Die fort-währende DäDäRr.


Auch die Ostler werden mit der Generation der Väter*innen abrechnen müssen.

Der Nischel in Chemnitz
aus nzz.ch, 26. 10. 2019

Wollen die Ossis an den Westen anschließen, müssen sie sich für die Welt öffnen
Die gegenwärtige Lage Ostdeutschlands ist paradox. Es geht den Ostdeutschen materiell so gut wie nie zuvor, und dennoch ist die Unzufriedenheit gross. Es zeigen sich gesellschaftspolitisch die Folgen einer Politik der Wohlstandssicherung, wo der ubiquitäre Primitivmarxismus ins Leere läuft.

von Mathias Brodkorb
 
Der Untergang der DDR kam mir vor wie eine Science-Fiction-Serie. Das lag an einer privilegierten Situation. Im Jahr 1977 in Rostock geboren, wanderte ich 1987 gemeinsam mit meinem Bruder zu meinem Vater nach Österreich aus. Wir verfolgten das Geschehen also bloss vom Fernseher aus und konnten es nicht fassen. Gebannt starrten wir jeden Tag nach der Schule stundenlang auf den Bildschirm und versuchten zu verstehen, was sich in der Heimat gerade abspielte. Es roch nach Freiheit. Die verschaffte sich für uns seit zwei Jahren vor allem in Unmengen an Haribo-Goldbären, Mamba-Kaubonbons und Tic Tac ihre kindliche Geltung.

Erst, als ich 1992 in meine Heimatstadt zurückkehrte, fielen mir die mentalitätsgeschichtlichen Parallelen zwischen Ostdeutschland und Österreich ins Auge. So, wie die Alpenrepublik mit dem Nazismus nichts zu tun gehabt haben wollte, hatte auch die DDR den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhoben. Es war das reinge- waschene Deutschland, während in der Bundesrepublik NSDAP-Altkader über Jahrzehnte hinweg in Spitzen- positionen aufrücken konnten. Um die Wiedervereinigung herum wollten die meisten Ostdeutschen nichts Besonderes, sondern wollten einfach nur Deutsche in einem freien Land sein und vor allem eines: dazugehören. Das änderte sich blitzschnell.


Die Gründe hierfür sind vielfältig: Über Nacht brach die zwar gehasste, aber gewohnte gesellschaftliche Ordnung zusammen. Der Konsumrausch der Ossis erzeugte dabei nicht nur im Westen eine Goldgräberstim- mung – immerhin konnten nun alle möglichen Güter zu überhöhten Preisen in die Zone verklappt werden –, sondern zog die einheimische Wirtschaft erst richtig in den Keller. Der Arbeitsmarkt kollabierte. In zahlreiche frei gewordene Schlüsselpositionen rückten westdeutsche Eliten auf. Unter ihnen fand sich auch ein erheblicher Teil der dritten Garde Westdeutschlands, aus der jenseits der Grenze nicht ohne Grund bisher nichts geworden war.

Und schliesslich wurde das einst volkseigene Vermögen privatisiert. Von diesem Ausverkauf der ostdeutschen Heimat profitierte vor allem Westdeutschlands Mittel- und Oberschicht. Denn wovon hätten sich die Ossis Mehrfamilienhäuser in städtischer Bestlage oder Betriebsanlagen leisten können? Dass diesem Vermögen auch gigantische Schulden gegenüberstanden, die gesamtdeutsch sozialisiert wurden, wird in der ostdeutschen Opferperspektive dabei gerne übersehen. 

Die neuen Nehmerländer

Erst in dieser Gemengelage wurde aus dem Ostdeutschen mit gesamtdeutscher Sehnsucht der «Ossi». Die 1990er Jahre waren voll von antiwestdeutschen Emotionen. Diese Antipathie war personifiziert und nahm bisweilen ethnokulturelle Züge an. Ein Teil dieser Stimmung entlud sich in regelmässig steigenden Wahlergebnissen der SED-Nachfolgepartei. Auch ich wurde für ein paar Jahre ihr Mitglied. Für die heranwachsende Generation gab es unter diesen Voraussetzungen nur zwei Möglichkeiten: Entweder man packte nach der Schule seine Klamotten und ging in den Westen. Oder man quälte sich durchs Abitur. Nicht, weil man studieren wollte, sondern, weil auch einfachste Ausbildungsberufe anders nicht zu haben waren. In meiner Abiturientengeneration standen nur für die Hälfte der Schulabsolventen Ausbildungsplätze zur Verfügung.

Ab dem Jahr 2000 entspannte sich die Lage. Nicht, weil sie deutlich besser geworden wäre. Aber man hatte sich an die neue Ordnung und ihre Regeln gewöhnt. Wer etwas werden wollte, ging in den Westen und kam meist auch nicht zurück. So war das eben. Dieser demografische Aderlass verstärkte eine Katastrophe, die sich bereits rund um die Wende abgespielt hatte. Die Zahl der Geburten brach seinerzeit innerhalb weniger Jahre auf bis zu ein Drittel ein und erholte sich davon nur mässig. So etwas hatte es in Europa nicht einmal zu Kriegszeiten gegeben. Während die Wirtschaft in einem Überangebot an gut qualifizierten Nachwuchskräften baden und so die Löhne niedrig halten konnte, verschärfte die dramatische Geburtenentwicklung in Kombination mit Abwanderungswellen die Situation für die öffentliche Hand.

Alle ostdeutschen Länder sind bis heute aufgrund zu geringer eigener Steuereinnahmen «Nehmerländer» im sogenannten Länderfinanzausgleich. Sie erhalten Zuschüsse vor allem anhand der Einwohnerzahl. Ausbleibende Geburten und die Abwanderung von Fachkräften führten folglich zu massiven Finanzverlusten. Als dann Anfang der 2000er Jahre infolge einer Wirtschaftskrise und der rot-grünen Steuerreform die öffentlichen Finanzen kollabierten, leiteten alle ostdeutschen Länder rund zehn Jahre nach der Wende eine zweite Phase der Transformation ein. Während in der ersten Phase durch Etablierung der Marktwirtschaft die gesamte Gesellschaft durcheinandergewirbelt wurde, schnitt nun der Staat nochmals brutal in seine Strukturen ein und passte sie an die neue Realität an. Allein in Mecklenburg-Vorpommern wurde innerhalb weniger Jahre ein Viertel aller Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen. 

«Prekariat» wählt AfD

Im dritten Jahrzehnt nach der Wende allerdings begann sich der Wind zu drehen und die demografische Situation vollständig umzukehren. Nunmehr schieden jährlich weit mehr Menschen aus dem Erwerbsleben aus, als Nachwuchskräfte nachrücken konnten. Heute ist die Zahl der Schulabgänger nicht mehr doppelt so hoch wie die Zahl der Lehrstellen. Es ist genau umgekehrt. Die Folgen davon werden Jahr für Jahr deutlich spürbarer. Es fehlt nicht an Unternehmen, nicht an Kapital – es fehlt an Arbeitskräften. Der in Europa allseits beklagte Fachkräftemangel erreicht im Osten Deutschlands und in Osteuropa aufgrund des Zusammenbruchs der Geburtenzahlen rund um das Jahr 1990 völlig andere Dimensionen.

Der jungen Generation stehen heute alle Türen offen. Wer sich anstrengt und zielstrebig ist, muss nicht mehr in den Westen gehen, sondern kann ebenso gut im Osten seinen Weg machen. Aber nicht alle können das. Ein erheblicher Teil ist in Familien gross geworden, die nach der Wende arbeitslos und gesellschaftlich depriviert waren. Zwar erhielt der Sozialstaat die Konsumströme aufrecht, aber vielen wurde mit ihrem Arbeitsplatz ihre Würde und Selbstachtung genommen. Und dies blieb auch für die Kinder dieser Familien nicht ohne Folgen. Man nennt sie heute das «Prekariat». Und viele von ihnen wählen die AfD.

Die Entwicklungen nach der Wende blieben mentalitätsgeschichtlich nicht ohne Folgen. Zwar gibt es sie noch immer, die Wessi-Witze, aber während sie in den 1990er Jahren von einer geradezu ethnokulturellen Verachtung Zeugnis ablegten, gehören sie heute eher zur Folklore. Die Ostidentität ist keine aggressive Anti-Wessi-Identität mehr. Das sieht man vor allem an den jüngeren Generationen. Wer nach der Wende geboren wurde, weiss ohnehin nicht mehr, wovon eigentlich die Rede ist. Eine repräsentative Umfrage der Otto-Brenner-Stiftung über die Nachwendegeneration belegt dies. Ob wirtschaftliche Lage, Lebensgefühl, politische Orientierung oder Zustimmung zur Demokratie – in allen wesentlichen Fragen sind sich die ost- und die westdeutsche Nachwendegeneration einig.

Wollen die Ostdeutschen weiterhin unter sich bleiben, wird dies nur um den Preis wirtschaftlicher Stagnation möglich sein. Strassenszene in Görlitz. (Bild: Sean Gallup / Getty)
Wollen die Ostdeutschen weiterhin unter sich bleiben, wird dies nur um den Preis wirtschaftlicher Stagnation möglich sein. Strassenszene in Görlitz.

Ostdeutsche Identität

Es gibt nur zwei wichtige Ausnahmen. Die Frage, ob es in der Wende gerecht zugegangen sei, beantwortet die ostdeutsche Nachwendegeneration auffallend häufiger mit einem Nein. Und ihre Identität ist deutlich häufiger «ostdeutsch» geprägt als die der Altersgenossen «westdeutsch». Überraschen kann das allerdings kaum, dürften sich hierin doch vor allem die Erfahrungen ihrer eigenen Eltern widerspiegeln. Dafür spricht, dass in ostdeutschen Elternhäusern Nachwendeerfahrungen deutlich häufiger thematisiert werden als in westdeutschen. Wer allerdings glaubt, dass der Ost-West-Mentalitätsunterschied durch die jüngeren Generationen in überschaubarer Zeit verschwinden werde, irrt. Die nachwachsenden Altersjahrgänge sind zahlenmässig so schwach vertreten, dass noch auf lange Zeit die älteren Generationen das kollektive Gedächtnis dominieren werden.

Auch sollte man die jüngsten AfD-Wahlergebnisse im Osten nicht als Anzeichen für ein Revival des alten Ost-West-Konflikts interpretieren. Es gibt auch westdeutsche Länder, in deren Landtagen die AfD mit Wahlergebnissen von bis zu 15 Prozent vertreten ist. In Wahrheit schlummert hinter den Wahlergebnissen der AfD in Ostdeutschland eine Verachtung des Staates sowie seiner Institutionen und Eliten. Auslöser hierfür war die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 mit der von vielen Menschen empfundenen Unfähigkeit des Staates, der Lage noch Herr zu werden. Und dem AfD wählenden Ossi ist es dabei ganz gleichgültig, aus welchem Landstrich die von ihm verachteten Eliten stammen. Die AfD wird nicht in erster Linie als rechte Partei gewählt, sondern als Partei des Anti-Establishments. Deshalb stört es umgekehrt auch nicht, wenn an der Spitze ostdeutscher AfD-Landesverbände Wessis stehen.

Die heutige Lage Ostdeutschlands ist paradox. Es geht ihm materiell so gut wie nie zuvor, und dennoch ist die Unzufriedenheit gross. Es erweist sich als Fehler, Politik allein oder vor allem als eine Form der Wohlstandssicherung zu praktizieren. Dieser ubiquitäre Primitivmarxismus läuft ins Leere. Der Mensch lässt sich offenbar nicht auf die Funktion eines Konsumautomaten reduzieren. Und dennoch dürfte ausgerechnet die wirtschaftliche Entwicklung zum grössten Hemmschuh des nächsten Jahrzehnts werden. Während die Chancen für diejenigen, die sie wahrnehmen können und wollen, heute grösser sind als jemals zuvor, droht Ostdeutschland insgesamt die wirtschaftliche Schrumpfung.

Lösen lässt sich dieses Problem nicht dadurch, dass die ostdeutschen Länder weitere Almosen vom Bund verlangen und sich im Modus des Jammer-Ossis einrichten. Erforderlich wäre stattdessen eine Modernisierungsstrategie, die sich mit Macht nicht auf die Ausweitung sozialer Wohltaten, sondern auf die Stabilisierung der Fachkräftesituation stürzt. Ohne gezielte Zuwanderung wird sich die wirtschaftliche Entwicklung nicht stabilisieren lassen. Die Ossis müssen sich also entscheiden: Wollen sie unter sich bleiben, wird dies nur um den Preis wirtschaftlicher Stagnation möglich sein. Wollen sie wirtschaftlich an den Westen anschliessen oder zumindest nicht zurückfallen, müssen sie sich für die Welt öffnen. Die nachwachsende Generation Ostdeutschlands hat die dafür erforderlichen mentalen Voraussetzungen. Aber hat sie auch den Mut, den Konflikt mit den eigenen Eltern und Grosseltern zu suchen?
Mathias Brodkorb (SPD) ist Abgeordneter des Landtages von Mecklenburg- Vorpommern und war 2016–2019 Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern.


Nota. - Die Quintessenz steht, wie es sich gehört, im Schlusssatz. Die Bundesrepublik ist das geworden, was sie im Moment des Beitritts der Ost-Länder war, im Jahre 1968. Da hat der mehrheitliche Teil der Deutschen mit der Generation der Väter abgerechnet - schlecht und recht, gewiss, aber immerhin. Wenn der beigetretene Teil zur gemeinsamen Nation gehören will, muss er nachholen, was ihre Eltern sich ersparen konnten; und nun fällt's ihnen doppelt schwer, aber da müssen sie durch.
JE



Montag, 21. Oktober 2019

Außer klagen nix zu sagen.

aus Tagesspiegel.de, 21. 10. 2019                                                     Osthaus steht noch, Westladen ist schon wieder geschlossen.

