Sonntag, 28. Februar 2021

Norbert Bolz über die deutsche Hysterie.

E. Munch

aus derStandard.at, 26. Februar 2021

"Wir sind hysterisch, es geht uns gut"
Der deutsche Medienphilosoph attestiert unserer Gesellschaft das Behagen an der eingebildeten Katastrophe: ein Gespräch über Krise, Schwatzsucht und Corona

STANDARD: Im Buch "Die Avantgarde der Angst" attestieren Sie unserer Gesellschaft neo-religiöse Züge. Die Sorge um Mutter Erde macht uns zu Angsthysterikern. Jetzt müssen wir Corona durchtauchen. Werden wir uns, nach glücklicher Durchimpfung, in Hedonisten verwandeln?

Bolz: Es fällt mir schwer, die Analogie zu den "Roaring Twenties" zu ziehen. Corona ist eine Katastrophe nicht für alle, aber für viele Menschen, und das vor allem wirtschaftlich. Doch hält das Ausmaß der Bedrohung dem Vergleich mit einem Krieg nicht stand. Es handelt sich eher um ein permanentes Ärgernis. Corona bedeutet vor allem für die Jugend eine unerträgliche Eingrenzung ihrer Lebensbedingungen. Aber man kann die Pandemie deshalb nicht mit einer Naturkatastrophe vergleichen, oder mit einem großen Krieg. Man würde durch eine Analogie mit den 1920ern die Katastrophe des Krieges bagatellisieren.

STANDARD: Was wird es stattdessen geben?

Bolz: Einen kompensatorischen Hedonismus. Aber der findet dann eben in ganz normale, zivile Bahnen zurück. Man gönnt sich einen ausgedehnten Urlaub oder feiert Partys.

STANDARD: Es wird nicht zu einer riesengroßen Ressourcenverschwendung kommen?

Bolz: Eine Kultur der Verschwendung hat es in Europa überhaupt noch nie gegeben. Das sind Seminarträume, die man sich von Ethnologen hat eingeben lassen. Sie widerspricht auch dem zivilisatorischen Geist. Dieser wirkt noch dann, wenn die Leute nicht mehr durch Religion oder Ethos gebunden sind, wie vielleicht noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts.

STANDARD: Sie schildern in Ihrem Buch die Dialektik jeder Wissensgesellschaft. Wissen bildet noch keinen Vorgriff auf die Kenntnisse von morgen. Zugleich rückt die Pandemie die Experten ins Licht. Diese teilen unentwegt ihr Wissen mit uns. Stößt dieses Modell gerade an Grenzen?

Bolz: Nicht die wissensbasierte Gesellschaft, sondern die Erwartungen, die das Publikum an die Wissenschaft richtet. Wir haben es womöglich auch mit keiner Krise der Wissenschaft zu tun, sondern bloß mit einer solchen der Expertenkultur. Experten sind Fachleute, die in sehr, sehr seltenen Fällen Medienaufmerksamkeit bekommen. Sobald ihnen diese zuteil wird, erweisen sie sich als ganz normale Menschen: verführbar durch Ruhm, durch Publizität. Sie verhalten sich dann gerade nicht wie Wissenschafter. Sie entwickeln keine Hypothesen und Modelle, die sie als Anbieter in Konkurrenz zu anderen Modellen stellen. Sondern sie tun, als besäßen sie den Durchblick. Dass sie als Mahner und Warner auftreten, darin besteht der größte Widerspruch zum Geist der Wissenschaft! Wir, als Öffentlicheit, haben die Wissenschafter dazu verführt, sich medienwirksam als Experten aufzuspielen. Eine fatale Entwicklung.

STANDARD: Worin besteht aktuell die Rolle des Staates? Hobbes beschrieb den Schutz, den er den Bürgern gewährt, um dafür Gehorsam zu verlangen. Stehen wir an der Kippe? Es wird Gehorsam verlangt, dieser korreliert aber nicht ausreichend mit dem Schutz.

Bolz: Es liegt in der Tat ein Missverhältnis zwischen gefordertem Gehorsam und gewährtem Schutz vor. Bei Thomas Hobbes hat das die extreme Konsequenz, dass er sagt: In einem solchen Fall kann jeder einzelne Bürger sich aus dem Vertrag zurückziehen und die Sache selbst in die Hand nehmen – wenn der Staat ihn eben nicht schützen kann. Viele empfinden, dass dem Staat die Legitimationsgrundlage entzogen ist. Hinzu kommt, dass sehr viele Politiker sich faszinieren lassen von den Möglichkeiten des Ausnahmezustands. Dieses Gefühl absoluter Souveränität, das die Politiker unfehlbar beschleicht, wenn sie sagen können: Wir leben in einer Zeit, die außergewöhnlich ist und deshalb völlig außergewöhnliche Maßnahmen erfordert. Das führt zur Umgehung der normalen Prozesse einer parlamentarischen Demokratie. Das ist bei uns in Deutschland weit fortgeschritten.

STANDARD: Führt das zu irreparablen Beschädigungen des Institutionengefüges?

Bolz: Dazu halte ich die deutsche Bevölkerung für zu träge: Sie lässt sich nicht so leicht radikalisieren. Ich sehe keinerlei Hinweise auf eine Radikalisierung. Im Gegenteil, es ist zum Teil erstaunlich, was sich die Deutschen alles so zumuten lassen. Fast ohne zu murren. Wir leben im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Wir hier in Berlin sind sehr anfällig für dieses Geführt-Werden-Wollen. Für Politiker eine fantastische Situation!

STANDARD: Und mit Blick in die Zukunft?

Bolz: In meinem Buch beschreibe ich neben realen Krisen vornehmlich die imaginären. Die Lust am Ausnahmezustand halte ich für gefährlicher mit Blick auf die Politiker als mit Blick auf die Bevölkerung. Was kommt nach Corona? Ich gehe davon aus, dass wir relativ schnell in die alten Bahnen des Wohlfahrtsstaates zurückkehren werden.

STANDARD: Die Panik in der Öffentlichkeit ist dann, wenn die Gefahr sich manifestiert, gar nicht mehr stark ausgeprägt?

Bolz: Über imaginäre Katastrophen erregt man sich sehr viel mehr als über ein reales Problem. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass die Menschen unbewusst ihre Angstlust nur da entwickeln, wo es für sie gar nichts zu befürchten gibt. Bricht dagegen tatsächlich ein Krieg aus, eine Seuche, dann reagiert man weitaus gedämpfter – und weniger hysterisch. Fast schon herdenartig geduldig. Und lässt sich von der Obrigkeit allerhand bieten. Im Notstand reagieren die Leute letztlich ruhiger, um nicht zu sagen: vernünftiger.

STANDARD: Kehrt das Angstsyndrom nach Überwindung der Pandemie wieder?

Bolz: Ich sehe keinen Ausweg aus dem Syndrom der Angstreligion. Es gelangt zur Wirksamkeit, was Odo von Marquard einmal das "Prinzessin auf der Erbse"-Syndrom genannt hat. Dass wir eine Sehnsucht nach Nöten haben, obwohl es uns nach dem Zweiten Weltkrieg doch so gut wie noch nie gegangen ist. Dann werden eben wieder imaginäre Probleme erzeugt, woraufhin man wieder alle schönen Formen der Hysterie und Angstlust entwickelt. Im Angesicht der realen Drohung schrickt man eher zusammen, wird stumm. Die Hysterien, die ich beschreibe, sind mehr ein Zeichen dafür, wie gut es uns geht.

STANDARD: Werden die Kollateralschäden der Pandemie zu sozialen Verwerfungen führen?

Bolz: Schwer zu beurteilen, welche wirtschaftlichen Erschütterungen sich daraus weltweit ergeben. Interessierte Kreise in Politik und Medien können die aufgetauchten Großszenarien sehr gut dafür benützen, um einen Revival des Sozialismus auszurufen.

