibt es verschiedene Abstammungssagen; sie kamen aus dem heutigen Armenien oder aus Sibirien.“ 

Ein gemeinsames Abstammungsnarrativ bietet dann die im 15. Jahrhundert wiederentdeckte Schrift „Germania“ des römischen Historikers Tacitus, die wahrscheinlich aus dem ersten Jahrhundert stammt. Eine Hauptthese besagt, dass die Germanen eine Art Urvolk sind und einen gemeinsamen Stammvater haben. „Jetzt gilt als gewiss: Germanisch ist deutsch, allenfalls eine ältere Variante desselben. Und das bedeutet dann natürlich einen Schub für Nationalisierungs-Phänomene“. Diese sollten, so Fried, noch lange Zeit anhalten. 

Sein Buch „Die Anfänge der Deutschen“ erschien im September 2015 in einer überarbeiten Neuausgabe. Welche Pointierungen würde er vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsdebatte vornehmen? Fried betont, „dass die Deutschen nie ein einheitliches Volk waren, es erst im 19. Jahrhundert – wenn überhaupt – geworden sind.“ Und er fügt hinzu, „dass eigentlich alle Völker Einwanderer sind“. Dabei verweist Fried auf die Ergebnisse der Archäo- und Paläogenetik, bäuerliche Siedler seien vor einigen Tausend Jahren aus dem Orient ins heutige Deutschland gekommen: „Wir sind also alle Einwanderer – wenn Sie es so wollen – aus der Türkei, aus dem Irak, aus Syrien. Das würde ich vielleicht heute prononcierter im Schlusskapitel des Buches ansprechen.“


Informationen: Prof. em. Dr. Dr. h.c. Johannes Fried, Historisches Seminar, Campus Westend, Tel. (069)798-32426, fried@em.uni-frankfurt.de

Die aktuelle Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ (2/2016) kann kostenlos bestellt werden: ott@pvw.uni-frankfurt.de. Im Internet steht sie unter: www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.d
e. 




Sonntag, 25. Dezember 2016

Die Germanen hat Tacitus erfunden.


institution logoWie der römische Historiker Tacitus die Germanen schuf

Ulrike Jaspers 
Public Relations und Kommunikation
Goethe-Universität Frankfurt am Main

19.12.2016 18:28 

FRANKFURT. Auf nur 25 Seiten schuf Tacitus gegen Ende des 1. Jahrhunderts „Germania“ und damit auch das Volk der Germanen, das so gar nicht existierte. In der Antike lebten auf diesem Territorium völlig unabhängig voneinander vielerlei Stämme. Warum zeichnete Tacitus das positive Bild eines unverdorbenen, kampfeslustigen Naturvolks? Wollte er damit den dekadenten Römern einen Spiegel vorhalten? Wollte er vor dem starken Gegner im fremden Norden warnen, gegen den die Römer nicht wieder zu Felde ziehen sollten? Mit diesem Thema beschäftigt sich der Frankfurter Altphilologe Prof. Dr. Thomas Paulsen in seinem Beitrag in der der aktuellen Ausgabe von „Forschung Frankfurt“.

Tacitus‘ „Germania“ ist in zwei Hauptteile gegliedert, innerhalb deren es keine systematischen Gliederungselemente gibt: Im ersten handelt Tacitus Sitten, Gebräuche und Charakterzüge der Germanen ab, im zweiten geht er im Westen beginnend die wichtigen germanischen Stämme mit ihren besonderen Eigenarten durch. Dazu Paulsen: „Es wird jedoch schnell deutlich, dass der römische Historiker die Germanen als im Wesentlichen einheitliches Volk sah, das sie, was man nicht stark genug betonen kann, in der Antike nie waren und als welche sie sich selbst auch nie bezeichneten.“ Denn die verschiedenen Stämme wie Bataver, Cherusker, Chatten, Markomannen, Sueben lebten unabhängig voneinander, schlossen zum Teil kurzlebige Bündnisse, bekriegten einander, waren nicht alle romfeindlich gesonnen und verfügten über keinerlei einheitliche Organisation.

Tacitus betrachtet Germanien als ein unwirtliches, raues und trostloses Land, „teils Schauder erregend durch seine Wälder, teils widerlich durch seine Sümpfe, und dazu feucht und windig“. Da die Germanen wenig Kontakt zu anderen Völker gehabt hätten, seien sie sich, so Tacitus, äußerlich sehr ähnlich: Sie hätten grimmig blickende blaue Augen, rötliche Haare und große Körper, die hervorragend geeignet für Sturmangriffe, aber wenig ausdauernd seien, empfindlich gegenüber Durst und Hitze, hingegen stark im Ertragen von Hunger und Kälte.

