Sonntag, 4. Dezember 2016

Wie Medienrevolutionen Geschichte machten.

aus nzz.ch,

Medienwandel und Gesellschaft 4.0
Die vielfache Vertreibung aus dem Paradies 
Von der Stammesgesellschaft über die antike Hochkultur und die Buchdruckgesellschaft zur digitalen Gesellschaft der Gegenwart und der Zukunft: Es sind Medienrevolutionen, die Geschichte machen. 

von Dirk Baecker 

Seit der Einführung des Internets spielt sich ein Medienwandel ab, der in seiner epochalen Bedeutung nur mit der Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks zu vergleichen ist. Zählt man nach dem Vorbild der Softwareentwickler, bekommen wir es nach der Stammesgesellschaft – der Gesellschaft 1.0 –, der antiken Hochkultur, 2.0, und der modernen Buchdruckgesellschaft, 3.0, mit der digitalen Gesellschaft, 4.0, zu tun. Die Null deutet an, dass es sich um eine historisch grobe Einteilung handelt.

Ins Gefüge der Welt eingreifen




Dieser Medienwandel begann lange vor der Einführung des Internets in den frühen 1990er Jahren und auch lange vor der Entwicklung von Computern mit der Entdeckung der Elektrizität. Elektrizität bedeutet Wechsel- wirkung, die sich nahezu gleichzeitig abspielt und sich daher nicht mehr auf Kausalität herunterbuchstabieren lässt. Elektrizität bedeutet nahezu augenblickliche Verknüpfungen in Lichtgeschwindigkeit und damit eine Nachrichtentechnik, die die Welt zum «globalen Dorf» (Marshall McLuhan) schrumpfen lässt. Und Elektrizität bedeutet die Möglichkeit elektronischer Steuerung, der sich Computer und Netzwerke von Computern verdan- ken, zunächst als Grossrechner in Behörden, Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen, dann als Personalcomputer auf den Schreibtischen, schliesslich als Smartphone für jedermann. Elektrizität bedeutet, dass mithilfe kleinster Signale oder Impulse grosse Energien zu dirigieren und zu kontrollieren sind.

Die Elektronik greift in das Gefüge der Welt selbst ein, transformiert die Materie, ermöglicht Fernsteuerung und verwandelt den Menschen selbst in einen Impuls, der nur noch an wenigen Stellen der Maschinerie die Chance hat, einen Schalter umzulegen, um etwas zu bewirken, oder ein Ergebnis abzulesen, mit dem er etwas anfangen kann. Strenggenommen machen sich die Computer, die sogenannten sozialen Netzwerke und auch das Internet der Dinge nur das zunutze, was mit der Elektronik in den Bereich des Möglichen rückt.

Das sind erstens nahezu instantane Verknüpfungen quer über den ganzen Globus und zweitens eine Verschal- tung aller alten Medien, Sprache, Bild, Ton und Schrift, in einem neuen Medienverbund, dessen Logik mit unseren an das respektvolle Gespräch, die kritische Lektüre, das konzentrierte Zuhören und die aufmerksame Betrachtung gebundenen Gewohnheiten kaum noch etwas zu tun hat.
 
Gedächtnis über die Zeiten

Wir müssen unsere Theorie der Gesellschaft auf ein neues Verständnis von Medien umstellen, um zu begreifen, was mit uns geschieht. Medien sind Kulturtechniken. Sie vermitteln Kommunikation und Handlung. Das ist ihr einfachster Begriff. Im Medium der Sprache können Gedanken, die im Bewusstsein verschlossen sind, anderen zugänglich gemacht werden. Im Medium der Schrift können nicht nur Abwesende erreicht werden, sondern es kann ein Zeiten übergreifendes Gedächtnis aufgebaut werden, das die Gegenwart unter den Druck setzt, sich gegenüber Ursprung und Herkunft zu rechtfertigen.


Im Medium des Buchdrucks beginnt ein massenhaftes und nicht mehr durch die Autorität der Kirche kontrol- liertes Lesen und Schreiben, das alle Verhältnisse «kritisch» auf den Kopf stellt und nur mühsam durch «Ver- nunft» und «Aufklärung» kanalisiert werden kann. Im Medium der Elektronik werden Rechenprozesse, Spei- cherkapazitäten und Netzwerke aufgebaut, die von menschlichen Aktivitäten und anderen Sensoren gefüttert werden und eine Welt errechnen, die unser Verständnis überfordert.
 