STANDARD: Inwiefern?

Bolz: Es gibt wiederum Propaganda für einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Ich hielt den eigentlich für untergegangen. Das könnte in der Tat eine gewisse Konsequenz sein. Nicht in der realen Wirtschaft, sondern in der Rhetorik.

Donnerstag, 25. Februar 2021

Savonarolas Tugendterror.

Girolamo Savonarola, Bartolommeo, Fra, 1497 . (Photo by: Picturenow/Universal Images Group via Getty Images) Getty ImagesGetty Images 

aus welt.de, 15. 2. 2021

Fanatische Kinderpolizisten trieben die Menschen zum Scheiterhaufen
Nach der Vertreibung der Medici 1495 übernahm der Mönch Savonarola in Florenz die Macht. Seine fanatischen Gardisten terrorisierten die Stadt und sorgten dafür, dass der Karneval zum lodernden „Fegefeuer der Eitelkeiten“ wurde. 
 
 
Der Karneval nahm im Festkalender von Florenz seit jeher einen herausragenden Platz ein. Denn er bot nicht einfach nur Mummenschanz und Unterhaltung für die einfachen Leute, sondern auch die besseren Kreise nahmen an dem quirligen Spiel teil. Lorenzo di Medici ließ es sich nicht nehmen, eigene Kompositionen zu den tollen Tagen beizutragen, mit denen er zugleich seine dezente Herrschaft in Szene setzte.

Doch dieser sprühende Renaissance-Reigen intellektueller Freude und fleischlicher Lust fand im Jahr 1497 ein jähes Ende. Auf der Piazza della Signoria war eine hölzerne Konstruktion errichtet worden, die an eine Pyramide erinnerte. Auf den nach oben sich verkürzenden Brettern lagen ganze Berge von Dingen, die lange im Karneval zum Einsatz gekommen waren oder zumindest an ihn erinnerten: feine Kleider, Masken, Spielkarten, Musikinstrumente, Schmuck, Gemälde und sogar Bücher lebensfrohen Inhalts. Schließlich wurde das ganze Ensemble angezündet. Dazu erklangen heilige Lieder, es folgten Messe und Almosensammlung.

Als „Fegefeuer der Eitelkeiten“ ist dieses Spektakel in die Geschichte von Florenz eingegangen. Initiator und Hauptakteur war ein Mönch, Girolamo Savonarola (1452–1498), Prior des Dominikanerklosters San Marco und seit 1495 eine Art spiritueller Anführer der Republik. Während seiner kurzen Herrschaft avancierte er zum Prototypen eines Diktators der Moral, dem später Reformatoren wie Johannes Calvin und Revolutionäre wie Maximilien Robespierre folgen sollten. 

Die Zeitläufte hatten dem in Ferrara geborenen Sohn eines verarmten Geschäftsmanns in die Hände gespielt. Denn das sensible Gleichgewicht, das seit dem Frieden von Lodi 1454 zwischen den fünf größeren Staaten auf der italienischen Halbinsel – Florenz, Mailand, Venedig, Neapel und Kirchenstaat – geherrscht hatte, brach zusammen. Grund dafür war das Erstarken der großen Territorialstaaten jenseits der Alpen. 1494 beschloss Karl VIII. von Frankreich, die Schlagkraft seiner Panzerreiter, Schweizer Söldner und moderner Geschütze auf einer Expedition gegen Neapel zu demonstrieren.

Savonarola hatte sich da bereits einen Namen als charismatischer Prediger gemacht, dem zudem die Gabe der Prophetie gegeben war, hatte er doch den Tod von Papst Innozenz VIII. 1492 ziemlich genau vorhersagen können. Dazu passte auch die lautstarke Kritik, mit der der Dominikaner den aktuellen Zustand der Papstkirche geißelte, die sich in höchst weltlichen Macht- und Lustspielen verlor. Zu deren Symbolen sollten der neue Pontifex und sein Sohn avancieren: Alexander VI. und Cesare Borgia. 

Zur gleichen Zeit wurde Florenz von einer Krise erschüttert. Ebenfalls 1492 war Lorenzo di Medici gestorben. Ihm folgte sein Sohn Piero nach, dem aber im Gegensatz zu seinem Vater die Rolle des informellen Stadtoberhaupts nicht lag. Piero protegierte offen seine Partner, war also Partei, wo behutsamer Ausgleich gefordert war. In dieser Situation fanden Savonarolas Predigten ein immer größer werdendes Publikum.

Welt und Kirche seien verderbt, statt der Bibel nähmen sich die Priester Bücher der heidnischen Antike zum Vorbild: „Während in der ursprünglichen Kirche die Kelche von Holz und Priester von Gold waren, hat die Kirche heute Kelche von Gold und Priester von Holz.“ Gleiches gelte für die weltliche Herrschaft, deren Paläste zu Schlupfwinkeln für Schurken und Verbrecher geworden seien, die nur an „neue Steuern“ dächten, „mit denen sie das Blut des Volkes aussagen können“. 

Doch Savonarola sah auch die Rettung: Ein „Schwert des Herrn“ werde kommen und der Unterdrückung ein Ende machen. „Und du, Volk von Florenz, wirst ... die Erneuerung in ganz Italien einleiten ... und allen Völkern die Erneuerung bringen.“ Das verfing in einem Publikum, das durch Pest, Kleine Eiszeit und den Verfall traditioneller Ordnungen auf Erlösung hoffte.

Einzug Karls VIII. in Florenz/ Bezzuoli Karl VIII., Koenig von Frankreich (1483-98), Amboise 30.6.1470 - ebd. 7.4.1498. - "Einzug Karls VIII. in Florenz". - (Kriegszug Karls VIII. nach Italien 1494). Gemaelde von Giuseppe Bezzuoli (1784 - 1855). (Ausschnitt.) Florenz, Galleria d'Arte Moderna. 
1494 zog Karl VIII. von Frankreich in Florenz ein

Als Karl VIII. mit seinem Söldnerheer vor den Toren stand, sahen die Florentiner die Prophezeiung als erfüllt an und unterwarfen sich endgültig der Führung des Mönchs. Piero di Medici taktierte falsch und musste fliehen, seine Standesgenossen kapitulierten. Aus der Oligarchie der Aristokraten wurde eine Republik, zu deren „Großem Rat“ auch einfache Leute Zugang hatten. 

In den Monaten nach dem Umsturz war der Karneval 1496 zur Nebensache geworden, im Jahr darauf sollte er umso prachtvoller nachgeholt werden – allerdings auf Savonarolas Weise. Bereits im Vorfeld hatte sich der Dominikaner eine höchst eigentümliche Garde zugelegt: Kinder. In Gruppen patrouillierten Tausende durch die Stadt und kontrollierten die Erwachsenen, angefangen bei ihren Eltern. „Sie gingen ... überall hin, längs der Mauern, in die Tavernen, wo immer sie Ansammlungen bemerkten, und dies taten sie in jedem Viertel, und wer sich gegen sie aufgelehnt hätte, wäre in Lebensgefahr gewesen“, heißt es in einem Bericht. Wie sehr, sollte fünf Jahrhunderte später der Terror der Roten Garden in Maos Kulturrevolution beweisen.

Als der Karneval 1497 näher rückte, durchkämmte diese Kinderpolizei die Stadt. Spiele und weltliche Gesänge erstarben, unschickliche Kleidung verschwand und mit ihr Parfümduft und aufregende Frisuren. Und die Pyramide auf der Piazza della Signoria wuchs. Selbst ein Künstler wie Sandro Botticelli, der unter Lorenzo di Medici noch mit sinnesfreudigen Darstellungen antiker Mythen geglänzt hatte, soll Blätter ins Feuer geworfen haben. Auch seine Hinwendung zu religiösen Sujets wird dem Einfluss Savonarolas zugeschrieben.