Außer Klagen nichts zu sagen?
Was am Opferdiskurs der Ostdeutschen falsch ist 
Die meisten Ostdeutschen sind zufrieden, das geht im 30-Jahre-Wende-Gejammer unter. Eine interessierte Minderheit betreibt diese Opferdebatte. Ein Gastbeitrag. 

von Detlef Pollack
 
Als Ostdeutscher hat man es gerade nicht leicht. Wir werden als Bürger zweiter Klasse behandelt, die Löhne in Ostdeutschland liegen auch 29 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer 17 Prozent unter dem Westniveau, von den 30 Dax-Vorstandsvorsitzenden kommt nicht einer aus den neuen Bundes- ländern. Und sind im Prozess der Wiedervereinigung nicht auch unsere Biografien entwertet worden?

In diesen Tagen werden wieder und wieder Verlustrechnungen aufgemacht, in denen die Ostdeutschen als die Benachteiligten der Einheit dastehen – vor allem von ostdeutschen Intellektuellen. Manche bezeichnen den Einigungsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik als „bedingungslose Kapitulation“. Andere in- szenieren Ostdeutschland als das „Land der kleinen Leute“ ohne eigene Stimme und ohne soziale Anerkennung.

Nach drei Jahrzehnten deutscher Einheit scheinen die Wortführer des Ostens vor allem eines gelernt zu haben, wie man sich öffentlichkeitswirksam über eine vermeintliche Dauermisere beklagen und dabei dem Westen weitgehendes Versagen unterstellen kann. Manch einer vermag dabei den „Jammerossi“ sogar noch als Klischee der Westdeutschen auszulagern, von dem sich diese nun endlich einmal lösen sollten.

Der Opferdiskurs lässt die Mehrheit außer acht

Kaum ein westlicher Akteur wagt noch, diesem Opferdiskurs selbstbewusst entgegenzutreten. Er möchte dem naheliegenden Verdacht, dem westdeutschen Überlegenheitsgestus verfallen zu sein, keine neue Nahrung geben. Also werden die Ostdeutschen in ihrem Klagemodus derzeit jovial bestärkt. So etwa wenn jetzt von staatstra- gender Seite die Deutschen in Ost und West dazu angehalten werden, 30 Jahre nach dem Mauerfall „einen ganz neuen Solidarpakt“ zu schließen, einen "Solidarpakt der Wertschätzung".

„Wer seine Arbeit verlor“, erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich des Mauergedenkens am 13. August diesen Jahres, wer „mehrmals umschulen musste, wer sich an marktwirtschaftliche Logik – und deren Auswüchse – erst gewöhnen musste und gleichzeitig eine Familie zu versorgen hatte, der schaut heute anders auf unser Land als einer, der von solchen Umbrüchen verschont blieb.“

Nach den schockierenden Wahlerfolgen der AfD im Osten kümmert sich nun jedermann um die Abgehängten im Osten, nicht nur der Bundespräsident, sondern auch die Parteien, das öffentlich-rechtliche Fernsehen, die Tages- und Wochenzeitungen landauf landab. Die Ostdeutschen liegen auf der Couch und lassen sich die ver- letzte Seele streicheln.

Was ist falsch an diesem Opferdiskurs?

Vor allem dies, dass er die Mehrheit der Ostdeutschen außer Acht lässt. Denn diese Mehrheit bekennt, dass sie zufrieden mit ihrem Leben ist, dass es ihr heute besser geht als vor 30 Jahren, dass sie sich sozial anerkannt fühlt. Und sie wählt nicht rechtspopulistisch.

Der für die Bundesrepublik repräsentativen Langzeitstudie Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin zufolge nähern sich die Zufriedenheitswerte der Ostdeutschen in den vergangenen drei Jahrzehnten denen der Westdeutschen immer mehr an. Auf einer Skala von 0 (= ganz und gar unzufrieden) bis 10 (= ganz und gar zufrieden) bewerten die westdeutschen Bundesbürger ihre subjektive Lebenszufriedenheit heute durchschnittlich mit einem Wert von 7,6, die ostdeutschen mit einem Wert von 7,35. Zwei Drittel der Ostdeutschen stimmen der Aussage zu, die Wiedervereinigung habe für die Bürger in den neuen Bundesländern mehr Vorteile als Nachteile gebracht. So die Ergebnisse der von Soziologen als äußerst zuverlässig eingeschätzten Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) von 2018.

Ost und West sind ungefähr gleich zufrieden

Und eine Sonderstichprobe des bereits erwähnten SOEP kommt zu dem Ergebnis, dass es, was das Maß der berichteten Wert- und Geringschätzung angeht, zwischen Ost und West keine signifikanten Unterschiede gibt. Auch in anderen Hinsichten erweist sich die Mehrheit der Ostdeutschen weder als abgehängt noch als desin- tegriert. Mit dem Weg, wie sich die Demokratie in Deutschland entwickelt, sind nach den Ergebnissen des Eurobarometers heute 54 Prozent zufrieden – etwa so viel wie auch 1990, als die Euphorie über die Wiederver- einigung noch nicht vom allgemeinen Klagen über sie abgelöst war.

Im Westen sind es zwar immer noch mehr, die sich als zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland bezeichnen, aber der Abstand zwischen Ost und West ist in den vergangenen fünf Jahren kleiner geworden, und er wird noch einmal geringer, wenn man den Anteil der AfD-Wähler herausrechnet. Fragt man die Menschen, ob sie die Demokratie für eine gute Regierungsform halten, so bejahen diese Frage 83 Prozent der Ostdeutschen. In den alten Bundesländern sind es 90 Prozent, so die Daten der Bertelsmann-Stiftung von 2017. Selbst mit der Marktwirtschaft, denen die Ostdeutschen ihr trauriges Schicksal doch vor allem zu- schreiben müssen, sind im Osten immer mehr Menschen zufrieden.

Wie kann das sein? Wie stimmen diese Daten mit der allgemein konstatierten Verdrossenheit der Ostdeutschen zusammen?

Alle diese Daten bewegen sich auf der Individualebene. Wenn sie sich auf die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, die Vor- oder Nachteile der Wiedervereinigung oder Gefühle der Anerkennung beziehen, handelt es sich um subjektive Einschätzungen der persönlichen Lage. Sofern sie die Beurteilung von Demokratie und Markt- wirtschaft betreffen, stellen sie noch immer subjektive Aussagen dar. Keine von ihnen bezieht sich jedoch auf die Ostdeutschen als kollektive Gruppe oder auf Ostdeutschland als vom Westen zu unterscheidende Region. Und genau darin liegt das Problem.

Das Problem ist die Überlegenheit des Westens

Vergleichen sich die Ostdeutschen mit den Westdeutschen, fühlen sie sich benachteiligt; in den neuen Bundes- ländern haben weitaus weniger Menschen das Gefühl, dass sie im Vergleich zu dem, wie es anderen in Deutsch- land geht, den ihnen zustehenden gerechten Anteil erhalten, als in den alten Bundesländern. Betrachten sie Ost- deutschland als Ganzes, können sie sich über die Kluft zum Westen, die sie an vielen Kennziffern und Erfah- rungen festmachen können, nur beschweren.

Das Problem ist also, könnte man sagen, nicht der Osten, sondern die wahrgenommene und noch immer beste- hende Überlegenheit des Westens. Selbst die selbstbewussten Sachsen denken zwar zu 90 Prozent, dass man auf das, was man in Sachsen seit 1989 erreicht hat, stolz sein kann, und 70 Prozent schätzen die wirt- schaftliche Lage in Sachsen als die beste Ostdeutschlands ein und sogar 75 Prozent als besser als in den Ländern Osteuro- pas, aber im Vergleich zu den Bewohnern der westdeutschen Bundesländer empfinden jedoch nur noch neun Prozent die Situation in Sachsen als besser (Sachsen-Monitor).

Hinzu kommt, dass man das, was es an Erfolgen im Osten gibt, zum großen Teil nur mit westlicher Hilfe erreichen konnte. 2,3 Billionen Euro sind in den Jahren seit der Herstellung der deutschen Einheit von West nach Ost geflossen. Der erreichte Wohlstand ist in einem nicht unbeträchtlichem Ausmaß ein geschenkter. Die Ostdeutschen wissen, dass sie ihn nur zu einem Teil den eigenen Anstrengungen verdanken. Wenn man die ostdeutschen Regionen außerhalb der Großstädte besucht, sieht man auf den ersten Blick, dass sich viele von ihnen in den durchsanierten Städten und Gemeinden wie Fremdkörper bewegen, die das, was sie an glänzenden Stahl-, Glas- und Betonkonstruktionen umgibt, nicht als ihr Eigenes erkennen – sofern sie denn überhaupt außer Haus gehen und nicht im Privaten bleiben.

Der gemeine Ossi ist dreist

Die ostdeutschen Intellektuellen, die die Kolonialisierung des Ostens beschwören, gehen an der Lebenslage der Mehrheit ihrer Landsleute vorbei und machen sich zum Sprachrohr von denjenigen, denen sie doch wohl eher mit Ablehnung gegenüberstehen. Eine Minderheit der Ostdeutschen hat es verstanden, sich zum Opfer der deut- schen Einheit zu stilisieren und mit seinem Wahlverhalten Berücksichtigung einzuklagen. Wählte ein Großteil von ihnen erst die Linke, um die westlichen Eliten herauszufordern, so meint sie jetzt, in der AfD einen noch wirksameren Proponenten ihrer Anliegen gefunden zu haben.

Der gemeine Ossi ist wendig, und er ist dreist. Er hat es geschafft, der westlichen Elite ein schlechtes Gewissen zu verschaffen. Sein Verhalten, auch sein Wahlverhalten ist taktisch und instrumentell, und es ist durchschaubar. Mit seinem Protest will er sich zu unserem Problem machen.

Wir müssen diesen Protest ernstnehmen, aber uns von ihm nicht instrumentalisieren lassen. Wir sollten nicht den Klagegesang einer Minderheit bedienen und uns als ihr verlängertes Sprachrohr missbrauchen lassen, indem wir den Ossi als ein benachteiligtes und entmündigtes Wesen porträtieren, dem die Anerkennung verweigert wird. Wir sollten den Blick frei bekommen und wahrnehmen, dass die Mehrheit der Ossis – unter teilweise erheblichen Anstrengungen und Entbehrungen, das muss man auch sehen – sich in das westliche System eingefädelt hat und in Deutschland angekommen ist.

Ja, wir sind übernommen worden, aber können wir darüber nicht einfach nur froh sein, dass der Westen diese Last auf sich genommen hat? Dankbarkeit schließt natürlich nicht aus, die teilweise erheblichen und teilweise noch immer bestehenden Probleme der Vereinigung zu benennen und auf sie kritisch zu verweisen. Als Ostdeutscher zu einer Gruppe zu gehören, die als ewig klagende Gemeinschaft der zu Kurz-Gekommenen Aufmerksamkeit und Berücksichtigung erzwingen will – das nervt, wie vielleicht der gemeine Wessi sagen würde. 


Nota. - Nestbeschmutzer, sagt der ossische Wutbürger, und macht sein Kreuz Sie-wissen-schon-wo.
Sie wissen nicht, wo? Na, erst bei diesen, jetzt bei jenen.
JE




Dienstag, 22. Oktober 2019


SED-Nachfolgepartei

- so nannte man früher die PDS.

Und wer bewirtschaftet heute deren Erbe?  


Die Linke wird im Osten bald nicht stärker sein als im Westen.  
Rechts geschiehts ihr.




Sonntag, 2. September 2018

Das gesamtdeutsche Tabu.

 aus welt.de, 2. 8. 2018

... Eine klare Mehrheit der Bürger ist einer Umfrage zufolge der Überzeugung, dass der Osten Deutschlands ein größeres Problem mit Rechtsradikalismus hat als der Westen. In einer Emnid-Erhebung für die „Bild am Sonntag“ äußerten 66 Prozent der Befragten diese Auffassung, nur 21 Prozent sahen dies anders. Selbst in Ostdeutschland teilten 57 Prozent diesen Standpunkt, 39 Prozent verneinten, dass das Problem im Osten größer ist als im Westen. ...


27 Prozent der Bürger finden es nach der Umfrage in Ordnung, wenn gegen Ausländer protestiert wird, 66 Prozent haben dafür kein Verständnis. ...


Da wird es morgen durch die Blätter wehen: "Ossi-Bashing bringt uns nicht weiter" und "In dieser ange- spannten Zeit muss man nicht noch einen weiteren Keil ins deutsche... in die deutsche Bevölkerung treiben", und mancher westlich zertifizierte Publizist wird aufzählen, wie viele Leistungen den Ostdeutschen seit der Wiedervereinigung abgefordert wurden und wie meisterlich sie das bewältigt hätten. Und außerdem gäb's die Rechten ja auch im Westen und hätte sie dort immer gegeben.

Letzteres ist wahr. Wahr ist aber auch, dass sie sich dort erst nach Hoyerswerder und Rostock-Lichtenhagen auf die Straße wagen. Noch heute sind sie im Westen eine punktuelle Erscheinung, im Osten sind sie eine regionale Größe. Ähnlich wie bei der Linken zehren im Westen die Rechten an ihrem Nährboden im Osten.