Tacitus zollte den Germanen großen Respekt – für ihre Kampfesstärke, aber auch für ihre Lebensführung frei von Verlockungen des Luxus. „Sicher wollte er damit auch auf die römische Dekadenz anspielen“, so Paulsen. Tacitus, der zum erweiterten Beraterkreis des Kaisers gehörte, könnte auch im Sinn gehabt haben, die römischen Eliten vor neuerlichen Auseinandersetzungen mit germanischen Stämmen zu warnen.

Informationen: Prof. Dr. Thomas Paulsen, Institut für Klassische Philologie, Campus Westend, Tel. (069) 798-32482, E-Mail: thomas.paulsen@em.uni-frankfurt.de 

Die aktuelle Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ (2/2016) kann kostenlos bestellt werden: ott@pvw.uni-frankfurt.de. Im Internet steht sie unter: www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de.
Weitere Informationen: http://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Auf dem Rückzug - Obama hat Donald Trump den Weg gewiesen.

aus nzz.ch, 22.12.2016, 05:30 Uhr

Weltpolitik unter Obama
Die frühpensionierte Supermacht
Amerika zieht sich aus seiner Rolle als weltpolitischer Ordnungshüter zurück. Wohin dies führt, haben Konflikte von Syrien über die Krim bis Ostasien in den letzten Jahren auf drastische Art gezeigt.

Kommentar von Andreas Rüesch

Donald Trump und Barack Obama mögen aus zwei völlig gegensätzlichen Welten stammen, aber eines haben sie gemeinsam: Beide verdanken ihre Wahl an die Spitze Amerikas der Fähigkeit, sich dem Volk als Projektionsfläche für alle möglichen unerfüllten Wünsche zu präsentieren. Der Demokrat Obama verkörperte 2008 die Hoffnung auf einen Neuanfang, nachdem sich in der Ära Bush als Folge jahrelanger Kriege ein Gefühl der Erschöpfung ausgebreitet hatte und das Land in die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten gestürzt war. Obwohl Obama die in ihn gesteckten Erwartungen unmöglich alle erfüllen konnte, stachelte er sie mit seiner messianischen Rhetorik noch an: Sein Sieg möge künftigen Generationen als jener Moment in Erinnerung bleiben, als «der Anstieg der Meere sich zu verlangsamen begann», ein Krieg endete und Amerika «sein Image als die letzte Hoffnung auf Erden» zurückgewann, predigte er vor acht Jahren.



«Smart» gescheitert 

Gemessen an diesen bombastischen Worten, ist Obama gescheitert – das Problem des Klimawandels ist bei weitem nicht gelöst, im Irak fliesst heute mehr Blut als damals, und das Ansehen der USA bleibt in weiten Teilen der Welt angekratzt. Doch wäre es allzu beckmesserisch, die hochtrabenden Ankündigungen des damaligen Jungstars zum Massstab für Erfolg oder Misserfolg zu nehmen. Fairer ist die Frage danach, welchen Spielraum der amerikanische Präsident in der Aussenpolitik besass und wie er ihn zu nutzen wusste.


Obama trat sein Amt mit der Überzeugung an, dass die USA ihre Kräfte überdehnt hatten und nicht auf der ganzen Welt Polizist spielen konnten. Den Widerspruch zur ungebrochenen Ambition auf eine globale Führungsrolle suchte er mit dem Motto «Führen von hinten» zu überbrücken: Fortan sollten regionale und lokale Partner die Hauptlast bei der Krisenbewältigung tragen und die USA nur eine organisatorische Rolle im Hintergrund spielen. Obama hoffte, auf diese Weise dem Morast der Aussenpolitik zu entgehen und sich auf seine Prioritäten daheim, vor allem in der Sozialpolitik, konzentrieren zu können.

Doch was die Administration als «smarte» Politik anpries, war in Wirklichkeit ein Teilrückzug aus der globalen Verantwortung, mit verheerenden Folgen. Schon die Libyen-Intervention von 2011 entlarvte die Schwächen des «leading from behind»: Der Sturz Ghadhafis gelang zwar, doch für die Stabilisierung des Bürgerkriegslandes fühlte sich danach niemand verantwortlich. Nicht eine Überforderung der USA und ihrer Verbündeten war der Grund, sondern reines Desinteresse.