Angeblich soll ein venezianischer Kaufmann die exorbitante Summe von 20.000 Dukaten für die aufgeschichteten Schätze geboten haben, was jedoch wütend abgewiesen wurde. Als Antwort auf sein Angebot fertigte man ein Portrait von ihm und setzte es auf einen Stuhl auf der Spitze des Scheiterhaufens. Der Venezianer wurde so zum Herrscher über die Eitelkeiten, musste sich diese Herrschaft allerdings teilen mit einer monströsen Figur, die den Karneval symbolisierte, schreibt der Savonarola-Biograf Ernst Piper („Prophet der Diktatur Gottes“). 

Doch weder der Exorzismus des Medici-Geistes noch die fanatischen Predigten Savonarolas konnten darüber hinwegtäuschen, dass sich seine Zukunft einzutrüben begann. Denn Karl VIII. hatte sich keineswegs als „Schwert Gottes“ erwiesen. Zwar war ihm die Eroberung Neapels gelungen. In den Spelunken und Bordellen hatten seine Soldaten aber mit einer aggressiven Variante der Syphilis Bekanntschaft gemacht, die kurz zuvor aus Amerika eingeschleppt worden war. Von der „französischen Krankheit“ gezeichnet, machte sich das Heer auf einen ruinösen Rückzug.

Damit aber verlor Savonarola seinen politischen Rückhalt, während mit Papst Alexander VI. der Adressat seiner kritischen Reden in die Offensive ging. Als dieser den Mönch exkommunizierte, verweigerte die Republik zwar die Auslieferung. Doch als der Dominikaner den Karneval 1498 mit einem weiteren „Fegefeuer“ erhellen wollte, fanden sich schon deutlich weniger Zuträger ein. 

Girolamo Savonarola's execution on the Piazza della Signoria in Florence in 1498, Early 17th cen.. Found in the Collection of Galleria Corsini, Firenze. (© Fine Art Images / Heritage-Images) 
Am 23. Mai 1498 wurde Savonarola auf der Piazza della Signoria erhängt und verbrannt

Als der Papst schließlich der Republik mit dem Interdikt das Verbot kirchlicher Handlungen androhte, schlug die Stimmung um. Einer sogenannten „Feuerprobe“ konnte sich Savonarola noch entziehen. Doch damit war sein Charisma gebrochen. Ausgerechnet seine Kindergarden stellten sich an die Spitze der Menge, die sein Kloster stürmte. Nachdem er unter der Folter gestanden hatte, gar kein Prophet zu sein, wurde er am 23. Mai 1498 erst gehängt und dann verbrannt, auf der Piazza della Signoria, da, wo zuvor seine Scheiterhaufen der Eitelkeiten entflammt waren.

 

Nota. - Botticelli ist Savonarola treu geblieben. Seine Sujets haben sich seit dem Auftreten des Bußpredigers radikal geändert, wovon die Malweise selbst nicht unberührt bleiben konnte. Leider hat Botticelli Savonarola nicht so lange überlebt, dass sich das Bild geändert hätte, das die Welt von ihm hatte. Er hätte ein wirkliches Gegengewicht gegen Raffael werden können.

JE

Mittwoch, 24. Februar 2021

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.

aus Tagesspiegel.de, 19. 2. 2021                      Szenen aus dem Leben Kaiser Konstantins in einem Fenster im Kölner Dom.

Im Fluss der Geschichte
Juden leben seit der Antike auf dem Gebiet, das heute Deutschland heißt. Erstmals erwähnt werden sie in Köln, damals eine pulsierende Vielvölkerstadt. Ein Besuch am Rhein.
 
von

Das Wasser gurgelt und gluckst. Seit Vorzeiten wälzt es sich durch die Landschaft, gefühlt einen halben Kilometer breit. Jetzt, da es viel geschneit hat in den Alpen, wirkt der Rhein noch majestätischer als sonst. Der Strom, er ist Ursprung und Quelle aller Entwicklung, aller Geschichte und aller Geschichten hier in Köln. Am linken Ufer des Flusses, auf einem noch heute vorhandenen, hochwassersicheren Hügel an einem schon lange trockengefallenen Flussarm, legten die Römer einige Jahrzehnte vor Christi Geburt eine Siedlung an. Als Geburtsstadt der Aggripina, Gattin des Kaisers Claudius, wurde sie 50 n. Chr. zur Oppidum, zur Stadt erhoben. Sie hieß fortan CCAA (Colonia Claudia Ara Agrippinensium), aus dem sich einige sprachgeschichtliche Umschlingungen später das deutsche Wort „Köln“ entwickelte.

Roms Zivilisation reichte jahrhundertelang hierher. Für Forscher bietet das einen immensen Vorteil: Anders als bei den rechtsrheinischen germanischen Stämmen existieren zur Geschichte des römischen Flussufers Schriftzeugnisse. Nur deshalb wissen wir, dass in der CCAA Juden gelebt haben. Wenn 2021 „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ gefeiert werden, so ist das wahr und falsch zugleich. Falsch, weil es in der Antike natürlich kein „Deutschland“ gegeben hat. Falsch auch, weil die jüdische Geschichte der Region sicher nicht 321 begonnen hat. Wahr aber, weil aus dem Dunkel der Geschichte eine Quelle herausragt, die auf jenes Jahr datiert ist und die die Präsenz von Juden in der CCAA zweifelsfrei belegt.

Der Kaiser gestattet, dass Juden in den Stadtrat berufen werden dürfen

Kaiser Konstantin gestattet in einem Edikt von 321 die Berufung von Juden in den Stadtrat – und zwar im gesamten Imperium Romanum. Es ist der älteste bekannte Beweis für die Existenz von Juden nördlich der Alpen. Wo der Text erlassen wurde, ist unbekannt, aber gerichtet ist er an die Kölner Stadtvertreter (decurionibus Agrippiniensibus), die sich zuvor mit einer entsprechenden Anfrage an den Herrscher gewandt hatten. Wie mit so vielen historischen Schriftstücken, die nicht das rettende Zeitalter des Buchdrucks erreicht haben, ist auch dieses nicht im Original erhalten, sondern nur, weil es immer und immer wieder abgeschrieben wurde. Der oströmische Kaiser Theodosius hat alle Gesetze, die von seinen Vorgängern seit Konstantin erlassen worden waren, im „Codex Theodosianus“ sammeln lassen, der 438 publiziert wurde. Das erwähnte Edikt steht im 16. und letzten Teil dieses selbst nur fragmentarisch überlieferten Codex, und die einzige erhaltene Abschrift davon – sie entstand im 6. Jahrhundert – befindet sich in der Biblioteca Apostolica Vaticana, der Vatikanischen Bibliothek in Rom.

Was für eine Stadt war Köln im 4. Jahrhundert? Eine trubelige, so viel ist sicher. Rund 50 000 Menschen sollen zu dieser Zeit dort gelebt haben, doch tatsächlich dürften sich viel mehr in den Straßen aufgehalten haben, es war wohl ein ständiges Kommen und Gehen. Der Hafen brachte Besucher, Händler, Legionäre und Veteranen. In Köln waren zwar direkt keine Garnisonen stationiert wie in Bonn, Neuss, Xanten oder Nimwegen, doch die Verwaltungszentrale der Provinz Germania inferior befand sich hier. Die Pax Romana war lange vorbei, die Grenze ständiger Bedrohung ausgesetzt. Konstantin selbst sah Rom nicht mehr als den Mittelpunkt des Reiches an und sollte nur neun Jahre nach dem Edikt von 321, im Jahr 330, seine prachtvolle neue Hauptstadt Konstantinopel eröffnen.