Selbstüberschätzung

Der entscheidende Schritt für ein Verständnis der digitalen Gesellschaft ist mit diesem einfachen Medienbegriff allerdings nicht getan. Medien vermitteln nicht nur Kommunikation und Handlung, so als hätten diese ihren Ursprung (ihre «Intention») ausserhalb der Gesellschaft in den Köpfen und Körpern der beteiligten Menschen und müssten nur noch miteinander verknüpft werden. Dieses Bild entspricht einer «humanistischen» Selbst- überschätzung des Menschen. Die «Katastrophe», das heisst den Systemwandel durch die Einführung neuer Medien, versteht man erst, wenn man sich vor Augen führt, dass Medien auch das Erleben von Welt und Gesellschaft verändern.

Sie ermöglichen eine neue Orientierung, wecken neue Wünsche, Absichten und Interessen. Das Buch verändert unser Lesen, wie Mikroskop und Fernglas unser Sehen verändern. Die Eröffnung eines Benutzerkontos auf einer sozialen Plattform im Netz verändert unseren Sinn für gesellschaftliche Möglichkeiten, wie die Bilder aus dem reichen Norden die Durchhaltebereitschaft im armen Süden verändern. Ein etwas anspruchsvollerer Medienbegriff stellt daher darauf ab, dass Medien nicht nur bereits vorhandene Wirklichkeiten vermitteln, sondern neue Möglichkeiten in Reichweite rücken und vorstellbar machen. Die Medien, in denen wir uns bewegen, schaffen die Welt, an der wir uns mit ihrer Hilfe orientieren.
 
Ewige Wiederkehr des Gleichen

Erst auf diesem Umweg versteht man, was sich mit der Einführung von Sprache, Schrift, Buchdruck, Elektronik und anderen Medien jeweils ereignet. Jedes dieser Medien eröffnet eine neue Welt, die mit der alten Welt nicht abgestimmt ist. Das Auftauchen der Sprache vor 100 000 bis 300 000 Jahren vertrieb die Menschen aus einer Welt, die auf die Evidenz der Wahrnehmung beschränkt war. Das Auftauchen der Schrift vor 7000 bis 10 000 Jahren durch die Einführung der Buchführung in der Palastwirtschaft Mesopotamiens vertrieb die Menschen aus einer Welt, die reine Gegenwart war, abgesichert durch eine mythische Vergangenheit und die ewige Wiederkehr des Gleichen.

Die Welt explodiert in die Zeithorizonte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die sich nicht wiederholen, sondern voneinander unterscheiden. Die Griechen erfinden Komödien und Tragödien, in denen das beschrieben werden kann, und entwickeln eine Philosophie, die versucht, den Überblick zu behalten. Das Auftauchen des Buchdrucks vor fünfhundert Jahren, vierte Vertreibung aus dem Paradies, konfrontiert die Menschen mit einer Welt, die bis in den letzten Winkel «kritisch» untersucht werden kann.
 
Nichts versteht sich von selbst

Nichts mehr versteht sich traditionell von selbst, weil man über alles vergleichend nachlesen und alles neu beschreiben kann. Die Ordnung der Stände bricht auseinander, und an ihre Stelle treten eine demokratisch verwaltete Macht, ein über Märkte kontrolliertes Geld, eine empirisch, das heisst unter Wissenschaftern theoretisch und methodisch überprüfte Wahrheit, eine nicht mehr an die Familie, sondern an die Leidenschaft gebundene Liebe und nicht zuletzt eine Kunst, die nicht mehr am Vorbild der Natur, sondern an der Originalität des Künstlers orientiert ist. Das ist die moderne Gesellschaft. Sie kann nur noch dynamisch stabilisiert werden. Wir haben kaum verstanden, was das heisst, und müssen uns doch schon wieder auf eine neue Welt einlassen.

Das auffälligste Phänomen einer digitalen Gesellschaft sind die Bildschirme, die Displays unserer Computer, Smartphones und Tablets. Ihre Oberflächen faszinieren, so Niklas Luhmann, wie früher nur die ominösen Zeichen der Religion faszinierten. Sie verbinden uns mit den unergründlichen Tiefen unsichtbarer Maschinen, wie wir früher mit der Welt der Götter und Geister verbunden waren. Wir starten unsere Suchanfragen, checken unsere E-Mails, posten unsere Blog-Beiträge, liken, was andere posten, wischen weg, was uns nicht interessiert, und sind jedes Mal im Kontakt mit einem Netzwerk, das wir nicht verstehen, aber immer wieder neu zu spüren bekommen.
 
Eine neue Welt erkunden

Wieder liegt die Faszination des neuen Mediums nicht darin, dass es ein besseres Instrument für die Vermittlung von Nachrichten ist als die alten Medien des Briefs, der Bibliotheksrecherche und des Zettelkastens. Vielmehr lässt es uns eine neue Welt erleben und macht uns so zur unfreiwilligen Voraussetzung seines eigenen Bestehens. Börsenmakler, Piloten im Cockpit, Ingenieure an Überwachungsmonitoren, Krankenhausärzte an ihren mit Metadatenbanken verknüpften Terminals, Soldaten mit einer von künstlicher Intelligenz unterstützten Gefechtsausrüstung, Firmen und Geheimdienste, die rätseln, was ihnen die neueste Big-Data-Auswertung zu sagen hat, erkunden eine neue Welt, die sich ihre Menschen zurechtlegt, während diese noch glauben, sie würden sie erschaffen.