Obamas Kurs lässt sich jedoch nicht beurteilen, ohne ihn vor dem Hintergrund der grössten menschlichen Katastrophe der Gegenwart zu sehen: des Krieges in Syrien. Der Präsident hat einmal bekannt, dass ihn dieses Problem wie kein anderes umtreibe und er sich oft gefragt habe, was er hätte besser machen können. Um eine Antwort war er nie verlegen: Nichts. Seine Syrien-Politik stellte Obama stets als alternativlos dar; Kritiker verunglimpfte er als Besserwisser und gefährliche Ignoranten. Seine Rechthaberei läuft auf den Standpunkt hinaus, dass es für den Westen ein Gebot der Vernunft war, den Tod von über 400 000 Menschen und die Vertreibung von Millionen hinzunehmen. Nach dem Völkermord von Rwanda vor zwei Jahrzehnten – so weit muss man für ein vergleichbares Versagen der sogenannten Weltgemeinschaft zurückschauen – hatte man aus Washington immerhin ein reuiges «Nie wieder!» gehört. Diesmal könnte man die Reaktion mit einem «Tja, so ist halt die Welt» zusammenfassen.

Anfang Jahr stellte Obama in seiner letzten Rede zur Lage der Nation seine Syrien-Politik als Beispiel einer klugen Strategie dar, die auf Geduld, lokale Partner und internationale Friedensdiplomatie setze. Wie viel diese Strategie wert ist, lässt sich derzeit in Aleppo beobachten, wo Truppen des Asad-Regimes, iranische Milizen und Russlands Luftwaffe die letzte grosse Hochburg von mit Amerika verbündeten Widerstandskämpfern zerstört haben und unsägliches Leid über die Bevölkerung brachten. Während Washington wohlfeile Worte im Arsenal hat, operiert Moskau mit Bomben.

Obama wischte die Forderung nach einem energischeren Einschreiten im Syrien-Konflikt, nach mehr als nur einzelnen Nadelstichen gegen die Terrormiliz IS, mit dem Argument zur Seite, dass man damit die Fehler des Irakkriegs unter Bush wiederholen würde. Gewiss konnte es für die USA nach den damaligen Erfahrungen nicht zur Debatte stehen, Syrien zu besetzen. Aber es gab militärische Optionen weit unterhalb der Schwelle einer Invasion, die das Blutvergiessen zumindest eingedämmt hätten. So hätte Washington in den ersten Kriegsjahren ohne grosses Risiko für die eigenen Truppen die berüchtigte syrische Luftwaffe ausschalten oder die Einrichtung humanitärer Korridore erzwingen können. Auch grösserer Druck auf Russland, mit dem Ziel, die Aufrüstung des Asad-Regimes zu stoppen, wäre möglich gewesen.

Natürlich wirft dies die Frage auf, weshalb es überhaupt an den USA liegen sollte, sich in solche Konflikte einzumischen. Gerade in Europa hat es Tradition, den transatlantischen «Hegemonen» mehr als Gefahr denn als Kraft des Guten zu betrachten. Doch diese Sicht blendet aus, welch entscheidende Funktion Amerika als Architekt und Garant der liberalen Weltordnung jahrzehntelang innehatte. Weder China noch die Uno oder die zerstrittenen Europäer sind zu einer solchen Rolle fähig. Sie unterschlägt auch die Tatsache, dass mit Macht Verantwortung einhergeht: Wer, wenn nicht die Grossen, und dazu zählt Europa, könnte denn sonst sicherstellen, dass der in Syrien herrschende Irrsinn brutaler Selbstzerstörung nicht zum weltweiten Normalfall wird? Europa sollte Amerika in seiner Rolle als Führungsmacht nicht bremsen, sondern ermutigen und seinen eigenen Beitrag leisten.

Denn auch nackte Eigeninteressen des Westens sprechen gegen eine Politik des Abseitsstehens. 

Syrien hat gezeigt, wohin diese führt: zur Auflösung von Grenzen und zur Destabilisierung einer ganzen Region, zum Export von islamistischem Terror, zum Höhenflug von Nationalpopulisten in Europa und zu Zerfallserscheinungen der EU infolge von Flüchtlingsströmen, zu wachsenden Machtgelüsten Russlands und zum generellen Verlust an Vertrauen in die USA. Dass sich unter Obama die Weltmacht Amerika quasi in Frühpension verabschiedet hat, rächt sich immer deutlicher. 