Juden waren in der Antike viel freier bei der Berufsausübung

Wie und auf welchen Wegen Juden ins Rheinland kamen, wissen wir nicht. „Es liegt nahe, dass es im Zuge von Truppenbewegungen geschah“, sagt Archäologe Thomas Otten. Er ist Direktor des noch zu eröffnenden Kölner Jüdischen Museums Miqua und hat sich viel mit den spärlichen Quellen befasst, die von jüdischem Leben nördlich der Alpen zeugen – und mit der Schwierigkeit, sie zu interpretieren. So kann im Grunde jedes alttestamentarische Motiv, das gefunden wird, jüdischen oder christlichen Ursprungs sein.

Vieles bleibt Spekulation, etwa der ganze Prozess der Auswanderung der Juden aus Judäa und der Beginn der Diaspora. „Das ist historisch unheimlich schwer zu fassen“, erklärt Otten. Begann es schon mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 oder erst mit dem Bar-Kochba-Aufstand der 130er Jahre? Was wir jedoch mit einiger Sicherheit sagen können: Die Juden, die damals am Rhein lebten, müssen vergleichsweise vermögend gewesen sein. Mit der Berufung in den Stadtrat waren Pflichten und Abgaben verbunden. Der Althistoriker Werner Eck, der die Buchreihe „Geschichte der Stadt Köln“ herausgibt und den ersten Band dazu verfasst hat, vermutet, dass sie Einkünfte aus Landwirtschaft bezogen. Und hier wird es interessant: Denn das berühmte Verbot, einem zunftgebundenen Gewerbe nachzugehen – weshalb viele Juden auf die Zinswirtschaft auswichen – ist kanonisches, also kirchliches Recht. Und damit viel späteren Datums. Im antiken Köln, und damit mutmaßlich auch an anderen Orten des Reiches, scheinen Juden relativ freie, gleichberechtigte Einwohner gewesen zu sein – ein Strang von unzähligen in der bunten Vielvölkerstadt Köln.

Thomas Otten setzt sich den Bauhelm auf. Es geht hinab in den Untergrund. Vor dem Kölner Rathaus, an der Straße Obenmarspforten (die heute noch darauf verweist, dass sich hier in der antiken Stadt das „Tor des Mars“ befunden hat), liegt eine der interessantesten Ausgrabungsstätten in einer deutschen Innenstadt. Seit 2009 wird das mittelalterliche Judenviertel freigelegt, das um das Jahr 1000 entstand – also in deutlich nachantiker Zeit, aber auf teilweise römischen Grundmauern. 2024 soll hier das Museum Miqua (es hat leider einen sehr komplizierten Namen, offiziell heißt es „Miqua. LVR-Jüdisches Museum im Archäologischen Quartier Köln“, wobei LVR für Landschaftsverband Rheinland steht) eröffnen, an authentischem Ort. Staub hängt in der Luft, Arbeiter zerkleinern mit einem Presslufthammer letzte Reste eines Betonpfeilers aus den 50er Jahren. Die zentralen Bauteile des künftigen Museums, die Synagoge und die Mikwe – ein Ritualbad, das auch heute noch, wie es der Ritus vorschreibt, mit frischem Grundwasser gefüllt ist – sind schon freigelegt.

Wir blicken auf einen Abwasserkanal aus römischer Zeit, der zum Rhein führt, und in die Keller mittelalterlicher Wohnhäuser. Da steht der Ofen einer Bäckerei aus dem 19. Jahrhundert: 2000 Jahre Stadtgeschichte überlagern sich auf engstem Ort. „Christen und Juden lebten hier quasi Mauer an Mauer“, erklärt Thomas Otten. Dieses Viertel, so viel wird deutlich, war nie ein Getto. Gettos kennt das Mittelalter nicht, sie entstehen erst in der Renaissance. „Das Zusammenleben in diesem Quartier kann man sich eher wie in Chinatown vorstellen“, so Otten. Juden bildeten die Mehrheit, waren aber längst nicht unter sich. Vertrautheit, aber auch Konkurrenzdenken, Feindschaft bis hin zu Ritualmordlegenden – alles existierte nebeneinander. Bis es 1424 auseinanderflog. Nach mehreren Pogromen wurden die Juden „auf alle Ewigkeit“ aus der Stadt verbannt. Wir wissen heute, dass das nicht das Ende war, dass die Geschichte jüdischen Lebens in Köln und in ganz Deutschland weiterging. Erzählen wird sie auch eine Wanderausstellung des Miqua, die am 2. März in der Alten Synagoge in Essen eröffnet wird.

 

Nota. -  Im kaiserlichen Rom hatte sich die Staatsreligion der Republik in einem bunten Mischmasch aus allerlei vor allem vorderasiatischen Kulten aufgelöst. Namentlich auch der jüdische Glaube sei zeitweilig sehr in Mode gewesen. Da wird es viele Juden gegeben haben, die nicht von einer jüdischen Mutter geboren waren. (Es gab von Nordafrika bis in den Kau-kasus ganze Staatswesen, die dem mosaischen Gesetz huldigten.) Während es heute mehr ethnische als religiöse Juden gibt, dürfte es in der Spätantike umgekehrt gewesen sein. 

Wenn als wirklich die jüdischen Gemeinden am Rhein hauptsächlich aus Zuwanderern aus Rom entstanden sind, sollte der Anteil der aus Palästina Stammenden geringer gewesen sein als anderswo. Die Sorge um die Reinerhaltung der Gemeinde und die Wahrung der ethnisch-religiösen Einheit - und also die Ablehnung des Proselytismus - scheint erst später die Ober-hand gewonnen zu haben. Es ist denkbar, dass sie weniger von innen kam, als von außen von den nunmehr christlichen Obrigkeiten als Bedingung für die Duldung der Juden oktroyiert wurde; oder?

JE

 

Dienstag, 23. Februar 2021

Besiedlungsgeschichte Ostasiens.

 

aus derStandard.at, 23. 2. 2021                                                                                          Jurte im Norden der Mongolei. Die Gegend in Zentralasien dürfte beim kulturellen Austausch zwischen dem Osten und dem Westen Eurasiens eine zentrale Rolle gespielt haben.

Genanalysen enthüllen die Besiedlungsgeschichte Ostasiens
Aktuelle Untersuchung zeigt, dass der Austausch zwischen Westen und Osten lange über die heutige Mongolei lief.
 
Als der moderne Mensch vor rund 100.000 Jahren Afrika verließ, dürfte die treibende Kraft hinter seiner Wanderlust eine Kombination aus klimatischen Veränderungen in seinen ursprünglichen Heimatregionen und der Entwicklung neuer Waffentechnologien gewesen sein. Welche Wege Homo sapiens damals in Richtung nach Asien bis in den fernen Osten und letztlich nach Australien beschritt, lässt sich heute vor allem anhand genetischer Untersuchungen nachzeichnen: Neuen Erkenntnissen eines internationalen Forschungsteams mit österreichischer Beteiligung zufolge fand die Besiedelung entlang der Küste Südostasiens in Richtung China, Japan sowie den äußersten Osten Russlands statt.

Anhand alter DNA fand ein Forscherteam spätere Hinweise auf eine Verbreitung dieser Menschen über mehrere Routen im Landesinneren. Danach wurde sich die Bevölkerung in der Region genetisch immer ähnlicher, berichten die Forscher im Fachjournal "Nature".

Unklare Besiedlungsgeschichte

Aktuell lebt in etwa jeder fünfte Erdenbürger in Ostasien, das vor allem das heutige China, die Mongolei, die Koreanische Halbinsel, den Osten Russlands oder die Japanischen Inseln umfasst. Bis heute zeichnet sich die Region durch eine Unzahl gesprochener Sprachen und ihre lange Geschichte des Ackerbaus und der Viehzucht aus. Trotzdem sei über die Besiedlungsgeschichte der Großregion noch wenig bekannt, so die Genetiker, Archäologen und Sprachwissenschafter, die bei der Untersuchung zusammen gearbeitet haben.