Kommunikation und Handlung wird im Medium unsichtbarer Maschinen verrechnet. Diese Maschinen sind an Kommunikation beteiligt, wie früher nur Menschen an ihr beteiligt waren. Auch den Maschinen wird ein unzugängliches Gedächtnis, eine undurchschaubare Vernetzung, wenn auch noch nicht ein freier Wille, geschweige denn ein verschlossenes Bewusstsein zugerechnet. Wie stellen wir uns darauf ein? Werden wir sie mit uns reden lassen? Und werden sie uns mit sich reden lassen? Für die Gesellschaft gilt, dass nur die Formen der Kommunikation flächendeckend eingeführt werden, die man auch ablehnen kann. Die Möglichkeit der Negation regiert die Gesellschaft. Gilt das auch für unsere Kommunikation mit den unsichtbaren Maschinen?
 
Nur direkter Kontakt hilft

Das Einzige, was hilft, ist der direkte Kontakt mit ihnen. Der Kontakt muss uns ihnen nicht ausliefern. Er wiegt uns aber auch nicht in der Illusion, dass wir noch die Macht hätten. Das Design der Schnittstellen zwischen Mensch, Maschine und Gesellschaft übernimmt die Macht. Und daran nehmen wir teil, ohne uns restlos auszuliefern und ohne die vollständige Kontrolle zu haben. Ingenieure entwerfen dieses Design, Künstler spielen damit, und Nutzer setzen es ein. Worauf es ankommt, ist die Kontrolle von Maschinen, die uns kontrollieren.

Wir liefern uns den Maschinen nur aus, wenn wir das Gefühl haben, jederzeit auch wieder aussteigen zu können. Jede App tritt hierzu den Beweis an. Und «Kontrolle» bedeutet nicht Herrschaft, sondern wechselseitige Abhängigkeit. Die Epoche der digitalen Gesellschaft ist das kybernetische Zeitalter der Rückkopplung auf Ebenen, die wir früher als Ebenen der Natur, der Kultur und der Technik voneinander unterschieden haben, jetzt aber als medial ineinander verwoben begreifen müssen.

Dirk Baecker lehrt Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke. Zum Thema erschienen «Studien zur nächsten Gesellschaft» (2007), «Kulturkalkül» (2014) und «Wozu Theorie?» (2016) im Suhrkamp- und im Merve-Verlag.


Nota. - So gut und richtig das alles ist, es hat doch wieder diesen entscheidenden schweren Mangel: Es versteht Kommunikation im Ernst nur wieder als Kommunikation zwischen Vorstellenden. Das ist zwar in Hinblick auf die Gesellschaften 1.0, 2.0 uns 3.0 das, was an den Medienrevolutionen am meisten hervorzuheben ist: Sie haben die Welt, wie sie in unserer Vorstellung vorkommt, ganz neu gestaltet. 

Aber in Hinblick auf die "Gesellschaft 4.0", wie Dirk Baecker sie nennt, ist es eine Platitüde. Das wissen wir längst, dass ein Medium, das das Verhältnis zwischen digital und analog an jeder Wegbiegung neu auf den Kopf stellt, in unseren Vorstellungen tagtäglich Karneval in Rio feiert, und mancher Feuilletonist verdient daran sein Brot - daran musste ich denken, als ich den Rat las, uns den Maschinen "restlos auszuliefern", um "Kontrolle zu haben".

Was übersehen, überplaudert wird, ist der Umstand, dass diesmal die Welt, wie sie auch außerhalb unserer Vorstellung vorkommt, durch ebendasselbe Medium verändert wird: Die Maschinen vermitteln nicht mehr bloß die Kommunikation zwischen Vorstellenden, sondern vermitteln zwischen einander. Nämlich als Produzenten einer Welt von Dingen, als Stellvertreter der lebendigen Arbeiter, die unsere Vorfahren waren und die wir nun nicht mehr lange zu sein brauchen. 

Das steht nicht in Konkurrenz zur Kommunikation zwischen Vorstellenden, sondern eröffnet ihr im Gegenteil eine ganz eigne Dimension. Weil es eine Kommunikation 4.0 zwischen Maschinen zu beherrschen gibt, findet - fände? - eine Kommunikation 4.0 zwischen den Vorstellenden ihren spezifischen Gegenstand, wodurch sie nicht mehr beliebig und dem guten Willen überlassen bleibt, sondern erforderlich wird, und das ist schonmal die Rohform der Realität.
JE 

 

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