Da werden demnächst wieder eine Menge Erklärungen gefunden werden. Und wieder wird keiner auszusprechen wagen, was eine der Hauptbedingungen des rechten Aufstiegs dort war: Seit bald drei Jahrzehnten wird die deutsche Innenpolitik beherrscht von einem Tabu, das lautet: Das Ossi darf nicht gekränkt werden.

Denn was immer das Ossi sonst auch noch sei, vor allen Dingen ist es eins: verletzlich. Und da seit der Wiederverei- nigung Bundestagswahlen im Osten gewonnen oder verloren werden, hat kein Politiker und kein Journalist die Cou- rage, ihnen die Dinge zu sagen, die man ihnen hätte sagen sollen, als vielleicht die Ohren noch offen waren. Aber damals war's nicht die Angst vor den Rechten, die 'den Eliten' in der Hose saß, sondern die vor der PDS...

*

Die erste Generation, die die DDR erlebt hat, waren die Überlebenden des Krieges, die sich im antifaschistischen Bollwerk unter sowjetischer Besatzung über ihre Vergangenheit keine Fragen zu stellen brauchten. Im Westen woll- ten sie es genausowenig, aber es blieb ihnen schließlich nicht erspart. Die tiefste Spaltung Deutschlands brachte nicht die Mauer, sondern das Jahr 1968, das im Osten ausfiel.

In der Gesellschaft der DDR sind zwei Generationen großgeworden. Unrechtsstaat, Nischengesellschaft oder kommode Diktatur - auf jeden Fall war es eine Welt, die Eigenwillen und Wagemut erstickte, wo immer sich ein Fünkchen regte, von der Krippe bis... Wer nie was selber entscheiden kann, der wird sich für nichts verantwortlich fühlen, und was für viele Einzelne in der ersten Generation noch ein beschämendes Gefühl der Ohnmacht gewe- sen sein muss, war für die große Masse schließlich selbstverständlichste Condition humaine, und wer es partout nicht ertragen konnte, suchte irgendeinen Weg nach Westen.

Wer nichts selber machen darf, der erwartet entschädigungsweise alles von dem, der es ihm vewehrt. Das Normal- verhältnis des DDR-Bürgers zu seinem Staat war das Ressentiment. 'Alles willst du regeln? Na, dann mach mal!' Und weil natürlich nichts klappte, hieß es allerorten: Anmahnen, einfordern, Versagen anprangern! Freilich nur daheim in der Datschen-Nische, draußen hielt man die Zunge im Zaum.
 
Öffentliche Duckmäuserei bei privater Ansprüchlichkeit waren die Bewusstseinsverfasssung des entwickelten sozia- lisitschen Menschen, und nichts ist geschehen, um daran etwas zu ändern. Die Leipziger Montagsdemonstranten haben sich was getraut, das wird keiner leugnen, und vielleicht waren sie nicht weniger von ihrer Courage überrascht, als der Rest der Welt. Doch danach ist von unten nicht mehr viel gekommen. Die DDR ist buchstäblich zusammengebro- chen, eine Volksrevolution war das nicht.

Und so musste sich keiner, der's nicht von sich aus wollte, groß ändern. Um das Ausmisten des eigenen Saustalls haben sie sich schlau gedrückt, indem sie sich flugs der Bundesrepublik anschlossen, die war jetzt für alles verant- wortlich, und das Ressentiment sprach prompt von Siegerjustiz, und wer "gegauckt" wurde, fühlte sich auf einmal gedemütigt, wie er es in der DDR nie tat. Die Entstasifizierung war  ihnen von andern angetan worden, und das war auch schon zuviel. "Ich habe mir nichts vorzuwerfen." Habe nur Befehle ausgeführt sagte man früher. Und weiter hieß die Einstellung zum Gemeinwesen anmahnen, einfordern, Versagen anprangern. Mit dem Unterschied, dass sie es jetzt öffentlich dürfen. 

Die Kontinuität besteht im Ressentiment. Der Unterschied ist, dass es sich damals um die stalinistische Konserve des preußischen Obrigkeitsstaat handelte und heute um einen repräsentativen liberalen Rechstsstaat. Dass sie in ihrer großen Masse diesen Unterschied nie begriffen haben, müssen sie sich selber vorwerfen; und müsste ihnen, weil es schlimme Folgen hat, nun endlich in aller Öffentlichkeit vorgeworfen werden.

Ihr mögt lamentieren, wie ihr wollt - wenn ihr euch das nicht traut, habt ihr euch "Pro Chemnitz" redlich verdient.

 


Mittwoch, 9. Oktober 2019

Der Kollaps der DDR-Wirtschaft war unvermeidlich..

Totale Bürokratie III: Zwischen Oder und Elbe


Das feudalbürokratische Vergeudungs- und Verknappungssystem

Man kann Gesellschaftsformen danach unterscheiden, durch welche Institution sie sicherstellen, dass ein Mehr- produkt entsteht, das akkumuliert werden kann und für Fortschritt sorgt.

Im Feudalzeitalter ist es der nur bedingte bäuerliche Besitz am Boden, durch den der Grundherr am Mehrprodukt teilhat und den Bauern zur Steigerung seiner Produktivität drängt. In der bürgerlichen Gesellschaft ist es der Austausch von Kapital und Arbeit, aus dem der akkumulierbare, neues Kapital bildende Mehrwert hervorgeht. Feudaladel und Bourgeoisie haben zu ihrer Zeit zum gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen.

Ein parasitärer Auswuchs

Und wie war das mit der Sowjetbürokratie? Unter Stalin entstand eine Schwerindustrie, das ist wahr. Zugleich hat die Terrorherrschaft der Bürokratie – Zwangskollektivierung und Hungersnot, die Große Säuberung und der Gulag, die Zwangsumsiedlung ganzer Völkerschaften – ungezählte Millionen Menschenleben gekostet. Das war nicht zuletzt auch eine gewaltige Vernichtung von Produktivkraft.

Ob die Bürokratie zur Entwicklung der Produktivkräfte beiträgt, ist rein zufällig. Einem ökonomischen Zwang dazu unterliegt sie nicht. Auch sie verschlingt einen Teil des Mehrprodukts. Akkumuliert sie einen andern Teil? Welchen Teil sie verschlingt, das unterliegt keinerlei wirtschaftlichem Mechanismus, es ist rein willkürlich. Es kann auch mehr sein als das Mehrprodukt – sie macht auch vor der Substanz nicht halt, nichts hindert sie daran. Sie zehrt nur. Sie ist ein Parasit.

Der deutsche Stalinismus

Das stalinistische System ist in der sowjetischen Zone Deutschland fix und fertig an die Stelle des nationalsozialistischen Totalitarismus getreten. Vor dem Krieg war das sächsisch-thüringische Industrierevier neben dem Ruhrgebiet das zweite wirtschaftliche Herz Deutschlands. Am Ende der DDR konnte davon nicht mehr die Rede sein. Die Bürokratie hatte eine Desakkumulation zu Wege gebracht, Ruinen schaffen ohne Waffen.

Dabei hat nicht einmal das Politbüro geprasst wie ein orientalischer Despot. In Wandlitz war alles von fast bescheidenem kleinbürgerlichen Zuschnitt. Warum also dieser Niedergang?

1. Das Mehrprodukt fiel immer kleiner aus. Ab einem bestimmten Punkt ‘vermittelt’ die Bürokratie nicht mehr die mechanischen Fertigungsprozesse, sondern behindert sie. Sie verfügt über keinen eingebauten Zwang zur Einsparung (wie etwa der Kapitalist, der pleite geht, wenn er zu teuer produziert). Sie verfügt nicht einmal über ein Maß, um die Kosten zu ermitteln: Ohne freien Markt waren die Preise reine Phantasiegebilde von Günter Mittag. Die Produktivität konnte sinken, ohne dass es einer merkte.

2. Die Bürokratie wurde immer zahlreicher. Eine Bürokratie kann auf die Dauer nicht allein durch Terror herrschen. Sie muss sich, wie jede andere Herrschaft, endlich ‘legitimieren’. Der Terror kann für ein Weile durch ständige Beschwörung von Konterrevolution und Kriegsgefahr legitimiert werden. Aber er versetzt die Gesellschaft in Lähmung und Apathie. Auf die Dauer kann sich die Bürokratie nur legitimieren, indem sie ihre Basis erweitert. Indem sie immer mehr Andere an ihren Privilegien teilhaben lässt. Die Korruption – moralisch und materiell – wird zu ihrem allgegenwärtigen Herrschaftsmittel. Am Ende der DDR gab es kaum noch einen, der nicht durch seine Zugehörigkeit zu irgendeinem Kollektiv – “gesellschaftliche Organisation”, Blockpartei, Soliinitiative… – Zugang zu irgendeinem Vorrecht hatte, von dem die Andern ausgeschlossen waren (außer natürlich die “am meisten privilegierten gesellschaftlichen Gruppe”, die Kinder).

Bürokratische Feudalisierung


Zugleich setzt aber das Privileg allgemeine Knappheit voraus. Eine zügige wirtschaftliche Entfaltung, ein allgemeiner Wohlstand hätte die Bedingungen der bürokratischen Herrschaft untergraben. Sie lagen gar nicht im Interesse der “Verantwortlichen”. Da war es nicht nötig, dass sie sich untereinander zu systematischer Verschwendung verschworen hätten; es reichte aus, dass sie sie nicht wirksam bekämpften: Der Bock taugt nicht zum Gärtner.


Die Wege der Privilegierung waren nur zum kleinen Teil regulär und offiziell. In der großen Masse waren sie informell: Einer kennt einen, der wieder einen kennt… “Seilschaften” nannte man das schließlich, eine Hand wusch die andre. Es entstanden Abhängigkeitsverhältnisse in rein persönlichem, gefolgschaftlichen Rahmen, im Schatten der sichtbaren Hierarchien. Die innere Verfassung des bürokratischen Corps nahm schließlich ausgeprägt feudale Züge an. Zersplitterung und durchgängige Mediatisierung - kanonisch erfasst im Begriff der Nischengesellschaft.


Selbst das, was man die Besitz- oder Eigentumsverhältnisse nennen könnte, ähnelte einem feudalen Lehens-Verhältnis. Zwischen Parteifunktionären und Betriebsdirektoren bestanden Vasallitäten, die in gegenseitiger Loyalität begründet waren, aber in jedem Fall nur bedingt galten – je nach den Gleichgewichten im bürokratischen Gesamtgefüge.

Die gesellschaftlichen Produktivkräfte hatten gegen Ende der DDR angefangen zu schrumpfen. Schon der Augenschein einer Bahnfahrt durch Leuna und Merseburg machte es deutlich. Ohne die Kredite aus der Bundesrepublik wäre das System schon Jahre vorher zusammen gebrochen.

Der unaufhaltsame Untergang

Es ist wahr, die horrenden Kosten der Hochrüstung haben ihren – aus den genannten Gründen nicht kalkulierbaren – Teil zum Raubbau an der Substanz beigetragen. Aber der Kalte Krieg und sein kleiner Bruder, die Friedliche Koexistenz, waren kein Paletot, den die östlichen Regimes an der Garderobe hätten ablegen können. Sie waren der kümmerliche, jämmerliche Rest, den Stalins “Sozialismus in Einem Land” von der Weltrevolution schließlich übrig gelassen hat. Aber völlig darauf verzichten konnten sie nicht. Nur unter dem Etikett “Sozialismus” (eingeschränkt durch “real- existierend”) konnte die Bürokratie ihre Herrschaft schlecht und recht legitimieren, sie musste Friedenslager und Siegerseite der Weltgeschichte bleiben bis zum bittern Ende…

Ach, bitter? Manchem Betriebsleiter ist es gar nicht so schwer gefallen, sich vom feudalbürokratischen Bonzen zum kapitalistischen Boss zu mausern, und hätte die Bundes- republik nicht mit der D-Mark auch die Öffentlichkeit nach Ostdeutschland gebracht, wären wir dort Zeugen der selben Art von “ursprünglicher Akkumulation des Kapitals” geworden wie in Boris Jelzins Wildem Osten; na ja, allzu viele (lebende) Zeugen nicht…




Sonntag, 15. September 2019

Fetisch "DDR-Identität".

aus nzz.ch, 31.8.2019


DDR-Bürgerrechtler: 
Der Glaube an die Reformierbarkeit des Systems war intakt
Zu den blinden Flecken der linksalternativen Kräfte zählte die Idee einer DDR-Identität. Die oppositionellen Kräfte wollten das bestehende System erneuern und sich auf alte Ideale besinnen. Wider die Mythenbildung 30 Jahre nach dem Mauerfall.

von Eckhard Jesse

Die Geschichte der politisch alternativen Kräfte in der DDR ist eine Geschichte voller Paradoxien. So strebten sie eine Reform der DDR an, bewirkten aber eine Revolution. Die ostdeutschen Dissidenten wahrten grössere Distanz zum Westen als etwa solche in Polen und der Tschechoslowakei; nach aussen bewiesen sie Mut, nach innen offenbarten sie mehrheitlich ideologische Anpassungsbereitschaft. Das Verhalten der «Normalbürger» fiel dagegen spiegelverkehrt aus: Äusserlich angepasst, waren sie innerlich renitent. Durch den Fall der Mauer standen jene, die am SED-System öffentlich Kritik geübt hatten, plötzlich an der Seite ihrer einstigen Gegner – ungeachtet ähnlicher Ziele blieben die beiden Gruppen sich aber doch fremd.