"Die Genomgeschichte Ostasiens ist derzeit noch nicht so gut untersucht wie jene Europas. Unsere Studie ändert das nun: Wir haben eine große Menge uralter ostasiatischer Genome untersucht und die Ergebnisse mit entsprechenden archäologischen Daten und Sprachdaten abgeglichen", so einer Hauptautoren der Studie, Ron Pinhasi vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien.

Modernes und uraltes Erbgut

Insgesamt konnte das weitverzweigte Forschungsteam um David Reich von der Harvard Medical School (USA) erhaltene DNA von 166 Menschen vergleichen, die in den vergangenen rund 8.000 Jahren lebten. Diese Informationen setzten sie dann mit dem Erbgut von aktuell in der Region lebenden Menschen in Bezug.

Demnach passen die Erbgut-Spuren recht gut zu einer Theorie, wonach Jäger-Sammler-Gesellschaften und erste sesshaftere Gruppen in derart weit entfernten Gebieten wie den Japanischen Inseln bis ins Hochland von Tibet, auf Menschen zurückzuführen sind, die einst eine frühe Wanderung entlang der Küste in die Großregion führte. Diese Gruppe dürfte sich jedoch sehr früh aufgespalten haben.

Zunehmende Vermischung

Als dann mit der Zeit komplexere Gesellschaften in dem Raum entstanden, gingen genetische Unterschiede verloren, heißt es. In der Jungsteinzeit und dann in der Bronze- und Eisenzeit vermischten sich demnach die Gruppen zunehmend. Diese Entwicklung sei auch heute noch nachvollziehbar, da sich die Menschen in der Region genetisch relativ ähnlich seien.

Eine zentrale Rolle im überregionalen Kontakt dürfte das Gebiet der heutigen Mongolei gespielt haben, wo es zum kulturellen Austausch zwischen dem Osten und dem Westen Eurasiens gekommen ist. So lasse sich etwa zeigen, dass Vertreter der aus den Steppengebieten Zentralasiens stammenden Jamnaja-Kultur in etwa in der Zeit um 3.000 vor unserer Zeitrechnung die Milchwirtschaft in den Osten brachten.

Wurzeln der indoeuropäischen Sprachfamilie

Der Einfluss dieser einst dort eingewanderten Gruppe verschwand dann aber wieder nahezu vollständig aus dem Gebiet der Mongolei und weiter östlich, wogegen er sich in Europa und deutlich weniger stark im Nordwesten Chinas weiter erhielt. Das deckt sich auch mit sprach-wissenschaftlichen Erkenntnissen, denn die Jamnaja-Kultur gilt als Begründer der indogerma-nischen Sprachfamilie, zu der fast alle heute in Europa gesprochenen Sprachen zählen. (red, APA,)

JE 

Sonntag, 21. Februar 2021

Vor tausend Jahren verschwand der Kalif El Hakim.


aus Tagesspiegel.de, 20. 2. 2021                                  der fatimidische Kalif El-Hakim

Der verschwundene Kalif 
1021, vom Kalifen Al Hakim bleibt nur ein blutiges Hemd. Sein Ende ist bis heute mysteriös. Eine der Spuren in dem historischen Fall führt auf die Museumsinsel. 

von

In der Nacht zum 13. Februar brach er auf. Wie so oft hatte er seinen Lieblingsesel gesattelt, wohl wegen des hellen Fells hieß das Tier Mond. Sein Ziel war Muqattam, ein Höhenzug südöstlich von Kairo. Ein Mann seines Ranges war normalerweise mit großem Gefolge unterwegs, doch nur zwei Reitknechte begleiteten ihn. Es war das letzte Mal, dass al Hakim bl-amr Allah gesehen wurde. Der Kalif von Kairo, 16. Imam der schiitischen Ismailiten, blieb auf ewig verschwunden.

Es gab Anhänger, die wollten sich damit nicht abfinden. Die damals junge Religionsgemein-schaft der Drusen zum Beispiel. Bis heute warten sie auf Hakims Rückkehr. Was sehr unwahrscheinlich ist, denn der Vorfall ereignete sich 1021, vor exakt 1000 Jahren also. Doch nicht zuletzt der mysteriöse Abgang machte Hakim zu einer mythischen Gestalt an der Grenze zum Märchenhaften.

Die Leute hielten ihn für sonderbar

Der Titel Kalif entspricht etwa dem eines abendländischen Kaisers. Hakim herrschte über ein Imperium, das vom heutigen Irak bis Tunesien reichte, eingeschlossen den Süden Italiens. Allein schon, dass einer wie er regelmäßig des Nachts die Einsamkeit der Berge suchte, ist äußerst ungewöhnlich. Dazu noch seine Erscheinung. Der 35-Jährige trug das Haar schulterlang, begnügte sich mit schmuckloser weißer Kleidung und bevorzugte seinen Esel. Es gab eine Menge Leute, die hielten ihn für sonderbar.

1000 Jahre später auf der Berliner Museumsinsel. Auch der weitläufige Bau des Pergamon-museums beherbergt manches Wunder. Eines davon: Von Babylon nach Kairo sind es nur wenige Meter. Zwei Treppen führen gleich hinter dem IschtarTor, das einst am Euphrat stand, hinter einer Nebentür nach oben, zum Licht. Es fällt winterfahl durch die großen Dachfenster auf einen zehn Meter breiten Fries, ein getreues Abbild, das sich hier seit gut 100 Jahren befindet. Das Original schmückt ein Minarett der 1000 Jahre alten Hakim-Moschee in Kairo.

Die Tür zum Depot

Unten, zwischen den blauen Ziegeln des rekonstruierten Ischtar-Tores, drängeln sich sonst die Besucher. Jetzt ist das Haus wegen Pandemie geschlossen, ein Wächter langweilt sich allein auf seinem Schemel. Oben aber ist es immer einsam. Dort befindet sich das Depot I für Stuck und Stein des Museums für islamische Kunst, Zugang nur mit Genehmigung.

Der gewaltige Kairoer Fries ist in mehrere Teile zerbrochen. Der Schaden entstand bereits, als er 1910 zur Ausstellung „Meisterwerke Muhammedanischer Kunst“ in München reiste. Nun hängt er hier, teilweise verborgen hinter weißen Tüchern. Das passt gut, denn auch das Original verschwand vor beinahe 1000 Jahren hinter einer Blende aus Ziegeln.

Die Kairoer Moschee ist eines der wenigen erhaltenen baulichen Zeugnisse aus den Zeiten Hakims, wie Martina Müller-Wiener erklärt. Die stellvertretende Direktorin des Museums für islamische Kunst ist so etwas wie die Hausherrin des Depots. Die Inschrift auf dem Fries feiert das göttliche Licht als Weg zur Erkenntnis, zitiert für Schiiten bedeutsame Koranverse. Was ein erster Hinweis ist, auf die Konflikte in der Welt des Hakim.

Hakim beschäftigte wie kaum ein anderer Kalif die Phantasie der Nachwelt, ging unter seinem Namen auch in die Geschichten aus 1001 Nacht ein – es ist die 388. Nacht, in der er einen Kaufmann, der ihn als unerwarteten Gast bewirtet, reich beschenkt. Doch der großzügige Gönner ist nur eine Seite des Kalifen.

Drusen warten auf seine Wiederkehr

In der Überlieferung erscheint er wahlweise als eine Art früher Hippie, der gern und reichlich Almosen unters Volk streut. Andere sehen in ihm das Vorbild für spätere Fundamentalisten, der keinerlei Ausschweifung duldet, Alkohol ächtet, Frauen aus der Öffentlichkeit verbannt und christliche Kirchen niederbrennen lässt. Oder er ist die letzte physische Inkarnation Gottes, dessen Wiederkehr zumindest von den Drusen erwartet wird, wenn das Paradies nahe ist.