Auftrieb für Putin und Peking

Oder hat der abtretende Präsident wenigstens auf anderem Gebiet eine glückliche Hand bewiesen? Die Bilanz fällt ernüchternd aus. Zähen Verhandlungen mit China ist es zu verdanken, dass die beiden wichtigsten Verursacher von Treibhausgasen den Grundstein zum Klimavertrag von Paris legen konnten. Obamas vielbeschworene Neuorientierung auf Ostasien bleibt jedoch Stückwerk, da Washington der Region trotz allem nur begrenzte Aufmerksamkeit schenkt. China konnte seine Territorialansprüche im Südchinesischen Meer in den letzten Jahren ungehindert absichern; in jüngster Zeit zieht es zudem amerikanische Partner wie die Philippinen und Malaysia immer stärker in seinen Orbit. Als herber Rückschlag erweist sich dabei die Nichtratifizierung des transpazifischen Freihandelsvertrags durch die USA, womit sich die Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Amerikaner verstärken. Völlig ungewiss ist, was unter Trump von der Annäherungspolitik gegenüber Kuba und vom Atomabkommen mit Iran bleiben wird. Als definitiv gescheitert gelten muss hingegen Obamas Russlandpolitik, die dem Grossmachtstreben des Kremls wenig entgegensetzte und nicht verhindern konnte, dass mit der Annexion der Krim erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ein europäischer Staat seine Grenzen gewaltsam ausdehnte.

Die Welt steckt heute in grösseren Turbulenzen als vor acht Jahren, als ein frisch gewählter junger Präsident so eloquent die Hoffnungen auf eine gerechtere Zukunft zu entzünden vermochte. Doch Obamas rhetorisches Talent ist zugleich eine seiner grössten Schwächen – sie scheint in ihm die Illusion zu nähren, andere vor allem mit der Kraft des Wortes überzeugen zu können. Wenn dieser Zauber an kruden Machtpolitikern vom Schlage eines Asad, eines Putin oder eines Khamenei abprallt, zeigt der amerikanische Präsident oft Ratlosigkeit. Die Worte lassen Barack Obama auch nach acht Jahren nicht im Stich. Aber zu sagen hat er immer weniger.


Nota. - Der Fehler war nicht der Einmarsch in den Irak, sondern der verfrühte Rückzug. Wahr ist aber auch, das George W. keinen Plan für die Zeit nach Saddam hatte. Hat er geglaubt, der Krieg werde lange genug dauern und unterdessen würden die innerirakischen Fronten sich klären? Auf den Blitzsieg war er so wenig gefasst, wie der Rest der Welt (außer vielleicht Saddam selbst). Die CIA hatte sich von Saddams Rodomontaden bluffen lassen; die scheint ein ganz wunder Punkt in Amerikas Außenpolitik zu sein. 

Bei all dem hätten die Europäer schon unter Obama ahnen können, dass weltpolitisch höhere Anforderungen auf sie zukommen. Auch Angela Merkelhat es erst spät gemerkt, aber gemerkt hat sie's.
JE 


 

Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen.


W. Busch
 
In der heutigen FAZ schreibt die amerikanische Philosophin Susan Neiman heute unter der Überschrift Die Deutschen sollten keine Angst haben über den künftigen Präsidenten Trump. Sie kommt zu diesem Schluss:

Die Ängste über einen möglichen Nato-Austritt [der USA] decken eine noch größere Angst ab: zum ersten Mal seit 70 Jahren ist es klar, dass Deutschland nirgendwo Sicherheit suchen kann – außer bei sich selbst. Trumps Wahl ist nicht nur ein Angriff auf die wichtigsten Werte, die wir haben, wie die Kanzlerin unterstrich, sondern ein Angriff auf die Vernunft schlechthin. Wer heute bei den Großmächten nach Werten und Vernunft sucht, muss nach Deutschland schauen.

So historisch ironisch diese Umkehrung nun ist, so wahr ist sie auch, und davor soll Deutschland keine Angst haben. Siebzig Jahre Aufbau- und Aufarbeitungsarbeit sind nicht vollkommen, aber sie haben schon Früchte getragen. Es ist jetzt an der Zeit, sich von der Vorstellung zu trennen, der große Bruder jenseits des Atlantiks wird uns vor Fehlern schützen. Deutschland ist schon erwachsen genug, um selbst ein Vorbild zu sein. Es muss es nur erkennen.
 
Susan Neiman, 1955 in Atlanta geboren, studierte und promovierte bei John Rawls an der Harvard University. Sie war Professorin für Philosophie an der Yale University und Tel Aviv University bevor sie 2000 Direktorin des Einstein Forums in Potsdam wurde.