Die jüngste Kontroverse in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zwischen dem Soziologen Detlef Pollack auf der einen Seite und Bürgerrechtlern auf der anderen Seite untermalt dies: Pollack, seinerzeit Assistent an der Universität Leipzig im Fach Theologie, bestreitet den starken Einfluss oppositioneller Kräfte im Herbst 1989 am Sturz der SED-Diktatur, während die Bürgerrechtler ihre destabilisierende Wirkung auf diese betonen. Sie werfen Pollack vor, die Rolle der oppositionellen Kräfte herunterzuspielen und diese gar zu diffamieren. Was keine Seite ansprach: die seinerzeitigen Ziele der Bürgerrechtler. Welche politischen Positionen nahmen sie ein? Was bedeutete ihnen der dritte Weg, der in der Vorstellung einer demokratisch erneuerten DDR bestand? Was trugen sie zum Sturz des SED-Systems bei, wie standen sie zum Fall der Mauer, wie zur deutschen Einheit? Welche Meinung vertreten sie heute? Was sind die Gründe für den Wandel?

Antikapitalistisches Grundverständnis

Vor der friedlichen Revolution im Herbst 1989 – der einprägsam-griffige Begriff «Wende» hat sich zwar weithin durchgesetzt, ist für den Systemwechsel von einer Diktatur zu einer Demokratie aber wenig treffend – sprach kaum jemand von den politisch alternativen Kräften in der DDR. Selbst diese nahmen «Opposition» so gut wie nie in den Mund, sei es aus Überzeugung, sei es aus Strategie. Die ostdeutsche Diktatur tabuisierte das Thema, und auch im Westen stiess es auf keine sonderliche Resonanz. Jene Kräfte, die wider das Herrschaftsmonopol der SED löckten, sahen den Sozialismus als reformfähig an.

Wurde vor 1989 der Kreis der widerständigen Kräfte eher heruntergespielt, neigt heute ein Teil der Forschung dazu, deren Einfluss zu überzeichnen. Waren DDR-Oppositionelle in den 1950er Jahren auf den Westen fixiert, galt das nicht für die zwei letzten DDR-Jahrzehnte. Nach der Ausbürgerung des linken Liedermachers Wolf Biermann 1976 folgten Proteste in intellektuellen Kreisen. Er musste gehen und wollte bleiben. DDR-Bürger, die gehen wollten und bleiben mussten, ohne dass Proteste folgten, konnten dies nicht so recht nachvollziehen. Ausreiser firmierten weithin als Ausreisser.

Ein antikapitalistisches, nicht auf die Einheit bezogenes Grundverständnis zeichnete fast alle Dissidenten aus, wie ein Sichten der Texte in den Samisdat-Organen belegt. Gegen 5000 Personen engagierten sich unter anderem in Friedens- und Umweltkreisen, oft unter dem Dach der Kirche. Ende 1985 entstand mit der Initiative Frieden und Menschenrechte die erste Gruppierung ausserhalb der Kirche. Die SED-Diktatur, die von «feindlich-negativen» Kräften sprach, agierte in den 1980er Jahren, bedingt durch aussenpolitische Rücksichtnahmen, weniger repressiv als etwa in den 1950er Jahren. Die Konsequenz: «Zersetzung» löste Inhaftierung ab.

Glaube an eine DDR-Identität

Die Idee des dritten Weges – ideologisch angesiedelt zwischen Ost und West, zwischen Sozialismus und Kapitalismus – war verbreitet, gesellschaftspolitisch, aussenpolitisch und wirtschaftlich, der Glaube an die Reformierbarkeit des Systems ebenso. Zu den blinden Flecken der linksalternativen Kräfte zählte der Glaube an eine DDR-Identität. Dieser Sachverhalt entwertet nicht die Zivilcourage der konsumkritisch und blockübergreifend eingestellten Opposition, belegt vielmehr den Anpassungsdruck, unter dem fast jede Form der Dissidenz in einer Diktatur wie der DDR stand. 

Überzeugung und Vorsicht mischten sich. Niemand hielt den Zusammenbruch des kommunistischen Systems Knall auf Fall für möglich. Manche Nichtangepassten im Osten folgten den Ideen von 68ern, die in der freien Welt nicht nur freiheitliche Ziele verfochten. Zumal die Grünen beeinflussten durch enge Kontakte die politisch Alternativen, die liberal-konservative Tendenzen im Westen geisselten.
Bedingt vor allem durch die Flucht- und die folgende Demonstrationsbewegung – die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow nahm Abstand von der Breschnew-Doktrin und intervenierte also nicht –, brach die SED-Diktatur urplötzlich zusammen. Daran hatten viele ihren Anteil, auch die Dissidenten, die schnell – im September und Oktober 1989 – Zulauf erhielten. Am 9. Oktober 1989, dem «Tag der Entscheidung», demonstrierten 70 000 Personen in Leipzig gegen das SED-System. Doch liess die Isolation dieser Gruppen, die mit ihrer Vision von einem «echten» Sozialismus eine «andere DDR» anstrebten, in der Bevölkerung nicht lange auf sich warten.

Wenige Tage nach dem Fall der Mauer hiess es in einem Flugblatt des Neuen Forums, der im September 1989 gegründeten Bürgerbewegung: «Lasst Euch nicht von den Forderungen nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft ablenken! Ihr wurdet weder zum Bau der Mauer noch zu ihrer Öffnung befragt, lasst Euch jetzt kein Sanierungskonzept aufdrängen, das uns zum Hinterhof und zur Billiglohnquelle des Westens macht! [. . .] Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen.»

Mit solchen Ideen, keineswegs politischer Rücksicht geschuldet, verspielten Bürgerrechtler ihren Kredit.

Die verbreitete Idee des Antifaschismus, die kaum jemand aus der Bürgerrechtsbewegung infrage stellte, verband sich mit Anti-Antikommunismus. Zu den Erstunterzeichnern des fast drei Wochen nach dem Fall der Mauer veröffentlichten Appells «Für unser Land» zählten bekannte Bürgerrechtler wie Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer und Konrad Weiss. Der Kernsatz: «Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen waren.»

Allerdings hatten die Bürgerrechtler gleich bei der ersten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 7. Dezember 1989 ohne Wenn und Aber für freie Wahlen plädiert. Bei der ersten und letzten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 erreichten Bündnis 90, in dem sich drei Bürgerrechtsbewegungen (Demokratie jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum) zusammengeschlossen hatten, und die Grüne Partei, gemeinsam mit dem Unabhängigen Frauenverband, gerade einmal 2,9 beziehungsweise 2,0 Prozent. Nichts konnte stärker die Marginalisierung belegen. Doch ein Umdenken löste dies nicht aus. Dem Beschluss der Volkskammer für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 23. August stimmten nur zwei der 20 Abgeordneten von Bündnis 90 / Die Grünen zu: Joachim Gauck und Konrad Weiss. Nicht anders fiel das Votum über den Einigungsvertrag aus.

Lebensgeschichtliche Erfahrung

Die Vorbehalte gegenüber den neuen Verhältnissen schwanden allmählich. Bündnis 90 vereinigte sich mit den Grünen 1993 und förderte deren Realismus. Heute haben die meisten Bürgerrechtler ihren Frieden mit dem westlichen System geschlossen und ihre früheren Positionen stillschweigend aufgegeben. Ihre Heterogenität geht auf die Zeit nach der Diktatur zurück, zum Teil aber auch auf die Zeit davor, als die Ablehnung des «realen Sozialismus» andere Differenzen überlagerte. Wenn sie sich politisch weiterhin engagieren, dann in der CDU, der SPD und beim Bündnis 90 / Die Grünen. Einige wenige sind zur Partei Die Linke gegangen, einige zur Alternative für Deutschland. Mit Matthias Platzeck, zunächst Bündnis 90, später SPD, avancierte ein politischer Aktivist aus dem alternativen Milieu vor 1990 gar zum Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg von 2002 bis 2013.

Lebensgeschichtliche Erfahrungen erklären den starken Zusammenhalt von Bürgerrechtlern. Oft verfassen sie daher Resolutionen, sei es jetzt gegen den Auftritt von Gregor Gysi am 9. Oktober 2019 in Leipzig als Festredner bei einem Konzert; sei es letztes Jahr in einer «Erklärung zu Chemnitz» mit einem Votum gegen die AfD; sei es 2015 zugunsten der «Politik der offenen Grenzen». Auch wenn von einer Homogenität der Bürgerrechtler weder damals noch heute die Rede sein kann: Sie reagieren bei Kritik an ihren unausgegorenen politischen und wirtschaftlichen Ideen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre allesamt gekränkt, als würde ihnen jemand den Mut absprechen.

Wissenschaftliche Akkuratesse gebietet den Hinweis: Bei manchen Dissidenten standen weder Freiheit und Pluralismus noch menschenrechtliches Engagement im Vordergrund. «Alle wichtigen politischen Ziele von Widerstand und Opposition wurden 1989/1990 erreicht.» Diese These Ehrhart Neuberts, eines Protagonisten des alternativen Milieus und Verfassers eines Standardwerks zur DDR-Opposition, lässt etwas ausser acht. Deren Anhänger hatten eben nicht die parlamentarische Demokratie vor Augen – und keinesfalls die deutsche Einheit, schon gar nicht unter den Vorzeichen der kulturellen, politischen wie militärischen Westbindung. Wer einen solchen Sachverhalt hervorhebt, will historisch einordnen, nicht diskreditieren.

Kaum einer der Bürgerrechtler mag an die von ihnen seinerzeit behaupteten «verpassten Chancen» 1989/90 erinnert werden. Zu Recht nennt der Potsdamer Historiker Martin Sabrow den dritten Weg einen «vergessenen». Dieser Befund beruht zum einen auf der normativen Kraft des Faktischen, zum anderen auf der faktischen Kraft des Normativen.

Die Bürgerrechtler akzeptieren das vereinigte Deutschland, und zwar aus Überzeugung. Allerdings ist bei Bürgerrechtlern, befangen in konsensuellem Denken, die Fähigkeit zur Selbstkritik wenig entfaltet. Aber gerade das Eingeständnis von Irrtümern erhöht Glaubwürdigkeit.

Der Verfasser, emeritierter Professor an der TU Chemnitz, ist Extremismusforscher und Mitherausgeber des Jahrbuchs «Extremismus & Demokratie».



Freitag, 13. September 2019

Die zurückgebliebenen Männer der DDR.


aus Berliner Zeitung, 11.09.19   

"Es hat sich im Osten eine Schiefstellung entwickelt" 

Von Sabine Rennefanz 

Berlin-Mitte, Humboldt-Universität.  Im Gebäude ist es still, unten im Leseraum sitzt nur eine einzelne Studentin. Es sind Semesterferien. Steffen Maus Büro liegt im ersten Stock, gegenüber sitzt Herfried Münkler, der bekannte Politologe. Steffen Mau ist im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein aufgewachsen, diente zur Wendezeit in der NVA. 30 Jahre später ist er für die Recherche zu seinem Buch „Lütten Klein. Leben in der Transformationsgesellschaft“ in seine Heimat zurückgegangen, diesmal als Universitätsprofessor. In seinem Büro steht ein Sofa, an der Tür klebt ein Plakat des Buchcovers.

Nach den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen stellte sich heraus, dass die AfD vor allem von Männern gewählt wird. Sie konstatieren in Ihrem Buch einen Männerüberschuss im Osten. Gibt es da einen Zusammenhang? 

Das kann man zumindest vermuten. Wir haben es im Osten Deutschlands bei den mittleren Jahrgängen mit einer Entwicklung zu tun, die man als demografische Maskulinisierung bezeichnet. Von den unter Dreißigjährigen, die zwischen 1991 und 2005 Ostdeutschland verließen, waren zwei Drittel Frauen. Wegen der weiblichen Wanderung bildete sich in  vielen Regionen Ostdeutschlands ein Männerüberschuss heraus. Eine diskutierte Annahme lautet, dass Männerüberschussgesellschaften eine höhere Gewaltneigung aufweisen. Es gibt Studien, die nahelegen, dass der Testosteronspiegel von Männern in Beziehungen niedriger ist, besonders, wenn sie Kinder haben. Wenn viele Männer um wenige Frauen konkurrieren, kann aggressives, körperbetontes Auftreten ein Mittel sein, um sich zu behaupten. Sie setzen auf klassische Männlichkeit: Kraft, Stärke, Durchsetzungsvermögen.

Soll das heißen, weil sie keine Frau finden, wählen die Männer die AfD? Im Prinzip aus Einsamkeit?

So pointiert würde ich es nicht formulieren. Aber die Zahlen sind extrem, nicht nur wegen der Wanderungen, sondern auch wegen des Geburtenknicks Anfang der 90er-Jahre, dessen Folgen wir jetzt zu spüren bekommen. Männer wählen im Schnitt Partnerinnen, die zwei bis drei Jahre jünger sind. Für diejenigen, die Anfang dreißig sind, heißt das, dass wegen des Geburtenrückgangs ab 1989 viel weniger potenzielle Frauen zur Verfügung stehen. Es kommt in dieser Generation zu einem Männerüberhang. Normalerweise betrachtet die Forschung Unterschiede im einstelligen Bereich: Wenn die Geburten so stark zurückgehen wie 1991, dann fehlen statistisch Partnerinnen für 50 Prozent der Männer. Und wenn man bedenkt, dass Frauen meist Männer mit gleicher oder höherer Bildung bevorzugen, Männer im Osten aber seltener Abitur machen, dann stellt sich die Lage für ostdeutsche Männer auf dem Heiratsmarkt dramatisch dar. Im  Jahr 2012 kamen bei den Zwanzigjährigen auf 100 potenziell partnerlose Frauen 300 ungebundene Männer ohne Abitur.

Erklären Sie bitte, warum die Geburtenrate 1991 so absackte.