Für viele Muslime war das Ketzerei. Die Tatsache, dass sich der Kalif nicht eindeutig davon distanzierte, werteten bereits zeitnahe Chronisten als Zeichen des Wahnsinns. Nicht zu leugnen ist, dass Hakim ein Herrscher war, unter dem man ungern einen leitenden Posten hätte antreten wollen. Von den 14 ranghöchsten Beamten, den Wesiren, die er in seiner 25-jährigen Herrschaft beschäftigte, starb nur einer eines natürlichen Todes.

Der Unbarmherzige

Wie aber sind all diese Gegensätze zu erklären – hier der großzügige Gönner, da der bescheidene Asket und dort der unbarmherzige Herrscher, der so oft den Henker das Schwert schwingen lässt. Martina Müller-Wiener, selbst in Kairo aufgewachsen, zögert. Sie sei Kunsthistorikerin, keine Islamwissenschaftlerin. Zudem verfolgten die alten Chronisten ihre eigenen propagandistischen Ziele.

Mit aller Vorsicht wagt sie dennoch einen Vergleich, der manches erklären könnte. Kalif Hakim war den Einflüsterungen unterschiedlichster Berater ausgesetzt, die häufig ausgetauscht wurden. Ebenso häufig änderte er seinen Kurs. Das erinnert an den erratisch anmutenden Politikstil Donald Trumps.

Als Kind auf dem Thron

Der Islamwissenschaftler Heinz Halm, Autor eines Standardwerks über die Fatimiden, hat sich der Mühe unterzogen, Ursachen für das Handeln Hakims zu finden, der schon als elfjähriges Kind auf den Thron gelangte. Die Fatimiden führten sich auf die Nachfolge von Mohammeds Tochter Fatima und seines Schwiegersohns Ali zurück, gehörten damit im Gegensatz zu den Sunniten den Schiiten an, die sich ihrerseits in drei Zweige aufspalteten. Einer davon waren die Ismailiten, denen Hakim angehörte.

Kairo bestand bei Hakims Machtantritt noch keine 100 Jahre und auch das Fatimidenreich war nicht viel älter. Es war als Palaststadt neben dem alten Fustat mit seinen verwinkelten Gassen entstanden. Die Ausgangslage für Hakim war schwierig. Er stand zwischen konkurrierenden Glaubensrichtungen, sein Kalifat war keineswegs unangefochten, denn es gab neben ihm die Kalifen im spanischen Cordoba, das damals islamisch war, und in Bagdad, der bis dahin wichtigsten Stadt der islamischen Welt. Zudem führte ein Vormund für ihn die Geschäfte.

Den Vormund ersticht er eigenhändig

Über den jungen Hakim wird erzählt, dass er eine Art Partyprinz war, der gern durch die Gassen Fustats streifte, in Verkleidung an den Festen auch der Christen teilnahm, die damals noch die größte Bevölkerungsgruppe im alten Ägypten stellten. Hakims Mutter war eine griechisch-christliche Konkubine seines Vaters, des alten Kalifen.

Vielleicht unterschätzten alle den jungen Prinzen. Der aber entledigte sich mit gerade 15 Jahren seines Vormunds. „Den kleinen Gecko“ soll der ihn genannt haben. Überliefert ist, dass Hakim ihn mit den Worten „der Gecko ist ein Drachen geworden“ hat rufen lassen, um ihn eigenhändig zu erstechen.

Die frühe Phase seiner Herrschaft spiegelt so etwas wie Freude über die gewonnene Freiheit. Der junge Kalif galt als gesellig. Die vormals dunklen Straßen der Altstadt Fustat ließ er beleuchten und schmücken.

 
Die Al Hakim-Moschee in Kairo. Abgüsse von den Inschriften am Minarett befinden sich im Depot auf der Berliner Museumsinsel.

Ägypten, insbesondere Kairo und das benachbarte Fustat war in jener Zeit ein Schmelztiegel. Christen, Juden, Sunniten, Schiiten lebten nebeneinander, im Reich konkurrierten die Interessen der zunehmend urbanisierten Stadtbevölkerung und umherstreifender Nomaden.

Hakims Verdienst war es, das Reich zusammenzuhalten, gar auszudehnen. Er wurde der Hüter der heiligen muslimischen Stätten in Mekka und Medina. Er lief den Konkurrenten in Cordoba und Bagdad den Rang ab, er stiftete ein Haus der Weisheit, es sollte neben dem in Bagdad für Jahrzehnte die bedeutendste Bibliothek der islamischen Welt werden.

Schluss mit Party

Doch schon bald war Schluss mit Party. Hakim erließ ein Verbot der Herstellung und des Verkaufs alkoholischer Getränke. Er verfügte Ausgehverbote für Frauen und die Kennzeichnung Andersgläubiger. Schließlich ordnete er die Zerstörung christlicher Kirchen an, unter ihnen die als besonderes Heiligtum geltende Grabeskirche in Jerusalem, und die Beschlagnahme ihrer Güter.

Der Islamwissenschaftler Heinz Halm geht davon aus, dass keine dieser Maßnahmen nachhaltig war. Die Tatsache, dass das Alkoholverbot immer wieder erneuert werden musste, ist für ihn ein Indiz, dass es einfach nicht befolgt wurde. Das Ausgehverbot für Frauen kannte schon bald derart viele Ausnahmen, dass er auch in diesem Fall eher von einem formalen Beschluss ausgeht. Und weder die Kennzeichenpflicht Andersgläubiger, die schon bald aufgehoben wurde, noch die Zerstörung christlicher Kirchen ist für ihn ein Beleg einer dezidiert antichristlichen Haltung.

Permanente Geldnot

Die Beschlagnahme christlicher Güter führt Halm vielmehr auf permanente Geldnot zurück, auch christliche Herrscher späterer Jahrhunderte schauten mitunter begehrlich auf kirchlichen Besitz. Und unter den engsten und einflussreichsten Beamten Hakims waren immer wieder Christen.

Bei Halm liest es sich deshalb auch so, als sei Hakim ein Getriebener gewesen, der immer wieder an seine Pflichten als Schiitischer Imam erinnert wurde. Das führte zu dem Versuch, den strengen Gesetzen der Scharia Geltung zu verschaffen. Doch kaum hatte er die Schiiten besänftigt, ging es ihm um einen Ausgleich mit den Sunniten, der dann wieder die Gegenseite auf die Barrikaden brachte.

Seinen Hang zur Askese wiederum, der sich immer stärker bemerkbar machte, mochte mit der Korruption unter seinen höheren Beamten zu tun haben, die er misstrauisch beäugte und gnadenlos bestrafte. Nicht zuletzt deshalb war er vermutlich bei der einfachen Bevölkerung, deren Nähe er immer wieder suchte, beliebter als bei Hofe.

Den Esel finden sie zuerst

Die Schar seiner Gegner dürfte demzufolge groß gewesen sein. Die Neigung, sich trotzdem ohne Begleitmannschaft in die Einsamkeit außerhalb der Stadt zurückzuziehen, entsprechend riskant.

Zunächst vermuteten die Suchmannschaften den Kalifen in einem christlichen Kloster, dort hatte er sich gern und oft aufgehalten, vielleicht, weil er sich sicher fühlte. Erst sechs Tage nach seinem Verschwinden entdeckten sie den Esel Mond, die Vorderläufe von Schwertwunden gezeichnet. Von Hakim fand man schließlich nur sein blutiges Hemd in einem Teich, seltsamerweise war es zugeknöpft. Natürlich gab es viele Spekulationen über Tat und Täter. Zu den Hauptverdächtigen zählten räuberische Beduinen. Ebenso hartnäckig hielt sich die Vermutung, Hakims Schwester könnte die Drahtzieherin gewesen sein. Sie übernahm für zwei Jahre die Geschäfte, bis zu ihrem Tod.