Nota. - Da es um die künftige Rolle Deutschlands in der Welt geht, sollte es mich nicht wundern, wenn wir in den kommenden Jahren eine Bremserallianz aus AfD, Pegida, der Linken und einem Teil der Grünen erleben. Sie konkurrieren um dieselben Wähler. 
JE


 

Dienstag, 20. Dezember 2016

Wandern in der Savanne.

Ein undruchdringlich erscheinender Urwald stoppte wohl einst die Weiterwanderung des Homo sapiens.
aus scinexx

Urwald stoppte Vormarsch des Homo sapiens 
Erst ein Klima-Umschwung ebnete den Weg nach Europa 

Durch dichtes Dickicht aufgehalten: Undurchdringlicher Urwald war offenbar schuld daran, dass der Homo sapiens auf seiner Wanderung nach Europa zunächst im heutigen Israel gestoppt wurde. Das legen nun Analysen von Pollen aus Meeressedimenten nahe. Demnach mied der moderne Mensch den Wald, weil er dort weniger gut auf die Jagd gehen konnte als in weiter südlich gelegenen Steppenlandschaften. Erst als sich das Klima vor rund 50.000 Jahren änderte, setzte er seine Wanderung fort.

Die Wiege der Menschheit stand in Afrika. Vor rund 200.000 Jahren bildete sich dort der Homo sapiens heraus und verbreitete sich anschließend über die ganze Erde. Seine Hauptzugroute verlief nach Norden über die sogenannte Levante, dem östlichen Küstenstreifen und Hinterland des Mittelmeers. Im nördlichen Teil verzweigte sich die Wanderung nach Asien und nach Europa.
 

Doch der Vormarsch des Homo sapiens auf den europäischen Kontinent geriet zunächst ins Stocken: "Im Gebiet des heutigen nördlichen Israels gab es eine Art Flaschenhals", berichtet Thomas Litt von der Universität Bonn. Vor rund 100.000 Jahren stoppte an diesem Engpass entlang des Jordangrabens die Weiterwanderung des modernen Menschen, wie archäologische Funde dokumentieren. Einige Experten glauben, dass eine Klimaverschlechterung mit zunehmender Trockenheit dafür verantwortlich gewesen sein könnte.
 
Urwald statt Wüste

Litt und seine Kollegen kommen nach umfangreichen Bohrungen im Toten Meer nun jedoch zu einem ganz anderen Schluss. Die Wissenschaftler stießen insgesamt 455 Meter tief in die Sedimente am Meeresgrund vor und entdeckten dabei verräterische Pflanzenpollen. Die Analyse diesestausende Jahre alten Blütenstaubs erlaubte schließlich Rückschlüsse auf das Klima der Region.

 

Es offenbarte sich: Vor rund 90.000 bis 130.000 Jahren hatte es der Homo sapiens dort nicht mit Wüsten zu tun - sondern mit Urwald. Dieser befand sich offenbar im heutigen westlichen Syrien und Libanon und stellte eine undurchdringliche Barriere dar. Vermutlich mied der moderne Mensch diese Umgebung vor allem, weil er dort nicht seine gewohnte Nahrung gefunden hätte: "Die Menschen jagten Wild als ihre Lebensgrundlage – und das fanden sie vor allem in Steppenlandschaften", sagt Litt.
 
Bessere Jagdbedingungen im Süden

Südlich des "Flaschenhalses" in Israel und Jordanien waren solche offenen Landschaften mit Gräsern, Steppen-Beifuß und einzelnen Baumgruppen hingegen verbreitet, wie das Team herausfand. Dort waren die Bedingungen für die Jagd ideal. Der dichte Wald weiter nördlich muss den Menschen im Vergleich dazu weit weniger paradiesisch erschienen sein.

 

Erst eine Klimaveränderung ebnete dem Homo sapiens schließlich doch noch den Weg nach Europa: Vor 50.000 bis 60.000 Jahren wurde es im ostmediterranen Raum deutlich trockener. Der Wald im Norden verschwand und die Steppe im heutigen Israel und Jordanien dehnte sich über die gesamte Levante aus. "Ab diesem Zeitraum setzte die Weiterwanderung nach Norden ein, was sich auch anhand von datierten Homo sapiens-Skeletten belegen lässt", schließen die Wissenschaftler.

(Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 20.12.2016 - DAL)


Nota. - Der normale Lebensstil der Famlilie Homo war, seit sie entstand, das Wandern zwischen den Klima- und Vegetationsinseln der ostafrikanischen (Feucht-) Savanne. Dieser Lebensweise verdankt er den aufrechten Gang, dem aufrechten Gang verdankt er sein großes Gehirn. 