Wir haben uns die Veränderungsraten angeguckt: Nicht einmal zu Kriegszeiten oder nach 1945 sind die Geburtenzahlen so eingestürzt wie ab 1990. Die Geburtenrate sank auf statistisch 0,77 Kinder pro Frau, ein extrem niedriger Wert. Das hat damit zu tun, dass alles unsicher geworden war und ein Kind eine dauerhafte Verpflichtung darstellt. Auch die Zahl der Eheschließungen und Scheidungen ging zurück. Das Interessante ist: Der Wunsch nach Kindern blieb gleich hoch, aber viele hatten keine Zeit oder Kraft,  ihn umzusetzen. Sie parkten ihren Kinderwunsch, weil sie in den Westen zur Arbeit pendelten, erst einmal ihren Platz finden mussten. Aber so ein Kinderwunsch lässt sich nicht endlos parken, irgendwann ist es zu spät. Und diese Delle macht sich heute auch stark bemerkbar.

Wie geht man mit den einsamen Männern um?

Ich spreche in meinem Buch von gesellschaftlichen Frakturen. Da geht es nicht um eine Therapie oder darum, mit ein bisschen Anerkennung etwas wegzuheilen. Es hat sich in Ostdeutschland eine Schiefstellung der Gesellschaft entwickelt, daraus auch ein durchaus schiefes Zusammenwachsen. Man braucht bessere regionale Politik, mehr Investitionen in Infrastruktur, Bildung. Wir brauchen ein Projekt für Ostdeutschland, bei dem die Menschen das Gefühl bekommen, hier können Sie etwas gestalten, es lohnt sich.

Aber wenn wir noch kurz bei den einsamen Männern bleiben: Man könnte ja auch fragen, warum sie nicht in den Westen gehen, um Partnerinnen zu finden?

Das ist oft mit hohen sozialen Kosten verbunden. Man verliert das gewohnte Umfeld, Bindungen, Heimat. Meine Gesprächspartner in Lütten Klein, die ich für mein Buch interviewt habe, heben die Bedeutung von Netzwerken immer wieder hervor. Da sind die Kumpels, die sie oft schon aus der Schule kennen. Sie stellen sie nicht auf die Probe, sie müssen sich nicht dauernd beweisen oder erklären. Oft treten diese Freundeskreise an die Stelle klassischer Partnerschaften.

Warum fällt es Frauen offenbar leichter, wegzugehen?

Wenn ostdeutsche Männer in den Westen gegangen sind, haben sie die unterste Hierarchiestufen besetzt. Das traf für ostdeutsche Frauen auch zu. Aber auf dem Heiratsmarkt hatten Frauen Vorteile. Man weiß aus der Forschung, dass Frauen sich bei der Partnerwahl sozial eher nach oben orientieren. Für Frauen war es also einfacher, auch im Westen selber Familien zu gründen, während Männer nicht selten frustriert und partnerlos zurückkehrten. Das belegen die Zahlen: Bei mehr als zwei Drittel aller Ost-West-Ehen heirateten West-Männer Ost-Frauen. Frauen haben damals auch eine größere Flexibilität an den Tag gelegt, der Wechsel von der Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft fiel ihnen leichter, weil es mehr Jobs für sie gab. Die Männer hingen eher an dem proletarischen Typus fest.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie 1990 mit Ost und West zwei völlig unterschiedliche Mentalitäten und Prägungen zusammenkamen: eine ethnisch weitgehend homogene Arbeitergesellschaft und eine von Individualisierung geprägte Wohlstandsgesellschaft. Wie wirken sich die Unterschiede bis heute aus?

Die Ostdeutschen erlebten 1990 eine relative soziale Deklassierung, sie wanderten kollektiv in eine wohlhabendere und statusmäßig höher gestellte Gesellschaft ein. Das wächst sich nur sehr langsam aus. Die Sozialisation prägt enorm. Mir ist das früher nie aufgefallen, aber ich erlebe mitunter, dass ostdeutsche Studierende sagen, sie wollen das Studium abbrechen, weil sie sich an der Universität fremd fühlen und die Debatten mit den eigenen Lebenswelten wenig zu tun haben. Da sehe ich schon eine Ost-West-Diskrepanz. Ein Kollege aus Leipzig sagte neulich, seine Oststudenten seien wesentlich angepasster als die Kommilitonen aus dem Westen. Vieles wächst sich aus, manches aber bleibt.

Die DDR beschrieb sich selbst als Arbeiter- und Bauernstaat. Sie schreiben in Ihrem Buch, Ende der 80er-Jahre seien kaum noch Arbeiterkinder an den DDR-Universitäten gewesen. Wie passt das zusammen?

In den 50er-Jahren war die DDR eine Aufsteigergesellschaft: Menschen aus einfachsten Schichten machten Abitur und kamen an die Hochschule. Aber so ein Programm funktioniert nur eine Generation lang, sonst müsste man immer wieder einen Umbau der Sozialstruktur vornehmen. In den 70er-Jahren fing es an, dass die Akademiker, die sozialistische Intelligenz, anfingen, sich selbst zu reproduzieren, sie versuchten, ihre Kinder an die Hochschulen zu bringen. Das führte dazu, dass sie Arbeiterkindern den Platz wegnahmen. Hinzu kam, dass die DDR ein Land war, das zwischen 1970 und 1989 die Zahl der Studienplätze reduziert hat. 1980 durften nur elf Prozent eines Jahrgangs an die Universität.

Bis heute gilt das DDR-Bildungssystem als vorbildlich.

Heute gibt es eine große Gruppe von jungen Menschen, die ohne beruflichen Abschluss ins Leben starten, etwa 14 Prozent, das gab es in der DDR nicht. Fast alle haben eine gute Allgemeinbildung genossen und sind ausgebildet worden, selbst wenn sie mit der achten Klasse abgegangen sind. Was man auch bedenken muss: Arbeiter sein in der DDR hieß, kulturell teilzuhaben, auch Arbeiter hatten Bücherregale zu Hause, gingen ins Theater. Kultur und Bildung spielte eine große Rolle, darauf hat die DDR auch geachtet. Es gab mal eine Studie in den Neunzigern, da wurde gefragt, wer in seinem Leben noch nie in der Bibliothek war. Da war der Anteil im Westen doppelt so hoch wie im Osten.

War das Bildungssystem der Bundesrepublik durchlässiger?

Das kann man so nicht sagen. Es gab in den 70er-Jahren eine Bildungsexpansion, eine Öffnung, die es auch dem oft zitierten katholischen Arbeitermädchen vom Lande ermöglichte, an die Universität zu gehen. Der Anteil der Menschen, die einen Hochschulabschluss geschafft haben, wurde viel größer. Das heißt, über die Zeit stieg der Anteil der Akademiker, das führt wiederum zu Schließungsprozessen. Man könnte das nur aufhalten, wenn man hinnehmen würde, dass nicht alle Akademikerkinder Abitur machen. Aber es gibt in bürgerlichen Kreisen geradezu eine Bildungspanik: Nur die Wenigsten möchten ihre Kinder ohne Hochschulabschluss ins Leben starten lassen. Das ist in unteren Schichten anders, was auch mit den Kosten einer längeren Ausbildung zu tun hat.

Ich habe den Eindruck, es gibt im Arbeitermilieu diesen Aufstiegswillen oft gar nicht mehr, weil man sowieso fürchtet, keine Chance zu haben.

Der Herkunfts-Effekt schlägt früh durch. Wenn es Konkurrenz um knappe Plätze in den guten Schulen gibt, setzen sich diejenigen durch, die eher mit kulturellem Kapital ausgestattet sind. Das sind diejenigen, die Unterstützung von ihren Eltern bekommen. Es gibt Studien, die sagen, dass schon Erziehungsstile im Mittelschichtshaushalt anders sind als im Arbeiterhaushalt. In Mittelschichtshaushalten  werden Kinder eher zu Verhandlungspartnern, es gibt viele Förderungsangebote, es entwickelt sich so etwas wie eine Anspruchshaltung gegenüber der Welt, die auch in den Bildungsinstitutionen artikuliert wird. In den unteren Schichten herrscht ein Konzept von „natural growth“: Man lässt die Kinder einfach heranwachsen. Die Interaktion findet eher im Anweisungs- und Befehlston statt, es wird weniger argumentiert und erklärt. Das führt dazu, dass Kinder sich eher anpassen. Die unterschiedlichen Codes bevorteilen die Mittelschichtskinder, weil sie gegenüber Lehrern und Professoren anders auftreten können. Jemand, der vom Humanistischen Gymnasium kommt, der tritt viel selbstbewusster auf und diskutiert auf Augenhöhe.

Ostdeutsche besetzen nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Medien. Überrascht Sie diese Zahl?

Die Zahl ist schockierend. Es gibt eine extreme Unterrepräsentation von Ostdeutschen. Ich sehe als Grund vor allem strukturelle Benachteiligungen, die in der DDR und der Nachwendezeit liegen und die dafür sorgen, dass Ostdeutsche im Wettbewerb oft unterlegen sind. Es war der größte Fehler der Wiedervereinigung, dass nicht in die Köpfe investiert wurde. Man hat den Ostdeutschen nicht zugetraut, dass sie schnell dazulernen können. Nach 1990 wurden viele Spitzenjobs von Westdeutschen besetzt, meist von Männern, das ist etwas, das bis heute Gültigkeit hat. Selbst im Osten sind drei Viertel der Elite Westdeutsche, vom Sparkassendirektor bis zum Hochschulrektor. Wenn sich zwei unterschiedliche Gesellschaften vereinigen, eine Arbeitergesellschaft und eine Mittelschichtsgesellschaft, dann setzt sich die Mittelschicht durch. Für Ostdeutschland kommt noch hinzu, dass es keine großen Unternehmen mehr gab.

Warum hätten sich nicht zumindest in manchen Bereichen die Eliten vereinigen können?

Man hätte Hybridmodelle bilden können, auch Tandems. Es wäre toll gewesen, wenn es ein großflächiges Programm für Ostler gegeben hätte, die in Westverwaltungen und Betrieben für ein paar Monate Weiterbildungen absolvieren. Es gab auch kein eigenständiges Stipendienprogramm für ostdeutsche Studierende. Ich habe an einer Elitehochschule in Florenz promoviert, als ich 1998 dort ankam, war ich der erste Ostdeutsche. Die Ostdeutschen hatten oft nicht die Netzwerke. Man darf aber auch nicht unterschätzen, dass es ein Eigeninteresse des Westens gab. Die Vereinigung war ein Karriereschub für die Westdeutschen! Der Osten bot plötzlich vielen, die in der zweiten Reihe standen, unfassbare Aufstiegschancen.

Es gab und gibt aber auch ostdeutsche Vorzeigekarrieren.

Das sind Leute, die früh in den Westen gegangen sind. Viele, die geblieben sind, traf dann der Umbau. Das ist besonders bitter für diejenigen, die zu Wendezeit zwischen Ende 20 und 40 waren. Viele haben für die politische Wende demonstriert, gegen die Enge der DDR gekämpft. Dann dachten sie 1990: Jetzt geht es los, Freiheit, aber dann sind sie erst mal aussortiert worden und landeten im Maßnahmen-Karussell. Sie haben lange gebraucht, zurecht zu kommen und empfinden heute doppelte Benachteiligung: Erst stießen sie in der DDR auf eine blockierte Gesellschaft, danach kamen sie auch nicht zum Zug.

Sind das auch potenzielle AfD-Wähler?

Man darf das nicht verallgemeinern, aber klar, es gibt da ein Frustpotenzial, das die AfD aufgreift.

Ich werde von Westdeutschen oft gefragt, warum denn nicht mehr Menschen nach 1990 die Chancen ergriffen, die sich ihnen boten.

Die späte DDR war extrem mobilitätsblockiert, die Alten besetzten überall die Spitzenpositionen, man kam nicht mehr weiter. Das war auch mit ein Grund, warum die Leute auf die Straße gegangen sind. Die Annahme war, wenn die Bleiplatte sich öffnet, dann müsse es eine Umschichtung nach oben geben. Die Wiedervereinigung brachte aber weniger Aufstiegschancen für die mittlere und jüngere Generation. Betrachtet man die Wahrscheinlichkeit von Aufstiegen zwischen den Generationen, schneiden ostdeutsche Männer am schlechtesten ab. Während in den Neunzigern etwa jeder dritte Sohn eine bessere Klassenposition erreichte als sein Vater, gelingt dies heute nur einem Viertel – in Westdeutschland liegt dieser Wert bei 38 Prozent. Bei den Ostdeutschen ist ein Drittel im Vergleich zu den Eltern abgestiegen. Das ist ein hoher Wert, vor allem, wenn man bedenkt, dass die DDR eine einfache Werktätigengesellschaft war. Daraus kann man auch Erfahrungen der Enttäuschung und des Abgehängtseins erklären.

Woran liegt es, dass auch die jüngeren Ostdeutschen offenbar nicht aufsteigen?

Gerade, weil man für die Himmelsrichtungen blind ist, setzen sich Westdeutsche automatisch durch. Sie haben andere Elternhäuser, mehr Kontakte.  Aufstieg liegt nicht nur an Talent und Leistungsbereitschaft. Ein wichtiger Faktor ist Glück. Und Glück ist sehr ungleich verteilt. Und man weiß ja, wie wichtig Netzwerke sind: Freunde von Eltern können einem ein Praktikum in einem tollen Betrieb beschaffen oder in einer Zeitungsredaktion. Das können viele ostdeutsche Eltern nicht. Nach wie vor gilt im Osten, dass man dort auch nicht so gut Karriere machen kann. Die meisten Unternehmen sind kleinteilig. 