Die Bibliothek wird geplündert

In der Folge tauchten immer wieder vermeintliche Hakims auf, der echte war wohl nie dabei. Gut 50 Jahre nach Hakims Verschwinden endete die Herrschaft der Fatimiden in Kairo. Das Haus der Weisheit wurde geplündert, die Bibliothek verstreut. Die Ismailiten gibt es immer noch, sie zählen etwa 20 Millionen Menschen und sind über die ganze Welt verstreut. Oberhaupt und damit ein Nachfolger Hakims ist Karim Aga Khan IV, der in jüngeren Jahren die Aufmerksamkeit der Klatschpresse auf sich zog. Der Milliardär lebt bei Genf, er ist mit einer deutschen Prinzessin verheiratet.

Unten in den Ausstellungsräumen des Museums für Islamische Kunst führt Martina Müller-Wiener zu einer feingearbeiteten Elfenbeinschnitzerei aus fatimidischer Zeit. Aus jener Epoche ist sie das Prunkstück hier, sie zeigt Jagdszenen, Musikanten und Weintrinker, ist Teil eines höfischen Zyklus. Interessant daran sei, so sagt sie, dass der Puritanismus jener Zeit einhergeht mit einer enorm entwickelten Kunstproduktion. Und vielleicht zeigt die Kunst ja auch, was die Menschen damals wirklich schätzten.

 

 

Samstag, 20. Februar 2021

Pöbel sagt man nicht.

Rostock-Lichtenhagen
aus nzz.ch, 20.02.2021

Bürger und Pöbler – der Polit-Hooligan der Gegenwart hat zwei GesichterOb Capitol-Erstürmung, Gelbwesten-Protest oder Anti-Corona-Militanz – der Wutmensch ist der politische Phänotyp der Stunde. Blickt man in seine Seele, so stösst man auf nichts: auf kein Anliegen, keine Idee; allenfalls auf Ressentiments. Woher kommt er, und was treibt ihn um?

von Manfred Schneider
 
Ein neuer Prototyp hat die politische Arena betreten: der Polit-Hooligan. Die Globalisierung macht es möglich, dass er auf allen Kontinenten erscheint: in Australien, Südamerika, Asien, den USA und Europa. Seinen spektakulärsten Auftritt lieferte er am 6. Januar dieses Jahres in Washington, als er in Gestalt eines Mobs aus mehreren tausend leeren Köpfen und doppelt so vielen Fäusten das Capitol stürmte und im Innern der Kammern, Flure und Büros zahlreiche Schäden anrichtete, Polizei und Sicherheitskräfte angriff und eine Person tödlich verletzte.

Blickt man in die Seele des Polit-Hooligans, so stösst man dort auf nichts: auf kein Anliegen, keine Idee; allenfalls findet man Ressentiments. Das Ressentiment teilt der Polit-Hooligan einerseits mit dem Urbild seines Rabaukentums, dem Fussball-Hooligan, der seine besten Jahre allerdings bereits hinter sich hat. Andererseits unterscheidet er sich fundamental von Bürgern, die in diktatorisch regierten Ländern trotz amtlichen Verboten protestieren und dafür von den Machthabern als «Hooligans» und «Staatsfeinde» beschimpft und verprügelt werden. Die Frauen und Männer, die in Moskau und anderen Städten Russlands gegen die Vergiftung und die Verurteilung Alexei Nawalnys protestierten, oder diejenigen, die sich in Hongkong gegen die Aushöhlung des Rechts durch die Regierung in Peking empörten, sind keine Rowdy-Hooligans, sondern bewundernswerte, mutige Bürger, die für Menschenrechte, Demokratie und rechtsstaatliche Ordnung ihre Haut zu Markte tragen.

Bedroht von übler Stimmung

Der Polit-Hooligan, der in Washington, Berlin, Wien, Amsterdam, Florenz, Paris, London, Prag und anderen Städten auftritt, gibt seinen Ressentiments und seiner Wut wechselnde Namen. Er kann «Ausländer raus!», «Make America great again», «Maske weg», «Freiheit», «Corona-Lüge», «Résistance», «Menschenwürde» ebenso gedankenlos rufen wie die Namen seiner Fussballvorbilder, «Ajax», «Schalke 04» oder «Arsenal». Er benötigt nur eine positiv oder negativ besetzte Parole, um seiner Wut, seiner Stimme und seiner Faust zu tun zu geben. Aber ebenso wie sich der Fussball-Hooligan nicht primär für den Fussballmatch interessiert, der ihn und seine Genossen mobilisiert, so interessiert sich auch der Polit-Hooligan nicht für die allgemeinen Rechte oder Freiheiten, die er auf seine Plakate schreibt. Er ist nicht bedroht von Verboten oder Einschränkungen, sondern von seiner üblen Stimmung.

Der Polit-Hooligan unserer Tage hat sein Mobiltelefon zur Hand, während er eine Tür eintritt oder einem Beamten auf den Kopf schlägt.

Es spricht allerlei dafür, in der Politik alte Unterscheidungen aufzugeben, nicht mehr von Völkern, Geschlechtern, Nationen oder Klassen zu sprechen, sondern vielmehr von Bürgern und Pöbel. Diese Unterscheidung nimmt einen sehr traditionellen Gegensatz wieder auf, den die Antike pflegte, nämlich den zwischen Griechen oder Römern auf der einen und Barbaren auf der anderen Seite. Ursprünglich nannten die Griechen alle Menschen Barbaren, die eine für sie unverständliche Sprache sprachen. Sehr bald aber regelten die beiden Namen die Unterscheidung zwischen Zivilisation und ihrem Gegenteil.

Dies war eine sehr grobe Aufteilung, aber sie hat im Laufe der Geschichte zahlreiche Wiederaufnahmen erlebt. Franzosen, Deutsche, Engländer sahen sich selbst als Wiedergänger der edlen Griechen, hingegen Nachbarn, Feinde oder Fremde als Barbaren. Aber zugleich hat die neuzeitliche Kulturkritik den Barbaren auch positiv als Überwinder der ans Ende gelangten Zivilisation gefeiert: Wie angeblich einst die Germanen die römische Dekadenz beendeten, so wollten moderne Barbaren, Sozialisten, Wandervögel, Maoisten, Punks und Skinheads, die saturierte bürgerliche Welt erneuern. So sind in der neueren Zeit immer wieder pöbelnde Gruppen mit dem Ruf aufgetreten «Wir sind die Barbaren». Nicht zuletzt war es Adolf Hitler, der solches 1933 deklarierte, um damit anzukündigen, dass die Nazis alle Errungenschaften der Zivilisation zertrümmern würden.

Das Wort «Pöbel» leitet sich auf Umwegen von dem lateinischen Wort «populus» ab, das ursprünglich wertneutral das «Volk» bezeichnete, aber nach und nach eine negative Bedeutungsnuance entwickelte. Trotzdem spricht immer noch das Recht im Namen des Volkes. Es wäre daher ein Beitrag zur sprachlichen Genauigkeit, wenn die rechten Polit-Hooligans, die sich mit der Legitimitätsparole der DDR-Bürgerrechtler von 1989 schmücken, sachgerecht riefen: «Wir sind der Pöbel!»

Der pöbelnde Polit-Hooligan ist damit nicht soziologisch bestimmt. Wie die Pöbelgenossen vor den Fussballarenen kommen die Polit-Hooligans aus allen sozialen Gruppen. Sie sind weibliche wie männliche Schüler, Studenten, Rentner, Ärzte, Ingenieure oder auch Soldaten. Sie sind Meuterer innerhalb der Zivilisation, die sie trägt.

Wenn man daher genau hinschaut, dann sind Bürger und Pöbel nicht durchweg zwei verschiedene Erscheinungen, sondern häufig ein und dieselbe Person. Vermutlich sitzt der Pöbel in jedem von uns. Den Unterschied macht derjenige, der ihn von der Kette lässt. Bereits Friedrich Nietzsche hatte im Krieg 1870/71 beobachtet, dass Männer vornehmster Herkunft zu «losgelassenen Raubthieren» werden können. Zu Hause seien sie voller «Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft»; in der Fremde hingegen träten sie auf als «frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei».

