Samstag, 20. Juli 2019

Im grünen Morast beginnt's zu gären.


aus welt.de, 19. 7. 2019

Was für eine Kandidatin wollt ihr denn? Mutter Teresa?
Der Grüne Werner Schulz kritisiert in einem offenen Brief das Verhalten seiner Partei bei der Wahl Ursula von der Leyens zur neuen EU-Kommissionschefin. Dieses sei „befremdlich und merkwürdig“ gewesen, so der Bürgerrechtler.

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich bin schwer enttäuscht von euch und kann noch immer nicht verstehen, warum ihr Ursula von der Leyen bei der Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin nicht unterstützt habt. Das ist nicht die neue bündnisgrüne Politik, die ich von euch erwarte und die sich darum bemüht, zu überzeugen und zu versuchen, Bündnis- und Kooperationspartner zu gewinnen, sondern eher ein Rückfall in grünes Fundi-Verhalten.

Eure Gratulation und die nachträglichen Erfolgswünsche sind formal und fragwürdig. Leider seid ihr eurer proklamierten Rolle als Veränderer nicht gerecht geworden, sondern steht jetzt als Verweigerer da. Von welcher Hybris muss man getragen sein, um zu erwarten, dass eine Kandidatin aus einer konservativen Partei das komplette Programm der viertstärksten Fraktion im Europaparlament übernimmt?

Werner Schulz, 69, war Mitgründer des Neuen Forums in der DDR. Später trat er den Grünen bei   
Werner Schulz, 69, war Mitgründer des Neuen Forums in der DDR. Später trat er den Grünen bei  

Im Einklang mit den ultrarechten und -linken Europagegnern und -skeptikern und den bornierten deutschen Sozialdemokraten habt ihr eine weithin bereitwillige und aufgeschlossene Kandidatin abgelehnt.

Das ist für mich als ehemaliger Europaabgeordneter nicht nachvollziehbar und irritierend. Dabei ist das Anschwärzpapier der SPD, das sogar von der ehemaligen Kabinettskollegin Barley mitgetragen wurde, ein besonders infames Dokument der politischen Denunziation. Wie tief muss man gesunken sein, um derart billige Vorwürfe in Umlauf zu bringen? 

In der Kandidatenkür versagte das Parlament 

So wie die SPD findet ihr es problematisch, dass Ursula von der Leyen keine Spitzenkandidatin war. In einer Situation, wo weder im Parlament noch im Rat eine Mehrheit für einen Spitzenkandidaten zu finden war, ihr daraus einen Vorwurf zu machen, ist absurd. Bedenklich ist doch vielmehr, warum das Parlament in der Kandidatenkür versagt und keine Stärke bewiesen hat. 

Gewiss, Ursula von der Leyen hat sich nicht im EU-Wahlkampf um das Amt der Kommissionspräsidentin beworben. Dass sie dennoch unter den besagten Umständen bereit war, diesen Knochenjob zu übernehmen und sich der Prüfung durch die Parlamentarier zu stellen, sollte eher Dankbarkeit finden.

Der Prozess der Spitzenkandidaten war kein Durchbruch zu einer europäischen Demokratie, sondern eine Selbsttäuschung, die einen faden Nachgeschmack hinterlässt. Ehrlich betrachtet, und das wisst ihr genau, war und ist die Sache nicht stringent. Manfred Weber stand bei der Europawahl nur in Bayern auf dem Wahlzettel, Frans Timmermans nur in den Niederlanden, Margrethe Vestager nur in Dänemark und unser Spitzenduo Ska Keller und Bas Eickhout nur in Deutschland beziehungsweise in den Niederlanden.

Will man das wirklich ändern und aus dem Gezerre zwischen Rat und Parlament herauskommen und tatsächlich den politischen Willen der europäischen Bürgerinnen und Bürger ermitteln, dann braucht es künftig zwei Stimmen. Eine für die Direktwahl des Kommissionspräsidenten und eine für die nationale oder transnationale Parteiliste. Das wäre eine bahnbrechende Veränderung, die bisher niemand geschafft hat und die auch eine noch so bemühte Kommissionspräsidentin nicht allein bewältigen kann. 

Warum sollte die neue EU-Kommissionspräsidentin auf euch zugehen und die Zusammenarbeit suchen, wo sie doch vielmehr denen verpflichtet ist, die sie gewählt haben? Wenn sie es dennoch tun sollte, ist es eher ihrer Souveränität und Größe zuzuschreiben als eurem kleinmütigen Verhalten. Dabei gab es so viele wichtige Gründe, sie zu wählen: 

Warum habt ihr nicht die Offerte von Donald Tusk aufgegriffen, künftig eine grüne Kommissarin oder grünen Kommissar für Umwelt und Klimaschutz zu benennen und dafür eine verbindliche Zusage der künftigen Kabinettschefin eingeholt? Sicher, es ging euch vor allem um grüne Inhalte. Aber diese lassen sich doch erfahrungsgemäß am besten über geeignete Personen transportieren.

Allein ihr Vorhaben, die CO2-Reduktion von den bisher von der Kommission geplanten 40 Prozent bis 2030 auf 50 bis 55 Prozent zu steigern und damit die Forderung des EU-Parlaments zu erfüllen, sowie die Absicht, gezielte Maßnahmen einzuleiten, die Europa bis 2050 in einen klimaneutralen Kontinent verwandeln, wären plausible Gründe für ihre Wahl gewesen. Ihr bemängelt, dass ihr „Grüner Deal“ ohne Inhalt sei. Aber das ist doch dann gerade eine Chance für euch, ihn zu füllen und ihr zu helfen!

Werner Schulz 


Nota. - Er weiß natürlich, woran es hakt, doch wenn er's sagt, geht ein Shitstorm über ihn nieder. Das ist aber gar nicht nötig, jeder weiß es ja: Welche Politik tatsächlich gemacht wird, ist ihnen weniger wichtig, als den eigenen Laden zusammenzuhalten und sich die Freiheit künftiger Kompromisse und Kombinationen zu wahren. Eine sektenhafte Lifestyle-Community eben, keine politische Partei. 
JE


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