Sie schreiben, dass die westdeutschen Eliten, die in den Osten kamen, zwar Sachkenntnis hatten, aber in den Regionen fremd blieben. Was meinen Sie damit?

Die Westdeutschen sind in den 90er-Jahren als Retter gekommen und da gab es verschiedene Typen, sie stammten eher aus bürgerlichen Kreisen, waren besser gebildet, finanziell gut versorgt.

Sie fielen schon optisch im Stadtbild auf.

Genau, der Westdeutsche trug den langen wehenden Mantel und der Einheimische einen Anorak. Der eine verkörpert die weite Welt, der andere die Provinz. Sie trafen auf die arbeiterliche Gesellschaft. Da gab es viele Konflikte, die Anlässe konnten manchmal ganz banal sein: Wann fängt man an zu arbeiten, früh um sieben, wie im Osten üblich,  oder um neun? Teile dieser neuen Transfereliten haben sich regional gebunden, durch Heirat oder Familiengründungen. Aber sie haben sich nicht angepasst, sondern  ihren Habitus behalten. Das begründet auch die Distanz der Masse zu diesen Transfereliten. Hinzu kam, dass sie völlig verschiedene Erfahrungen machten: Die Ostdeutschen wurden arbeitslos, die Westdeutschen wurden Chefs. Viele Westdeutsche kamen als Heilsbringer, als diejenigen, die alles wussten, alles konnten. In dem Maße, in dem auch die Heilsbringer nicht geliefert haben, die wirtschaftliche Lage schwierig blieb, drehte sich die Stimmung, man sah, dass die westdeutschen Eliten auch nicht über Nacht alles gehalten haben, was versprochen wurde.

Was hätten die Wessis anders machen sollen?

Es gibt ja tolle Beispiele, von Leuten, die sich leidenschaftlich engagiert haben. Es gab aber auch Leute, die die Position im Osten nur als Durchgangsstation gesehen haben. Gerade in kleinen, nicht so attraktiven Städten. Die blieben drei vier Jahre und sind dann weitergewandert. Der Kontakt blieb oberflächlich.

Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan hat die These aufgestellt, dass Ostdeutsche und Migranten ähnlich diskriminiert werden. Sehen Sie diese Analogien auch?

Das sind Gedankenspiele, sie erklären gesellschaftlich wenig. Gewiss: Es gibt eine mediale Darstellung von Ostdeutschen die nicht immer schmeichelhaft ist.  Aber gegenüber Ostdeutschen gibt es keinen Rassismus, keine Abwertung oder Diskriminierung der Person aufgrund ihrer Herkunft.

Würde eine Ost-Quote helfen?

Da bin ich zurückhaltend. Ich bin sonst Befürworter von Frauenquoten, wenn es nicht voran geht, aber bei Ost und West bin ich skeptisch. Es sind so viele Westdeutsche in den Osten gezogen, haben dort Kinder. Wer ist heute Ostdeutscher? Was ist eine Spitzenposition? Das ist doch schwierig festzustellen. Bei der Besetzung von Positionen sollte es mehr darum gehen, die Lebensumstände und den zurückgelegten Weg zu betrachten. Eine Frau aus einer Bauernfamilie in Bayern, die sich auf eine Professur bewirbt, hat eine größere Lebensenergie aufgewendet als der Professorensohn, der in die Fußstapfen seines Vaters tritt. Wenn man ostdeutsche Eliten fördern wollte, ginge das auch ohne Quoten.

Am Montag, den 16. September, um 20 Uhr unterhält sich Steffen Mau in der Urania Berlin mit seinem Kollegen Herfried Münkler über den Osten nach 1989. 


Nota. - "Es war der größte Fehler der Wiedervereinigung, dass nicht in die Köpfe investiert wurde" -  er ahnt ja nicht wie wahr er spricht; ich meine: in welchem Umfang es wahr ist. 

Und so, wie er es sagt, klingt es, als sei es ein Versäumnis des Westens gewesen. Die meisten, die ich getroffen habe, wollten aber gar nicht, dass in ihre Köpfe investiert würde, und sich stattdessen "ein bisschen was von unserer DDR-Idenität bewahren".
JE


Sonntag, 22. September 2019

Das Ressentiment und seine Profiteure.


aus FAZ.NET, 21.09.2019

Woher die schlechte Laune? 

Ein Kommentar von Frank Pergande, Berlin 

Steht es dreißig Jahre nach dem Ende der DDR wirklich so schlimm mit der deutschen Einheit und dem Osten? Nein. Die krasse Fehleinschätzung hat auch etwas mit denen zu tun, die heute die politische Meinung im Osten mitprägen.

Was Politiker und Wissenschaftler derzeit über den Osten mitzuteilen haben, klingt nicht gut. Kritisiert wird, dass ostdeutsche Biographien nicht genügend anerkannt würden, Löhne und Renten zu schlecht ausfielen, Altersarmut drohe. Es ist die Rede von Übernahme durch den Westen, Demütigung, gesellschaftlichen Frakturen, neue Spaltungslinien, Verbitterung, Unmut, Fliehkräften. Man reibt sich die Augen. Schon der bloße Augenschein widerlegt solche Reden.

Die blühenden Landschaften sind da, im übertragenen wie im Wortsinne. Die Wirtschaft wächst genau wie Lebensqualität und Einkommen. Die Renten im Osten sind höher als die im Westen. Altersarmut ist eher ein West-Problem, auch wenn immer wieder das Gegenteil behauptet wird. Die Infrastruktur im Osten ist oft besser als im Westen. Der Osten ist lebendig, liebens- und lebenswert. Nicht überall, klar. Es gibt, wie heute gern gesagt wird, „abgehängte Regionen“. Aber das gilt genauso für den Westen – und ist politisch längst als großes Thema erkannt.
Woher also kommt die krasse Fehleinschätzung, im Osten sei alles düster, perspektivlos und womöglich auch noch politisch braun oder wenigstens blau? Und schuld sei der Westen? Eine Antwort findet sich, wenn man auf jene schaut, die heute die politische Meinung im Osten mitprägen. Etwa Manuela Schwesig, die Ministerprä- sidentin von Mecklenburg-Vorpommern. Oder Martin Dulig, der Wirtschaftsminister in Sachsen. Aber auch Christian Hirte, der Ost-Beauftragte der Bundesregierung.

Oder der Soziologe Stefan Mau und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, die beide soeben bemerkenswerte Studien über den Osten vorgelegt haben. Sie alle sind so jung, dass sie die DDR nur noch als Kinder oder junge Erwachsene erlebt haben. Sie haben deshalb wenig Erfahrungen mit dem, was die DDR wirklich war. Dafür umso mehr mit dem schwierigen Übergang in den neunziger Jahren, mit Lebensumbrüchen, Massenarbeitslo- sigkeit und Treuhand. Ihnen fehlt die sinnliche Erfahrung, dass all das weniger das Ergebnis einer kalten westlichen Übernahme war, sondern vielmehr der DDR geschuldet ist, einem Gesellschaftssystem, das über Jahrzehnte hinweg stillstand und mit dem Mauerfall von jetzt auf gleich seine Bewohner unvorbereitet in die westliche Globalisierung entließ.

Man höre nur einmal Schwesig, Dulig oder Hirte zu, wenn sie von der DDR sprechen. Es klingt wie angelesen oder von anderen erzählt. Aber wenn sie von der Zeit nach der Wiedervereinigung reden, schwingt Persönliches mit, im Positiven wie im Negativen. Das ist kein Vorwurf, sondern der normale Lauf der Zeit. Auch die Studien von Mau und Kowalczuk sind unbedingt empfehlenswert. Aber etwas mehr Stolz darauf, dass das DDR-Erbe immer mehr verschwindet, wäre schon angemessen. Und vielleicht auch der Hinweis, dass nichts einfach so aus dem Westen kommt wie früher die Pakete. Dort, wo die Leute ihre Geschicke selbst in die Hand genommen haben, wächst etwas; wer nur wartet, wird immer enttäuscht. Der Ost-Beauftragte Hirte zieht am Ende doch den richtigen Schluss. Er sagt mit Blick auf die ostdeutsche Entwicklung, mehr gute Laune und Zuversicht würden dem Osten schon guttun. Recht hat er.


Nota. -  Das Ressentiment ist real, das gibt es wirklich. Aber es wäre längst am Schwinden, wenn nicht die, die es zu bekämpfen berufen sind, ihren Vorteil darin fänden, es anzufachen und auszuschlachten; die einen der Auf- lagen wegen, die andern wegen der nächsten Wahl. Und Frank Pergande hat Recht: Da sind nicht nur jene zwei Parteien, von denen die eine der andern gerade den Rang abläuft, sondern auch die andern, die verschämt mit- schleichen in Angst, ihre verbliebenen Wähler nicht auch noch zu verlieren.

"Die Lebensleistungen anerkennen": Was ist geleistet worden? Ein Staat, eine Gesellschaft, die immer nur wei- ter verrotteten und ihnen am Ende überm Kopf... nein, nicht zusammengebrochen, sondern schlicht und einfach verflogen ist. Worauf sie stolz sein könnten - nein, natürlich nicht alle gleichermaßen -, ist, dass trotz allem "das DDR-Erbe immer mehr verschwindet"; auch damit hat Pergande Recht.

Wenn ich Ihnen einen Politiker oder Publizisten nennen sollte, der dazu  beigetragen hätte - dann fällt mir keiner ein. Gauck ist ja Pfarrer und keins von beiden.
JE



Mittwoch, 2. Oktober 2019

Die Ostdeutschen waren schon im Hintertreffen, bevor es die DDR gab.


aus Spiegel-online

... Als Seismograph für die Situation in Deutschland eignet sich das Onlinelexikon Wikipedia. Darin gibt es Artikel über Zehntausende Deutsche wie den Tennisspieler Boris Becker oder die Schauspielerin Christiane Paul. Wer eine gewisse Bekanntheit erreicht, wird über kurz oder lang auf Wikipedia landen. In den meisten Fällen hängt dies mit der beruflichen Karriere der betreffenden Person zusammen.

Daten von 35.000 Personen analysiert

Eine SPIEGEL-Datenanalyse zeigt nun, dass Ostdeutsche auch im Onlinelexikon Wikipedia unterrepräsentiert sind. Liegt der Geburtsort einer Person in Westdeutschland, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass über diese Person ein eigener Wikipedia-Artikel existiert.

Die Datenanalyse umfasst alle Personenartikel in der deutschsprachigen Wikipedia mit einem Geburtsjahr von 1960 bis 1999 - und einem identifizierbaren Geburtsort innerhalb der Grenzen des heutigen Deutschlands. Dies sind fast 35.000 Personen. Um die regionale Wikipedia-Quote zu berechnen, wurde die Zahl der Personen mit Wikipedia-Artikel jeweils durch die Anzahl der in der Region Geborenen dividiert.

Die Auswertung zeigt: Westdeutsche sind auf Wikipedia deutlich präsenter als Ostdeutsche - vor allem in den Jahrgängen von 1960 bis 1985. Im Jahrgang 1960 gibt es über 12 von 10.000 in Westdeutschland Geborenen einen Personenartikel - unter den Ostdeutschen ist die Quote nur halb so hoch.

[um das Diagramm anzusehen, klicken Sie bitte hier.]

Ab dem Jahr 1990 sind die Quoten nahezu identisch. Allerdings sind aus diesen Jahrgängen nur relativ wenige Personen auf Wikipedia vertreten, weil sie mit ihrer Karriere noch ganz am Anfang stehen. 

Interessante Rückschlüsse erlaubt die separate Auswertung nach Bundesländern. Die Wikipedia-Quote wurde dabei über alle Jahrgänge von 1960 bis 1999 zusammen berechnet - siehe folgendes Diagramm:
Hamburg
19,7
Berlin
18,6
Bremen
13,9
Hessen
9,8
Bayern
9,7
Baden-Württemberg
9,4
Nordrhein-Westfalen
9,3
Rheinland-Pfalz
8,4
Saarland
8,2
Schleswig-Holstein
7,8
Niedersachsen
7,2
Thüringen
7,2
Sachsen
7,2
Mecklenburg-Vorpommern
6,8
Brandenburg
6,6
Sachsen-Anhalt
5,6
 
Auffällig sind dabei zwei Dinge:

  • Die höchsten Quoten erreichen die Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen. Berlin umfasst dabei Ost- und Westberlin, weil eine präzise Aufteilung der Personen in Ost und West nicht möglich war.
  • Auf den letzten Plätzen landen die fünf neuen Länder. Der Rückstand zu Niedersachsen und Schleswig-Holstein ist jedoch nur minimal.
Der Görlitzer Sozialwissenschaftler Raj Kollmorgen liefert eine interessante Erklärung für dieses Ranking: "Die unterdurchschnittliche Präsenz Ostdeutscher hat weniger mit der DDR als mit den Strukturen zu tun, die sich in Deutschland seit dem Mittelalter entwickelt haben." Der Osten Deutschlands sei deutlich stärker ländlich geprägt als der Westen. Daher seien großstädtische Sozialmilieus, die den "Humus moderner elitärer Kulturen" darstellten, deutlich weniger präsent.

[um das Diagramm anzusehen, klicken Sie bitte hier.] 

Für Kollmorgens These spricht, dass Niedersachsen, Schleswig-Holstein, das Saarland und Rheinland-Pfalz kaum besser abschneiden als die fünf neuen Länder. Überall dort, wo große Metropolen fehlen und ländliche Strukturen dominieren, gibt es weniger Menschen mit eigenem Wikipedia-Artikel.

