Es gibt ungelöste Rätsel, die auch nach fast eineinhalb Jahrtausenden noch Brisanz besitzen. Wie konnten etwa die Araber nach dem Tod des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert in kürzester Zeit das Perserreich erobern, Nordafrika überrollen und die Iberische Halbinsel einnehmen? Wie funktionierte das Kalifat, auf das sich auch die Terrororganisation "Islamischer Staat" heute bezieht? Und war der Islam ursprünglich gar eine Art ökumeni- sche Bewegung, in der Juden, Christen und Anhänger Mohammeds in einer Gemeinschaft miteinander lebten? Generationen von Historikern arbeiteten über diese Fragen, und doch bleibt vieles bis heute dunkel. Nun blicken Islamforscher hoffnungsvoll nach Wien. Denn in der Wiener Hofburg, in der Österreichischen Nationalbiblio- thek (ÖNB), könnten neue Antworten liegen.

In einem Kellergewölbe hinter mehreren alarmgesicherten Türen lagern rund 180.000 Papyri aus mehreren Jahrtausenden, fast alle davon stammen aus Ägypten aus der Zeit kurz nach der arabischen Eroberung, die größte Sammlung der Welt. Es sind Texte aus dem Alltag, Pacht- und Eheverträge, Verwaltungskorresponden- zen oder Abmachungen über Darlehen. Sie erzählen Geschichten über das tägliche Leben der Menschen in dieser Umbruchszeit, über ihre Sorgen und Nöte. Die New Yorker Mellon-Stiftung finanziert seit einigen Jahren mit insgesamt rund 1,5 Millionen Euro die Digitalisierung der relevantesten Dokumente. Ein riesiges Vorhaben, mit dem das verborgene Archiv für Forscher auf der ganzen Welt zugänglich gemacht werden soll. Denn die Schriften von damals sind auch für den Islam von heute wichtig.

Wie gefragt die Wiener Papyrusforscher sind, merkt, wer sie in der Hofburg besucht. Bernhard Palme hat sein ganzes Leben mit den alten Dokumenten verbracht, er ist Professor für Alte Geschichte an der Universität Wien und leitet die Papyrussammlung. Der Mann mit dem gezwirbelten Schnurrbart wirkt gehetzt und hin- und hergerissen. Jeder will etwas von ihm. Im Foyer sitzen zwei italienische Studentinnen, die sechs Monate lang als Stipendiatinnen hier arbeiten werden. Am Empfang ist eine Professorin aus Algerien aufgetaucht. Sie möchte die berühmten Papyri einsehen, am liebsten gleich 20 Stück auf einmal. Palme rennt die Treppen hinauf, stolpert, und während er sich aufrappelt, läutet auch noch das Handy.

So geht es hier mittlerweile ständig zu. Aus dem verschmähten Orchideenfach wurde eine politische Wissen- schaft. Was Islamforscher, Arabisten oder Papyrologen über die Frühzeit des Islams zu sagen haben, interessiert längst weit mehr als nur den Kollegenkreis. Der ist ohnehin begrenzt. Nur rund 30 Menschen auf der Welt beschäftigen sich professionell mit der Edition von Papyri.

"Dass wir plötzlich so im Zentrum stehen, war wirklich nicht vorherzusehen", sagt Palme und lacht, "im Jahr 2001 fragte der damalige Finanzminister Grasser öffentlich, wozu es die Orientalistik an der Uni brauche. Zwei Wochen später waren die Anschläge vom 11. September, und plötzlich interessierten sich alle dafür."

Mit dem neuen Jahrtausend setzte auch eine Renaissance der Erforschung arabischer Papyri ein. Man erkannte, dass ihr Potenzial als Quellen längst nicht ausgeschöpft war. Ihre Auswertung und Interpretation bleibt aber eine herausfordernde Balance zwischen wissenschaftlicher Gründlichkeit und gesellschaftlicher Verantwortung.

Das erfährt Lucian Reinfandt in seiner Arbeit. Er arbeitet in der Papyrussammlung, sitzt mittlerweile regelmäßig auf Podien und diskutiert mit Vertretern von Islamverbänden die Ergebnisse seiner Arbeit. Was glaubten die frühen Anhänger Mohammeds, und wie lebten sie? Die Debatte gilt es mit Umsicht zu führen, sagt Reinfandt, "wir müssen in unserer Forschung ein großes Maß an interkultureller Sensibilität aufbringen."

Dass Wien zum Zentrum der Papyrusforschung wurde, ist Zufall. Ein Wiener Antiquitätenhändler fand in den 1880er Jahren in einer Oasenlandschaft südlich von Kairo mehr oder weniger zwischen Abfall antiker Siedlun- gen alte Papyri und schickte einige davon nach Wien. Josef von Karabacek, der damalige Professor für orientalische Sprachen an der Universität, erkannte, welchen Schatz er in Händen hielt. Erzherzog Rainer, ein Förderer der Wissenschaft, kaufte so viel auf, wie er konnte: Ägyptische Totenbücher aus dem 2. Jahrtausend vor Christus, koptische Bauernkalender oder die älteste Partitur der Welt, ein Lied mit Musiknoten aus der Tragödie Orestes von Euripides. 4.000 Jahre Kulturgeschichte kamen so nach Wien. Im Jahr 1899 schenkte Erzherzog Rainer die Sammlung Kaiser Franz Josef zum Geburtstag – ein Glücksfall, denn so blieb sie zusammen und wurde nicht in alle Winde verstreut.