So war das zwei Millionen Jahre lang. Der größte Teil unserer physischen und unserer mentalen Ausstattung hat sich aus diesen Umständen entwickelt. Die sesshaft-arbeitsame Lebensweise ist vor nur 12 000 Jahren im Vorderen Orient entstanden. Das hat gerademal für eine Zellophanverpackung über unserer Naturverfassung gereicht.
JE

Sonntag, 18. Dezember 2016

Allein gegen Putin?


In der heutigen Frankfurter Allgemeinen kommentiert Wladimir Putins siegreiche Bilanz in 2016.

"Wladimir Putins Rechnung ist aufgegangen. Aleppo ist gefallen, so wie es das russische Drehbuch vorsah. Dem Westen, der keine Strategie in Syrien mehr hat, wurde darin die Rolle eines Statisten zugewiesen. Die Politiker in Berlin, Paris oder Washington reagieren jetzt mit Floskeln der Betroffenheit. Etwas anderes haben sie nicht zu bieten. Es gibt keine militärische Lösung, wird tagaus, tagein in Richtung Moskau wiederholt. Doch, es gibt sie, antwortet Putin: Wer nackte Gewalt einsetzt, der gewinnt das Spiel." 

Wer wird sich ihm noch entgegenstellen? Die USA haben sich schon unter Barack Obama weiter aus dem Weltgeschenen zurückgezogen als unter allen seinen Vorgängern seit über einem halben Jahrhundert. Wenn Donald Trump tut, was er angekündigt hat - was man freilich nicht wissen kann -, dann wendet er sich von Europa ab - und sucht vielleicht, mit Blick auf China, gar eine Allianz mit Moskau.

Ohne amerikanischen Schild ist Europa ein aufgeregter Hühnerhaufen. Und während jahrhundertelang jeder in Europa den dicken Max markierte, ist heute überhaupt nur eine Macht übrig, die voranzugehen die Kraft hätte.

"Es gibt ein Land, das Putin beim Erreichen seiner Ziele mehr als alle anderen im Wege steht: Deutschland. Über die deutsche Führungsrolle in Europa wird seit Jahren debattiert, der Kreml verfolgt die Debatte genau. Gab es eine „Freundschaft“ mit Deutschland unter dem Kanzler Gerhard Schröder, heute Cheflobbyist für russische Projekte wie die Gasleitung Nord Stream, so begegnet der Kreml mittlerweile der Bundesrepublik mit großem Misstrauen.

Es gilt besonders Angela Merkel, die sich dem russischen Führer entgegenstellt. Früher waren die Vereinigten Staaten der größte Feind Russlands. Dieses Feindbild scheint nun Deutschland einzunehmen. Auch das Ver- hältnis zwischen Berlin und Washington könnte sich umdrehen, wenn es um Russland geht: War Deutschland aus amerikanischer Sicht oft nicht hart genug gegenüber Russland, so könnten solche Warnungen in Zukunft aus Berlin nach Washington gehen."

Als Wurstelei im Sichtflug wird Angela Merkels Regierungsstil beschrieben. Keine Visionen hat sie, sie muss nicht zum Arzt. Aber eins kann man ihr nicht bestreiten: Sie hat hartnäckig einen Fuß vor den andern gesetzt, sie hat nicht locker gelassen in Europa im Bewusstsein, dass dieser Kontinent nur dann noch eine Rolle in der Welt spielen wird, wenn sich Deutschland der Rolle bewusst wird, die ihm dabei zufällt.


Donnerstag, 15. Dezember 2016

Die Meiji-Revolution im Roman.

der junge Mutsuhito
aus nzz.ch, 9.12.2016, 05:30 Uhr

Vor hundert Jahren starb Natsume Soseki
Chronist eines epochalen Umbruchs 
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlief Japan eine Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche. Natsume Soseki hat den Geist der «Meiji-Epoche» wie kein anderer zu fassen vermocht.

von Katharina Borchardt 

Die Stadt Tokio – was für ein Schock! Der junge Sanshiro ist zutiefst erschrocken, als er Anfang des 20. Jahrhunderts zum Studium in die japanische Hauptstadt kommt: wuselnde Menschenmassen, klingelnde Strassenbahnen, Geschäfte mit europäischen Waren.