Das Unbehagen in der Kultur

Der Barbar wie der Polit-Hooligan lassen sich 150 Jahre später aber nicht mehr philosophisch oder politisch adeln. Sie und ihre Vorbilder haben ihre historischen Auftritte gehabt, und jede Wiederholung ist nur noch widerwärtiger Mummenschanz. Dabei hat Nietzsche bereits früh begriffen, dass sich diese wild gewordenen Bürger im Krieg für die «lange Einschliessung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft» schadlos halten. Sigmund Freud hat weniger euphorisch als Nietzsche das «Unbehagen in der Kultur» diagnostiziert. Auch er sah, dass die moderne Zivilisation grosse Anforderungen an die Triebbeherrschung der Bürger stellt, aber ihn interessierte weniger die Katharsis der Befreiung im barbarischen Exzess als die neurotisierenden Effekte kultureller Anpassung.

Nietzsche hatte neben den Kriegsmännern von 1870 vor allem die Helden der Antike, die Männer und Halbgötter von Troja und Theben, vor Augen, als er in seiner «Genealogie der Moral» von den «losgelassenen Raubthieren» schrieb. Und was trieb sie dazu? Die Freiheit? Das Recht? Nietzsche fand auch bei diesen Männern kein anderes Motiv für ihre Exzesse als den Wunsch, dass anschliessend «die Dichter für lange nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben». Das war noch die medientechnische Frühzeit des Epos.

Zwei Jahrtausende später sind zunächst Film- und Fernsehkameras an die Stelle der epischen Sänger getreten. Auch der Fussball-Hooligan des vergangenen Jahrhunderts war vor allem daran interessiert, dass seine Steinwürfe und seine fliegenden Fäuste nicht einfach vergessen wurden. Gleich nach einem Vandalenzug durch die Innenstadt des feindlichen Fussballvereins eilte er in der Kneipe oder zu Hause an den Fernseher, um sich die «scheussliche Abfolge» seiner Auftritte noch einmal genussvoll anzuschauen. Der Polit-Hooligan unserer Tage ist viel besser gerüstet. Er hat sein Mobiltelefon zur Hand, während er eine Tür eintritt oder einem Beamten auf den Kopf schlägt.

Bildbesoffen, mit Janusgesicht

Was wir in letzter Zeit erlebten: Die Barbarei im Capitol am 6. Januar, der Vandalismus vor und im Berliner Bundestag, die Pöbelauftritte verschiedener Polit-Hooligans in einigen europäischen Städten sind jetzt für alle Zeit in den neuen Archiven der Social Media niedergelegt. Dort sind sie zuvor in die Schule des Pöbelns gegangen, dort ist ihr heiliger Gedächtnisort. Es spricht allerdings für die Torheit der Polit-Hooligans im Capitol, dass sie alle ihre brutalen Aktionen eigenhändig in Bildern und Filmen festhielten oder jauchzend der Welt als Live-Stream schenkten, um jetzt ihren Hooliganismus in Gefängniszellen auszuschwitzen. Sonst wussten sie im Capitol nicht, was sie machen sollten, und warteten sehnlich auf eine Anweisung ihres präsidentiellen Ober-Hooligans, was sie, ausser zu stören, zu zerstören und die Zerstörung zu filmen, noch tun sollten.

Während der Fussball-Hooligan für seine Auftritte eine gehörige Menge Bier benötigt, ist der neue Polit-Hooligan vor allem bildbesoffen. So findet man beim Blick in seine Seele neben dem Ressentiment, das sich von einem beliebigen Stichwort wecken lässt, die Begierde, sich selbst zu sehen. Er ist eine epische Gestalt wie der präsidentielle Hooligan, der sich auch nicht für Politik interessierte, sondern für sein bejubeltes Bild.

Man darf daher diese Auftritte der Polit-Hooligans nicht mit Politik verwechseln. Das Ressentiment kann Asylsuchende, Corona-Massnahmen, die Medien, den Kapitalismus, den Euro zum Weltübel und Wutentzünder erklären, tatsächlich pöbeln zumeist Eitelkeit und Unbehagen. Der Polit-Hooligan hat ein Janusgesicht. Er teilt sich wie sein Name in zwei Hälften: in denjenigen, den die Griechen den «politäs», nämlich den Bürger, nannten, und in den fäusteschwingenden Pöbler, der Politiker, Wissenschafter oder namenlose Feinde für seine trüben, gedankenlosen Zustände verantwortlich macht. Nietzsches heroische Raubtiere haben zumeist den Weg zurück in eine zivilisatorische Heimat gefunden. Beim neuen Prototyp, dem Polit-Hooligan, ist allerdings offen, ob das je gelingt.

Manfred Schneider ist emeritierter Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Aus seiner Feder stammt der Band «Der Barbar: Endzeitstimmung und Kulturrecycling» (1997).
 
 
Nota. - Schärfe des Begriffs zeichnet obigen Beitrag nicht grade aus. Das liegt aber nicht am Verfasser, sondern am Gegenstand, und den kann man sich dieser Tage leider nicht aussuchen, wenn man auf Tagespolitik zu sprechen kommt. Nein, Pöbel ist kein Begriff, und einen sol-chen verdient er ja gar nicht. Pöbel ist ein Schimpfwort, und es ist politisch nur korrekt, dass Manfred Schneider es nicht nur am Stammtisch sagt, sondern in der Neuen Zürcher endlich mal schreibt.
 
Schneider definiert nicht, sondern schimpft. Das kann ich ihm nachfühlen. Doch es bleibt uns nicht erspart: Schließlich werden wir doch wieder verstehen müssen. 
 
Das ist auch gar nicht so schwer. Seit dem Ende der Weltrevolution und des Kalten Kriegs - deren jämmerlicher Karikatur - ist die Scheidung der politischen Welt in zwei Lager unterge-gangen oder besser: zerflossen in ein pragmatisches Grabbeln nach der richtigen Losung für den nächsten Tag. Das war ja anderthalb Jahrhunderte lang anders gewesen: Der nächste Handgriff für den kommenden Tag wurde vorbestimmt vom Endziel in der Ferne, von Zu-kunftsstaat und der Gesellschaft der Freien und Gleichen auf der einen, und, sobald es ernster wurde, auf der andern Seite der Wiederherstellung der Ordnung, die Reaktion, die präventive Konterrevolution.Vernünftige Politik - vom Standpunkt der bestehenden Gesellschaftsord-nung - war immer ein Schlängeln zwischen Scylla und Charybdis; das, was nach allen Kuhhan-deln und Kompromissen übrigblieb: Je stärker die Flügel wurden, umso weniger Platz ließen die lärmenden und prügelnden Rotten dem wohlmeinenden Juste Milieu.
 
 
Nach dem Ende der Weltrevolution ist als vernünftige Option nur die bestehende Gesell-schaftsordnung übriggeblieben, nämlich in ihrer dynamisierten Gestalt als Digitale Revolution auf der einen und Globalisierung auf der andern Seite. Für Kontroversen über historische Ziele und Zwecke ist gar kein Platz, wenn überhaupt noch Meinungsunterscheide bleiben, dann betreffen sie wirklich nur den allernächsten Schritt, nämlich ob er dem von niemand angezweifelten Allgemeinen Zweck auch wirklich dient. Da wird nun gepöbelt und krakeelt, und die Randalierer können sich austoben. Doch sachlich ist es völlig Fehl am Platz. Wenn die Hooligans sich ausgegrenzt und außen vor gelassen fühlen, haben sie instinktmäßig ganz Recht. Keiner hört ihnen wirklich zu. Es wird immer wiedermal Glücksritter geben, die auf kleinen Flämmchen ihre kleinen Süppchen kochen, aber das Ressentiment weiß schon jetzt: Am Ende sind doch wieder nur sie die Gelackmeierten.
JE