"Gefeierte Erfinder, bekannte Künstler"

"Das ist ein soziodemografischer Effekt", meint Kollmorgen. Es seien vor allem die Bevölkerungen urbaner und großstädtischer Räume, deren Kinder gefeierte Erfinder würden, bekannte Künstler, Politiker oder erfolgreiche Unternehmer. "Daher muss Ostdeutschland mit seiner ländlichen Prägung schlechter abschneiden als Westdeutschland."

Wie sehr sich vor allem Großstädte vom Rest des Landes unterscheiden, zeigt der Blick auf die Wikipedia-Quoten der derzeit 15 größten Städte Deutschlands. Spitzenreiter ist demnach München mit 30 Wikipedia-Personen-Artikeln je 10.000 Geborene - für ganz Bayern beträgt die Quote 10.

München
29,9
Frankfurt am Main
25,2
Stuttgart
23,3
Hannover
21,0
Hamburg
19,7
Köln
19,3
Berlin
18,6
Düsseldorf
18,4
Dresden
14,8
Nürnberg
14,4
Leipzig
14,4
Bremen
13,9
Bochum
12,3
Essen
10,6
Duisburg
9,9
Dortmund
9,1


Dresden und Leipzig belegen im Städteranking die Plätze 9 und 11 (Quote 14 bis 15). Beide sächsischen Städte liegen damit vor Bremen, Bochum, Essen, Duisburg und Dortmund. Dass die Ruhrpottmetropolen vergleichsweise schlecht dastehen, liegt offenbar an ihrer besonderen sozialen Struktur. In den traditionellen Arbeiterstädten gibt es keine so starke bürgerliche Schicht wie in München, Köln oder Berlin.

Artikel über sich selbst angelegt?

Über welche Personen gibt es überhaupt Artikel auf Wikipedia? Schaut man sich die Beschreibungen genauer an, fällt auf, dass viele aus dem Bereich Unterhaltung, Medien und Sport stammen. Vergleichsweise selten sind hingegen Wissenschaftler, Politiker und Manager. Folgendes Diagramm zeigt die Verteilung der in der jeweiligen Kurzbeschreibung zuerst genannten Berufe beziehungsweise Tätigkeiten:

[um das Diagramm anzusehen, klicken Sie bitte hier.]

Praktisch in allen Berufen und Tätigkeiten kommen Westdeutsche auf eine deutlich höhere Wikipedia-Quote als Ostdeutsche - siehe folgendes Diagramm. Die einzigen Ausnahmen sind Sport - die DDR hat Leistungssport massiv gefördert - und Politik. 

West
Ost
Sport
3,3
3,4
Schauspiel
1,5
0,9
Journalismus/Autor
1,4
0,6
Politik
1,0
1,0
Musik
1,0
0,5
Geisteswiss.
0,5
0,1
Naturwiss./Medizin
0,4
0,1
Kunst
0,3
0,2
Wirtschaft
0,3
0,1

Personen-Artikel je 10.000 Geborene, Mehrfachnennungen bei Berufen möglich

...

Bloß keine Experimente!

Eine generelle Erklärung für die Ost-West-Unterschiede dürfte auch das größere Selbstvertrauen und die größere Risikofreude der westdeutschen Eliten darstellen. "Die Eltern Ostdeutscher raten nach ihren schlechten Erfahrungen in der Nachwendezeit dazu, sichere Wege zu gehen", erklärt Hildebrandt. Das Motto laute: Bloß keine Experimente! Um in Führungsjobs zu kommen, brauche man aber einen Schuss Risikolust.

Diese Risikofreude ist auch nötig, um künstlerische Berufe wie Schauspieler oder Musiker zu ergreifen, was im Westen laut den Wikipedia-Daten häufiger geschieht als im Osten. Womöglich spielt dabei auch die bessere finanzielle Absicherung über Eltern oder Partner eine Rolle. Dies lässt sich anhand der Wikipedia-Daten und wegen der Vielzahl der Personen jedoch kaum klären.

Die Potsdamer Bildungsforscherin Hildebrandt und ihr Görlitzer Kollege Kollmorgen sind sich auf jeden Fall einig darüber, dass dem Osten die Eliten fehlen, um präsenter in Spitzenjobs zu sein. Im Osten habe es keine bürgerliche Oberschicht gegeben, die selbst- und machtbewusst auftritt, sagt Kollmorgen. "Ein Elitenbewusstsein wurde in der DDR nicht gefördert, es passte nicht zur Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates." Den Ostdeutschen fehle vor allem der Stallgeruch der Macht, ein Habitus der Herrschaft.

Kollmorgen verweist zudem auf die massive Abwanderung aus Ostdeutschland nach 1945 - siehe folgendes Diagramm. Ein Großteil des Besitz- und Bildungsbürgertums sei damals in den Westen gegangen. "Es gab einen unglaublichen Abfluss kulturellen Kapitals." Folge: Die Kinder dieser ausgewanderten Ostdeutschen wurden dann im Westen geboren und machten dort Karriere.

[um das Diagramm anzusehen, klicken Sie bitte hier.] 

Letztlich, auch das zeigen die Wikipedia-Daten, gibt es nicht nur ein Ost-West-Gefälle in Deutschland. Sondern auch eines zwischen Nord und Süd, zwischen Stadt und Land sowie zwischen kriselnden und boomenden Regionen. Wer in Heidelberg, Köln oder München geboren wird, hat bessere Karrierechancen als Menschen aus Dessau, Gelsenkirchen oder Bremerhaven. 



Samstag, 30. Mai 2015

Unsere innere DDR.



Im Sommer 1990 wuchs zusammen, was zusammengehörte. Sie erkannten sich am Geruch und wollten einander die gemeinsame Identität bewahren. Im wiedervereinigten Öffentlichen Dienst hat sich die Bundesrepublik Deutschland ihre Innere DDR erhalten. 

Es war keine Wiedervereinigung, sondern ein Anschluss? O, da habt ihr mehr Recht, als ihr zugeben mögt. Wir wurden ans Staatsorgan angeschlossen. Die Zeche für die Wiedervereinigung zahlen seit einem Vierteljahr- hundert wir Westler. Der frechste und perfideste Feind von Staat und Gesellschaft ist die Bürokratie.


 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.




Montag, 15. April 2019

Der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte.

 aus welt.de, 5. 4. 2019                                                                          Dresden

Das Ruhrgebiet ist das neue Armenhaus DeutschlandsTeile Deutschlands werden sich weiter entvölkern, warnen Forscher. Während die am wenigsten zukunftsfähigen Kreise im Westen liegen, haben sich Teile Ostdeutschlands überraschend gut entwickelt. Doch auch ihre Erfolgsgeschichte ist akut gefährdet.



Deutschlands Bevölkerung schrumpft und altert, das ist bekannt. Oder doch nicht? Eine aktuelle Untersuchung bestätigt jetzt, was sich schon seit Längerem abzeichnet: Die verstärkte Zuwanderung vor allem aus dem EU-Ausland und ein überraschender, seit Jahren anhaltender Babyboom sorgen dafür, dass die Bevölkerung hierzulande bis zum Jahr 2035 stabil bleiben wird.

Dann werden in Deutschland 82,3 Millionen Menschen leben, schreiben die Autoren der aktuellen Bevölkerungsprognose des gemeinnützigen Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die Bevölkerung sinke damit um weniger als ein Prozent und weit weniger stark als lange erwartet.

Diese überraschend positive Entwicklung kann allerdings nicht verhindern, dass Teile des Landes weiter entvölkern, warnen die Forscher. Es sei absehbar, dass vor allem in ländlichen Gebieten und ganz besonders denen in Ostdeutschland die Bevölkerung weiter schrumpfen und überdurchschnittlich stark altern werde.

 
Quelle: Infografik WELT

Die Autoren der Studie sprechen gar von „demografischen Krisenregionen“ in Ostdeutschland. Einzelne Landkreise in Brandenburg und Sachsen-Anhalt, die jetzt schon dünn besiedelt und überdurchschnittlich alt sind, könnten bis 2035 ein Viertel ihrer jetzigen Bevölkerung verlieren.
 
Die Großstädte hingegen, die mit ihren Hochschulen und innovativen Unternehmen jetzt schon Magnete vor allem für junge Menschen sind, wüchsen weiter, heißt es von den Forschern des CIM, die im Auftrag des Berlin-Instituts die Berechnungen angestellt haben. Die großen Metropolen und Uni-Städte wie Heidelberg, München, Frankfurt am Main, Münster und Regensburg profitieren dabei doppelt: Die Bevölkerungen wachsen nicht nur, sie sind auch überdurchschnittlich jung.

Quelle: Infografik WELT  

Stadt boomt, Land schrumpft – diese Entwicklung wird in den kommenden Jahrzehnten eine der dominierenden Trends hierzulande sein und Jobs, Mieten, Gesundheitsversorgung und viele weitere Lebensbereiche beeinflussen. Dabei gebe es eine relativ einfache Regel, um die Entwicklung vorherzusagen, sagt Manuel Slupina, Leiter der Abteilung Demografie am Berlin-Institut: „Je entlegener eine Region, desto stärker der Bevölkerungsrückgang.“ 

Von der Regel gibt es allerdings auch Ausnahmen: Die Landkreise Cloppenburg, Emsland und Vechta in Niedersachsen gehören dazu. Abseits gelegen und in Grenznähe, galten sie vor einigen Jahrzehnten als armutsgefährdet. 

„Der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte“
 
Das ist vorbei: Ausgerechnet um die Landwirtschaft herum haben findige Unternehmer dort äußerst profitable Wertschöpfungsketten aufgebaut. Es gibt dort Jobs, gute Einkommen und offenbar eine hohe Lebensqualität: Die Familien hier haben viele Kinder, und junge Menschen aus der Region kommen nach Studium und Ausbildung zurück, um Familien zu gründen.
 
Kein Wunder, dass die Region den Forschern auch als besonders zukunftsfähig gilt: Um herauszufinden, wie gut alle 401 Landkreise und kreisfreien Städte hierzulande auf die kommenden Jahrzehnte vorbereitet sind, haben die Wissenschaftler Wirtschaftsdaten, Bevölkerungsentwicklung und soziale Infrastruktur untersucht.


Quelle: Infografik WELT

Wenig verblüffend landen Landkreise aus Bayern und Baden-Württemberg in der Rangliste der Kreise mit den besten Zukunftsaussichten ganz weit vorne. Erstaunlich allerdings ist deren Dominanz: Von den 20 am besten aufgestellten Kreisen hierzulande liegen 19 in den beiden wirtschaftsstarken süddeutschen Bundesländern; allein die Stadt München und drei angrenzende Landkreise belegen vier der sechs ersten Plätze.

Lediglich auf Platz 15 taucht eine Stadt aus einem anderen Bundesland auf: Dresden. Die sächsische Kulturmetropole sei dynamischer als häufig vermutet, sagt Institutschef Klingholz. Frauen bekommen dort überdurchschnittlich viele Kinder, was für eine familienfreundliche Stadt spreche, die Universität ziehe viele junge Leute an, und um Dresden habe sich eine florierende Hightech-Industrie gebildet. Jeder zweite in Europa hergestellte Mikrochip komme beispielsweise aus Silicon Saxony

Das Ruhrgebiet hat den Niedergang von Kohle und Stahl bis heute nicht wirtschaftlich verkraftet
Das Ruhrgebiet hat den Niedergang von Kohle und Stahl bis heute nicht wirtschaftlich verkraftet

Die gute Lage in Dresden unterstreicht einen der zentralen Befunde der Untersuchung, den Institutsleiter Klingholz bei der Vorstellung der Ergebnisse mehrfach betont: „Der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte.“ Das zeigt ein Blick auf die am wenigsten zukunftsfähigen Kreise. Bei der vorletzten Untersuchung dieser Art aus dem Jahr 2006 lagen 19 der 20 am schlechtesten bewerteten Kreise in Ostdeutschland. Im Jahr 2011 waren es nur noch 14, und in diesem Jahr sind es nur noch fünf. 
 
Am Ende des Rankings finden sich jetzt Kreise und Städte aus dem Ruhrgebiet und dem Saarland. „Der Osten holt auf, aber dem Aufbau Ost steht ein Abstieg West gegenüber“, sagt Klingholz.  

Die Armenhäuser Deutschlands lägen nicht mehr im Osten wie nach der Wende, sondern in Westdeutschland, in den Regionen, wo der Niedergang von Kohle und Stahl bis heute nicht wirtschaftlich verkraftet ist: im Ruhrgebiet und im Saarland. 

München  
Deutschland – wie es sich verändert hat
   
Die demografische Entwicklung könnte die ostdeutsche Erfolgsgeschichte allerdings gefährden, denn die Zuwanderung und der aktuelle Babyboom werden die Alterung hierzulande nicht aufhalten. So wird die erwerbsfähige Bevölkerung in Deutschland weiter schrumpfen, und das wird besonders Ostdeutschland treffen, wo nach der Wende viele junge Menschen in den Westen gezogen sind und die Geburtenraten in den Keller sackten.
 