Natsume Soseki hinterliess ein thematisch vielschichtiges, psychologisch differenziertes und stilistisch hochfeines Werk. (Bild: PD)
«Was ihn aber am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass die Stadt Tokio scheinbar kein Ende hatte», schreibt Natsume Soseki in seinem 1908 erschienenen Roman «Sanshiros Wege». Sanshiro ist ein Junge aus der Provinz. Er kommt aus dem Städtchen Kumamoto auf der Insel Kyushu, das der Autor aus eigener Erfahrung kannte. Nach dem Studium der Anglistik, einer damals in Japan noch ganz jungen, nach Zukunft duftenden Wissenschaft, unterrichtete Soseki zunächst an einer Schule in Tokio, dann auf der Insel Shikoku und schliesslich auf Kyushu.

Natsume Soseki 

Die grosse Kluft zwischen Stadt und Land kannte Soseki, wie sich der unter dem Namen Natsume Kinnosuke geborene Autor selbst nannte, also sehr gut. In seinen Romanen wird sie immer wieder beschrieben, etwa wenn die Landbevölkerung erbebt angesichts der urbanen Nachrichten, die moderne Tageszeitungen im ganzen Land verbreiten, oder wenn sich selbst die Hunde heiser bellen, sobald ein städtischer Besucher in eng anliegender europäischer Kleidung durchs Dorf läuft. Wenn Sanshiro in Tokio Briefe von seiner Mutter aus der Provinz erhält, scheinen sie ihm Botschaften «aus einer uralten, schon längst vergangenen Welt».

Erzwungene Öffnung

Eine Bewegung in die moderne Stadt hinein oder aus der Stadt zurück aufs Land vollziehen etliche Werke von Natsume Soseki. Sanshiro und auch der namenlose Erzähler des Meisterwerkes «Kokoro» (1914) kommen aus dem Hinterland zum Studium nach Tokio. Der 23-jährige Erzähler des nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Romans «Der Bergmann» (1908) wiederum flieht nach einem Liebesskandal aus Tokio aufs Land, wo ein Anwerber den naiven jungen Mann als Arbeiter an ein Bergwerk vermittelt. Die Gesichter der Bergleute, die über keinerlei Bildung oder Weltgewandtheit verfügen, empfindet der Tokioter als wild und unmenschlich. Erst als er auf einen Arbeiter trifft, der seine Rede mit Lehnwörtern aus dem Chinesischen anzureichern versteht, entspannt sich der junge Mann ein wenig.

Meiji Tenno

Natsume Soseki lebte in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche. Seine Lebensjahre (1867 bis 1916) kommen fast vollständig überein mit der Regentschaft von Tenno Mutsuhito, die die «Meiji-Zeit» genannt wurde, die «Zeit der aufgeklärten Herrschaft» (1868 bis 1912). 1854 erzwangen die USA als erster ausländischer Staat die Öffnung der japanischen Häfen; Handelsverträge mit anderen Ländern folgten kurz darauf, auch mit Preussen und der Schweiz. So gelangten nicht nur westliche Waren ins Land, sondern überdies moderne politische Ideen und technische Neuheiten, wie etwa Strassenbahnen, Tageszeitungen und industrielle Produktionsanlagen. Diese Veränderungen im öffentlichen Raum bilden übrigens auch die prachtvollen Ukiyo-e-Holzschnitte und die kolorierten Fotografien aus Japan ab, die augenblicklich im Frankfurter Museum Angewandte Kunst gezeigt werden.

Neumodisch und etwas ratlos

Natsume Soseki greift die Neuheiten in seinen Büchern ebenfalls auf und erzählt von Figuren, die häufig per Zug oder Strassenbahn reisen. Gerne lässt er sie mit europäischer Kleidung experimentieren, neumodische Eisdielen und Billardzimmer besuchen und beim Tee, wenn auch ein wenig ratlos, mit Zuckerzangen hantieren. Um seine Werke zu verbreiten, bediente sich Soseki selbst gerne der modernen Tagespresse. Nachdem er zwei Jahre in London verbracht und eine Zeitlang – als Nachfolger von Lafcadio Hearn – an der Tokioter Universität Englisch gelehrt hatte, gab er diese respektierte Position auf und wandte sich ganz dem Schreiben zu. Seine Bücher erschienen meist als Fortsetzungsromane in Tageszeitungen.

Die gesellschaftlichen Veränderungen sind bei Soseki keine rein äusserlichen. Sie greifen tief in Leben und Selbstverständnis seiner Figuren ein. Zwar ziehen sie sich in Zeiten grosser persönlicher Konfusion gelegentlich noch in ein Zen-Kloster zurück, wie der soeben erschienene Auszug aus dem Roman «Das Tor» nachlesbar macht. Gleichzeitig erfahren sie aber auch die Einsamkeit des modernen Menschen «in einer Zeit der Freiheit, der Unabhängigkeit und individuellen Entfaltung», wie man es im Roman «Kokoro» miterlebt.