"Diese Sammlung ist unglaublich wichtig für uns"

Heute liegen die Papyri auf Hunderte Schachteln verteilt im Keller der Hofburg, gelagert bei 19 Grad Celsius und geschützt vor Sonnenlicht. Sie zu restaurieren und inhaltlich zu erschließen ist ein langwieriger Prozess. Für ungeübte Augen sehen sie oft eher aus wie ein kleiner Haufen Dreck. Für die Forscher ist es ein gigantisches Puzzlespiel. Mal fehlt ein großes Stück, mal sind nur wenige Wörter darauf zu lesen – doch gerade die können interessant sein. Systematisch wird das riesige Archiv derzeit durchforstet, jeder Papyrus studiert und in Klassen eingeteilt, von gut erhaltenen Stücken mit relevantem Inhalt bis zu uninteressanten, die unbearbeitet wieder in den Keller wandern.

Sensationsfunde gab es immer wieder. Zuletzt hat der Papyrologe Federico Morelli ein zusammengehöriges Dossier gefunden, Briefe unter hohen Verwaltungsbeamten kurz nach der Eroberung Ägyptens. Die Texte erzählen über den Umbruch, als die Macht am Nil von den Byzantinern auf die Araber überging. Die neuen Herrscher vermieden Übergriffe auf die Zivilbevölkerung. Sie übernahmen die bestehenden Verwaltungsstruktu- ren und ließen ihren Untertanen viele Freiheiten. "Man erfährt in diesen Texten viel über die Beziehungen zwischen einheimischen Christen und Arabern", erzählt der Italiener Morelli. "Die Religion kommt aber kaum vor. Bis in das achte Jahrhundert stellen christliche Beamte ein Kreuz an den Beginn vieler Briefe, das war überhaupt kein Problem." Der Islam habe sich gegen Heiden gerichtet, aber nicht gegen Juden und Christen. Eine Islamisierung Ägyptens habe erst später und langsam stattgefunden und wurde nicht mit Gewalt erzwungen. "Aus meiner Sicht spielten bei vielen Konvertierungen steuerliche Gründe eher eine Rolle als religiöse", sagt Morelli, "Christen und Juden mussten nämlich höhere Abgaben bezahlen."

Wie viele Dokumente zum sogenannten Morelli-Archiv gehören, weiß derzeit noch keiner. 100 bis 150 sind es derzeit. Federico Morelli könnte sein gesamtes restliches Forscherleben mit dem Fund verbringen. Denn in Wien liegen wohl Hunderte weitere, möglicherweise finden sich auch in anderen Archiven, in London, Straßburg oder New York noch Papyri, die zu dem Konvolut gehören.

Fred Donner von der Universität Chicago ist einer der führenden Wissenschaftler für die Geschichte des frühen Islams – und hat einige der umstrittensten Thesen aufgestellt, unter anderem jene, der Islam sei in seiner Anfangszeit eine Art Ökumene gewesen. Belege dafür sind spärlich. Auch er hofft auf die Papyri in Wien. "Diese Sammlung ist unglaublich wichtig für uns", sagt Donner. Die Dokumente beschreiben eine Zeit, über die noch wenig bekannt ist. Wie wurde die religiöse Lehre ausgelegt, wie wurden Begriffe benutzt. "Es wäre etwa großartig, wenn wir ein Papyrus finden, in dem einer der frühen Anhängern des Islams über den Dschihad schreibt und erklärt, was er darunter versteht, was er für sein Leben bedeutet", sagt Donner.

Die Papyrologie und die Arabistik florieren. Das liegt auch am allgemeinen Interesse, das Islam und Islamwissenschaften seit 2001 auf sich ziehen. Wissenschaftler aus der ganzen Welt pilgern nach Wien, durch das Papyrusmuseum schieben sich jeden Tag Schulklassen. Es gibt Forschungsgelder und Aufmerksamkeit in Zeiten von Sicherheits- und Integrationsdebatten. "Wir haben von diesem Interesse profitiert, für das Fach ist es von Nutzen", sagt Lucian Reinfandt. Doch man dürfe sich beim Islam nicht nur auf Fragen wie den Dschihad beschränken. Es gebe mehr, das man erzählen müsse, sagt er, "die arabische Dichtung und ihre Geschichten etwa. Wir müssen die Kultur in ihrer ganzen Breite und Würde zeigen.


Nota. - Im Kalitfat von Cordoba und in den maurischen Nachfolgestaaten wurden im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Gesetze erlassen, die es Christen und Juden erschweren sollten, zum Islam zu konvertieren, um Steuern zu sparen. Moslem wird man, indem man den rechten Zeigefinger hebt und sagt: "Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet", das ist alles. Dann musste man im islamischen Staat nur den zakât entrichten, die Spende für Arme, Witwen und Waisen. Vom Staat selbst besteuert wurden dagegen die anderen 'Religionen des Buchs'; heidnische Götzendiener freilich wurden verfolgt. 

Es ist begreiflich, dass der Islam zunächst als eine monotheistische Ökumene erscheinen konnte. Noch als Tarik von rivalisierenden westgotische Kronprätendenten nach Spanien gerufen wurde, hielt mandie Anhänger Mohammeds für ein vielen verfeindeten christologischen Sekten im Osten. Tatsächlich fällt es dem Außenste- henden bis heute schwer, im Koran spezifische Glaubensinhalte auszumachen. Sunna und Shia unterscheiden sich politisch und nicht theologisch, und so alle andern muslimischen Glaubensrichtungen.

Die Ausbreitung des Kalifats geschah als militärisch-politische Machtübernahme; das Volk nahm daran keinen Anteil. An der Verbreitung des Glaubens war der winzigen arabischen Erobererschicht nicht gelegen, sie hätte ihre Sonderstellung beeinträchtigt. Und in fiskalischer Hinsicht war dem islamischen Staat an der Vermehrung von Juden und Christen mehr gelegen als an deren Bekehrung. Die religiöse Toleranz, die dem frühern Islam nachgesagt wird, follgte lediglich dem Primat der Politik.
JE .