Dem Osten gehen die Menschen aus, und das könnte zum Problem werden, wenn Firmen kein Personal mehr finden. Schon heute sind in vielen Regionen in Ostdeutschland Arbeitskräfte knapp, und wenn sich diese Situation verschärft, könnten Unternehmen gezwungen sein, zu schließen oder Produktion in andere Regionen zu verlagern. „Das Thema Zuwanderung ist in einigen Gebieten in Ostdeutschland viel dringender als anderswo“, sagt Klingholz. „Wer in Dresden mit einem Transparent auf die Straße geht, sollte nicht weniger Migration fordern, sondern mehr davon.“


Nota. - Dass die Milliarden aus dem Westen die Landschaften nicht über Nacht erblühen ließen, war zu erwar- ten; auch wenn jede Mark in die richtigen Hände gekommen wäre. Viele Junge wollten nicht abwarten und sind in den Westen gegangen. Jetzt blühen die Landschaften, aber die Jungen fehlen, und so welken sie vielleicht bald wieder. Und es wird wieder heißen, der Westen war schuld.
JE



Mittwoch, 28. August 2019

Gefühlt zurückgeblieben.

aus welt.de, 23.08.2019

Das Märchen von den Abgehängten im Osten 
Die Vorstellung, dass die Menschen im Osten beim Gehalt zurückfallen, hält sich hartnäckig. Neue Zahlen zeigen jedoch: Bei den Einkommen holen die östlichen Länder mächtig auf. Dafür leidet die Region an einem ganz anderen Problem.


Die ostdeutschen Länder sind wirtschaftlich hoffnungslos abgehängt, das ist ein Gefühl, mit dem sich
nicht zuletzt die Wahlkämpfer in Brandenburg und Sachsen konfrontiert sehen. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen sei Deutschland weit entfernt, bekommen sie zu hören.

Doch eine aktuelle Auswertung der Zahlen zeigt: Was die Einkommen angeht, schließen die Menschen im Osten immer weiter auf ihre Landsleute im Westen auf, und auch von einem generellen ökonomischen Absterben der Provinz kann keine Rede sein. Wenn es das Gefühl gibt, „abgehängt“ zu sein, hat das meist eine andere Ursache, die nicht direkt mit Lohn und Gehalt und Vermögen zu tun hat.

Wissenschaftler des Ifo-Instituts in München haben die relevanten Daten der vergangenen 20 Jahre ausgewertet und kommen zum Schluss, dass Deutschland generell nicht ungleicher, sondern gleicher wird. Sie konstatieren einen starken Trend: „Die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen zwischen den Regionen ist in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten zurückgegangen“, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest.

Quelle: Infografik WEL

Ein erheblicher Teil dieser Konvergenz sei auf den Aufholprozess Ostdeutschlands zurückzuführen. Zusammen mit Lea Immel hat Fuest die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre analysiert, und zwar nicht nur mit Blick auf Ost und West, sondern auch das Verhältnis von Metropole und Provinz. Die Untersuchung trägt den Titel: „Ein zunehmend gespaltenes Land? Regionale Einkommensunterschiede und die Entwicklung des Gefälles zwischen Stadt und Land sowie West- und Ostdeutschland“.

Die Ifo-Forscher erkennen an, dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik politisch einen hohen Stellenwert hat, auch wenn umstritten ist, „an welchen Indikatoren gemessen werden soll, wann Lebensverhältnisse gleichwertig sind und wann nicht“, merkt Fuest an.

Gerade in der ostdeutschen Provinz hätten Menschen das Gefühl, ökonomisch abgehängt zu sein, nicht nur gegenüber Westdeutschland, sondern auch gegenüber den großen Städten in Ostdeutschland. Sowohl auf Zehn-Jahres- als auch auf Zwanzig-Jahres-Sicht haben sich die verfügbaren Einkommen nirgendwo so stark verbessert zwischen Ostsee und Erzgebirge.




Zwischen 2007 und 2017 (das sind die aktuellsten verfügbaren Daten) führt Sachsen-Anhalt die Liste der Bundesländer mit der stärksten Verbesserung an, und zwar mit einem Zuwachs von 32 Prozent. Deutschlandweit legten die Einkommen in dieser Zeit nur um 22 Prozent zu. Die schwächsten Länder waren Hamburg, Bremen und das Saarland.

Ein anderer Beleg für die Annäherung: Schon 2017 waren die verfügbaren Einkommen im Saarland nur noch unwesentlich höher als in Brandenburg. Angesichts der Tatsache, dass das kleinste Flächenland 2018 mit einer schrumpfenden Wirtschaft konfrontiert war, ist es gut möglich, dass der durchschnittliche Brandenburger vergangenes Jahr mehr Geld zur Verfügung hatte als der durchschnittliche Saarländer, allerdings liegen die Daten für 2018 noch nicht vor.

Das gleiche Ergebnis stellt sich auch ein, wenn nicht die Bundesländer, sondern Kreise und kreisfreie Städte verglichen werden. „Die Ungleichheit unter den Regionen in Deutschland hat den letzten zwei Jahrzehnten entgegen vielen Behauptungen keineswegs zugenommen, sondern ist gesunken“, sagt Fuest.


Quelle: Infografik WELT

Dabei falle auf, dass der Aufholprozess des Ostens seit 2006 stärker ausgeprägt war als in der Zeit zwischen 1994 und 2006. Mit anderen Worten: Gerade im zurückliegenden Jahrzehnt gibt es einen klaren Trend zu mehr Gleichheit, nicht weniger Gleichheit.

In Zahlen sieht das so aus: Im Jahr 1994 ermöglichten die reichsten zehn Prozent der Regionen ein um 57 Prozent höheres Einkommen als als die ärmsten zehn Prozent. Im Jahr 2016 lag diese Einkommensdifferenz nur noch bei etwa 45 Prozent. Beim Vergleich des obersten und untersten Fünftels der Regionen ergibt sich ein Rückgang von 49 Prozent auf 35 Prozent.

Angesichts der Größe der Wohlstandsunterschiede zwischen West und Ost zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung könne man die Auffassung vertreten, dass der Aufholprozess zu langsam verlaufe. „Andererseits ist es nicht richtig zu behaupten, der Abstand zwischen reichen und armen Regionen in Deutschland würde immer größer. Zumindest bei den verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte ist vielmehr das Gegenteil der Fall“, erklärt Fuest. Jedenfalls sei es unangemessen, von einem generellen Trend zu wachsender regionaler Divergenz zu sprechen. 

Die Provinz hält sich wacker gegen die Stadt

Auch die These, dass das platte Land gegenüber der Stadt an Wohlstand einbüßt, lässt sich aus den Daten nicht ableiten. Vielmehr haben sich die Unterschiede zwischen den Regionen in den letzten zwei Jahrzehnten deutschlandweit vermindert. Allerdings machen die Ifo-Forscher eine Einschränkung: Sie stellen fest, dass die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land in Westdeutschland tendenziell zugenommen haben, der starke Aufholprozess der ostdeutschen Provinz gleicht das allerdings mehr als aus.

Die verwendeten Daten stammen aus dem Mikrozensus auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte. „Der auffälligste Befund lautet, dass deutschlandweit das Stadt-Land-Gefälle in den vergangenen zwei Jahrzehnten gesunken ist. Während das Durchschnittseinkommen in der Stadt 1994 noch rund elf Prozent höher war als auf dem Land, lag es 2016 nur noch acht Prozent darüber“, heißt es in der Studie. In der öffentlichen Diskussion herrsche vielfach der Eindruck vor, ländliche Gegenden seien prinzipiell abgehängt, was so nicht der Fall sei.

Das bedeutet allerdings nicht, dass in den Gegenden fern der städtischen Zentren alles zum Besten steht. Die Ifo-Wissenschaftler finden hier auch problematische Entwicklungen, gerade in den neuen Bundesländern: Dörfer und kleine Städte erleiden hier vielerorts Alterung und Wegzug junger Menschen. Laut der Untersuchung ist die Bevölkerungsdichte in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands zwischen 1994 und 2016 um mehr als ein Drittel gesunken. Gleichzeitig ist das mittlere Alter von 38 auf 50 Jahre nach oben gesprungen.

Quelle: Infografik WELT
Zum Vergleich: In den ostdeutschen Städten ist das Medianalter im gleichen Zeitraum nur von 39 auf 43 Jahre gestiegen. „In Westdeutschland gibt es ebenfalls ein demografisches Stadt-Land-Gefälle, es ist aber deutlich weniger ausgeprägt“, heißt es in der Studie. Fuest spricht von einer „wachsenden Divergenz zwischen Stadt und Land insbesondere in Ostdeutschland“. Zwar schrumpfe und altere die Bevölkerung in den ländlichen Regionen auch im Westen schneller. Im Osten schreite der Prozess allerdings deutlich schneller voran.

Ökonomisch ist es strittig, ob es Sinn hat, dem Fortzug der Menschen in größere und dichtere Siedlungen entgegenzuwirken. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) betonte zuletzt die Bedeutung der Regionalförderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch für die dezentrale wirtschaftliche Infrastruktur des Landes. Fuest führt hingegen an, dass Zuwanderung in die Städte ökonomisch durchaus Vorteile mit sich bringt.

Er nennt das „Nutzung von Agglomerationsvorteilen durch Skalenerträge und Wissensexternalitäten“. Insofern sei es ökonomisch nicht ohne weiteres möglich, eine Förderung der ländlichen Räume mit Effizienzargumenten zu rechtfertigen. Zugleich räumt der Ifo-Chef ein: „Politisch finden Maßnahmen zur Eindämmung regionaler Divergenzen in Deutschland jedoch breite Unterstützung.“ Damit solche Maßnahmen erfolgreich sein können, müssten sie jedoch vor allem die Stabilisierung der demografischen Entwicklung der ländlichen Regionen in den Blick nehmen.

Es bleibt eine naheliegende Kritik, dass die verfügbaren Einkommen anders als die Markteinkommen zum nicht geringen Teil durch staatliche Umverteilung beeinflusst werden. Ohne Renten, Kindergeld und andere Ausgleichszahlungen würde sich die finanzielle Situation also deutlich weniger gleich präsentieren.

„In der Tat wären die Einkommensunterschiede zwischen den Regionen deutlich höher, wenn sie nicht durch progressive Einkommensteuer, Sozialversicherungen und Finanzausgleich reduziert würden“, erklärt der Chef des Ifo-Instituts, der zu den angesehensten Ökonomen Deutschlands gehört. Das erkläre aber nicht das Ausmaß, in dem die Einkommensunterschiede zurückgehen. Der Hauptgrund sei eine Konvergenz der realen Wirtschaftskraft pro Kopf.

Was beim Stadt-Land-Vergleich außerdem zu berücksichtigen ist: In der Ifo-Analyse wurden regionale Preisniveauänderungen zum Beispiel durch steigende Wohnkosten in Ballungsräumen nicht berücksichtigt. Die höheren Wohnkosten in den Städten dürften also den Einkommensvorsprung der Städter zum großen Teil aufzehren. Dieser Faktor dürfte in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben, auch und gerade in Ostdeutschland.



Mittwoch, 12. Juni 2019

Die anhaltende Entvölkerung der DDR.

aus welt.de, 12. 6. 2019                    das Dorf Regenmantel, Ortsteil der Gemeinde Falkenhagen im Landkreis Märkisch-Oderland*

Entsiedlung des Ostens - Bevölkerungszahl fällt auf Stand von 1905
Zwar hat die ostdeutsche Wirtschaft seit der Wende stark aufgeholt. Doch das konnte die Abwanderung von Millionen nicht aufhalten. Die Bevölkerungszahl ist auf den Stand von 1905 zurückgefallen. Und Ost und West driften weiter ungebremst auseinander.


 „Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung haben Millionen Ostdeutsche ihre Heimat verlassen“, sagt Felix Rösel, Ökonom am Ifo-Institut in Dresden. Nimmt man die Daten der Statistischen Ämter der Länder als Basis, haben allein von 1991 bis 2008 mehr als zwei Millionen Menschen dem Osten den Rücken gekehrt. In der gleichen Zeit hat die Bevölkerung in Westdeutschland und Berlin um mehr als fünf Millionen zugenommen. 

Nach Rösels Einschätzung waren es nicht originär und nicht allein die akuten Umbrüche der Wendezeit, die zu einer Landflucht führten. Vielmehr nutzten die Mecklenburger, Brandenburger, Sachsen und Thüringer die neue Freiheit, um woanders bessere Jobperspektiven zu finden. Die gleiche Westbewegung hatte es bereits zwischen der Gründung von DDR und dem Mauerbau 1961 gegeben. „Nach dem Fall der Mauer profitierte Westdeutschland ein zweites Mal vom Zuzug junger und gut qualifizierter Menschen aus dem Osten“, sagt Rösel. 

Einwohnerzahlen driften ungebremst auseinander

Inzwischen liegen Ost und West meilenweit auseinander. Der Wissenschaftler spricht von einer nach 1949 gerissenen „Teilungslücke“. Heute hat Westdeutschland eine um 60 Prozent höhere Einwohnerzahl als vor dem Zweiten Weltkrieg, in Ostdeutschland ist die Bevölkerung um 15 Prozent geringer als in den Dreißigerjahren. Tatsächlich ist die Zahl der Menschen, die zwischen Ostsee und Erzgebirge leben, auf die des Jahres 1905 zurückgefallen. Sämtliches Bevölkerungswachstum der vergangenen 114 Jahre ist aufgezehrt worden.

„Die ökonomische Wucht der Teilung Deutschlands in Bundesrepublik und DDR vor etwa 70 Jahren wird bis heute völlig unterschätzt“, erklärt Rösel. Mehrere Wellen von Massenabwanderung aus Ostdeutschland haben dazu geführt, dass die Einwohnerzahlen beider Landesteile bis heute extrem und ungebremst auseinander driften. Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik leben heute so viele Menschen wie niemals zuvor in der Geschichte, nämlich mehr als 70 Millionen. Anfang des 20. Jahrhunderts waren es 44 Millionen.


Nota. - Doch von außerhalb wolln sie keinen haben. 
JE




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