Darin lernt ein junger Student einen älteren Mann beim Baden am Meer kennen. Der Jüngere wird auf den Älteren aufmerksam, weil dieser offenbar mühelosen Umgang mit einem Europäer pflegt, der sich ebenfalls am Strand aufhält. Der Student nennt den älteren Mann respektvoll «Sensei», also «Lehrer», und geht in dessen Haus bald ein und aus. Sein ganzes Studium über führt er rege Gespräche mit dem Sensei, der vermögend ist und deshalb – ein wiederkehrendes Thema bei Soseki – keiner Erwerbsarbeit nachgehen muss.

Doch der Sensei hat ein dunkles Geheimnis, das sich erst im dritten und letzten Teil des Romans lüftet. Nach zwei Kapiteln aus der Ich-Perspektive des jungen Studenten über sein Verhältnis zum Sensei und gelegentliche Besuche bei seinem eigenen sterbenden Vater in der Provinz folgt ein langer Brief des Älteren, in dem er nicht nur eine schwerwiegende Verfehlung in seiner Jugend eingesteht, sondern auch seinen Freitod aus Scham über diese Sünde ankündigt. Dass er seinen Suizid gleichzeitig in einen Zusammenhang mit dem Tod des Tennos und seines treu ergebenen Generals Nogi setzt, zeigt, dass sich der Sensei allzu viel individualistischen Alleingang doch noch nicht traut.

Neue Ernsthaftigkeit


Meiji Tenno

Natsume Soseki erzählt seine Romane grösstenteils aus der Ich-Perspektive. War der Roman in Japan lange bloss ein Unterhaltungsformat, erlangte er um die Jahrhundertwende – prominent vertreten gerade durch die Bücher von Natsume Soseki – eine neue Ernsthaftigkeit. Mit der westlichen Individualität breitete sich auch eine psychologisch-individualisierte Form des Ich in die japanische Literatur aus. Die Naturalisten trieben die Selbstauskunft auf die Spitze, doch auch ein feiner Realist wie Soseki nahm das Ich sehr ernst und reflektiert insbesondere im «Bergmann» intensiv über Begriffe wie Seele und Charakter.

Zwar sind Sosekis Ich-Erzähler allesamt Männer, doch spielen auch Frauen eine Rolle in seinen Romanen. Dabei kommt Soseki bis in sein Spätwerk «Kokoro» hinein zu keinem Schluss, wie frei sich Frauen eigentlich verhalten sollten. In «Kokoro» stellt er die Frau des Sensei als ruhige, zurückhaltende Person sehr positiv dar. Der mit dem Sensei befreundete Student fühlt sich angezogen von dem, «was sich in ihrer Art von dem veralteten japanischen Frauenideal unterschied». Dennoch «sprach sie ganz schlicht, ohne sich der vielen Modewörter zu bedienen, die sich damals immer mehr ausbreiteten».

In eine Rollenschablone fügt sich diese Frau nicht mehr. Trotzdem ist es dem Studenten durchaus angenehm zu erfahren, dass die Frau des Sensei «nicht modern genug» ist, «um ihre Überzeugungen um jeden Preis durchsetzen zu wollen und darin Genugtuung zu finden». Auch warnt der Sensei den jungen Mann eindringlich vor langen schwarzen Haaren, die einen Mann fesseln können, wie es auch der junge Tokioter im «Bergmann» erlebt, der in eine Frau verliebt ist, die sich ihm gegenüber auf sinnesverwirrende Weise «mal rund, mal eckig» macht.

Natsume Soseki hat ein thematisch vielschichtiges, psychologisch differenziertes und stilistisch hochfeines Werk geschaffen, das die gesellschaftlichen Übergänge seiner Zeit mit all ihren inneren Spannungen ins Bild setzt. Er starb heute vor einhundert Jahren im Alter von nur 49 Jahren.

Natsume Soseki: Der Bergmann. Aus dem Japanischen von Franz Hintereder-Emde. Bebra-Verlag, Berlin 2015. 240 S., Fr. 36.90. 
Natsume Soseki: Kokoro. Aus dem Japanischen von Oscar Benl. Manesse-Verlag, Zürich 2015. 384 S., Fr. 35.90. 

Natsume Soseki: Das Tor & Haiku. Aus dem Japanischen von Guido Keller und Taro Yamada. Angkor-Verlag 2015. 64 S., € 4.90.