Dienstag, 31. Mai 2022

Bessere Selektionsbedingungen in größeren Gruppen.

 
aus derStandard.at, 29. 5. 2022                Eine Gruppe von Wölfen im Yellowstone National Park. Selbst wenn einzelne Tiere keine eigenen Nachkommen haben, kann die Mitgliedschaft in einer Gruppe die Überlebenschancen und die Chance auf Weitergabe ihrer eigenen Gene erhöhen.

Mitgliedschaft in einer Gruppe steigert die genetische Fitness
Verwandtschaft ist nicht unbedingt für die Entwicklung von selbstlosem (altruistischen) Verhalten nötig

Selbstlosigkeit (Altruismus) bei der Aufzucht von Jungtieren anderer Eltern ist durch na-türliche Selektion erklärbar, denn die eigene genetische Fitness kann dadurch wachsen. Denn selbst wenn Individuen keine eigenen Nachkommen haben, kann die Mitgliedschaft in einer Gruppe die Überlebenschancen und die Chance auf Weitergabe ihrer eigenen Gene steigern, berichtet der österreichische Verhaltensforscher Michael Taborsky. gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen im Fachblatt "Science Advances".

"Bei vielen Tiergesellschaften werden die Jungtiere nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von anderen Gruppenmitgliedern gepflegt, umsorgt und behütet", meinen Taborsky und Irene Garcia-Ruiz vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern: "So-lange es sich um Geschwister handelt, lässt sich die Evolution solcher Fremdbrutpflege leicht durch Verwandtenselektion erklären", meinen sie: "Die Weitergabe der genetischen Anlagen erfolgt über Vollgeschwister nämlich ebenso effizient wie über eigene Nachkommen."

Individualselektion

Es gibt laut den Simulationsmodellen der Forscher aber auch eine biologische Erklärung, wieso Betreuer sich um nicht-verwandte Pfleglinge kümmern. Das ist etwa der Fall, wenn sie von zugewanderten Gruppenmitgliedern stammen. "Dies passiert in vielen Gesellschaften, von sozialen Insekten bis zu Menschen", so die Forscher: "Dann steigert die Vergrößerung der Gruppe die eigenen Überlebenschancen." Hier wirkt also die sogenannte "Individualselek-tion".

Welcher der beiden Selektionsmechanismen in einer Gruppe vorherrscht, wird durch das Rundherum bestimmt, erklären die Biologen: Unter günstigen Umweltbedingungen ist die Verwandtenselektion von großer Bedeutung für die Entstehung altruistischen Verhaltens. "In einer gefährlichen Umwelt spielt Verwandtschaft aber keine große Rolle für die Evolution von altruistischer Brutpflegehilfe", erklärte Taborsky im Gespräch: Dann ist nämlich der eigene Sicherheitsvorteil durch die via Kooperation gesteigerte Gruppengröße wichtiger für die Evolution nicht-elterlicher Brutpflege.

Gefährliche Umgebungen

Auch das Alter der Individuen spielt dabei eine Rolle, ob sie die eigene Fitness am besten steigern, indem sie altruistisch handeln, sich also um die jüngeren Gruppenmitglieder kümmern und damit die Gruppengröße erhöhen, oder indem sie ausziehen, um eigene Nachkommen zu erzeugen, so der Forscher. In einer Umgebung mit gutem Nahrungsan-gebot und wenigen Fressfeinden sollten die Individuen zur Maximierung ihrer genetischen Fitness die Gruppe früh verlassen, in einer gefährlichen Umwelt hingegen erst in höherem Alter, um längere Zeit altruistische Brutpflege "zu Hause" zu leisten. (APA, red,)

Studie

Science Advances: "The evolution of cooperative breeding by direct and indirect fitness effects."

 

Nota. - Die Menschen - seit wir unsere Vorfahren so nennen dürfen - hatten von der Größe ihrer Gruppen nicht schelchthin einen evolutionären Vorteil. Denn seit wir sie so nennen können, war ihre Lebensweise eine vagante. Da konnte 'je größer, desto besser' wohl nicht gelten - da war die absolute Größe der Gruppe eher eine Grenze für deren Erhaltung. Es gälte also zu verstehen, weshalb sich die vagierenden Menschengruppen offenbar vergrößert haben, obwohl es ihre Mobilität zwischen den Lebensräumen eingeschränkt hat.  Es könnte auch erklären, weshalb sie sich schließlich zur Sesshaftigkeit bequemt haben; denn das ist bis heute ein Rätsel.

Man könnte annehmen, die Gruppen, die es getan haben, hatten einen evolutionären Vor-teil gegen die, die die Vaganz beibehielten.
JE

Freitag, 27. Mai 2022

Als Preußen Deutschland verriet.


 aus welt.de,  26. 5. 2022                 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (r.; 1795–1861) und der junge Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916)

Wie Österreich und Russland Deutschlands Einigung verhinderten
Zwar hatte Friedrich Wilhelm IV. 1849 die Kaiserkrone der Paulskirche abgelehnt. Aber dennoch wies er seinen Vertrauten Radowitz an, einen Bundesstaat unter preußischer Führung zu bilden. Da drohte ein Ultimatum mit dem großen Krieg.

 
Viele Freunde hatte Joseph von Radowitz (1797 bis 1853) nicht: Den Liberalen und Linken war er zu konservativ, den Konservativen zu „indifferent“ und wenig wertebewusst. Otto von Bismarck hielt ihn gar für einen „katholisirenden Gegner“ Preußens. Radowitz’ Herkunft mag dabei eine Rolle gespielt haben. Aus katholisch-ungarischer Familie stammend, hatte er zunächst in der Armee des napoleonischen Satellitenstaats Westphalen gekämpft und war erst über hessische Umwege in preußische Dienste gekommen. Dort aber öffnete ihm die Bekanntschaft mit Prinzessin Auguste von Preußen den Weg in die Korridore der Macht.

Gerade weil Radowitz in keine Fraktion passte, stieg er nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. zu einem der engsten Ratgeber des Monarchen auf, der sich ungern auf eine Linie und ihre Wortführer festlegte. Auch nachdem Radowitz nach Ausbruch der Revolution 1848 den Dienst quittiert hatte und für einen westfälischen Wahlkreis in die Nationalversammlung in Frankfurt am Main gewählt worden war, blieb der Kontakt erhalten. Denn der König scheute davor zurück, sich ganz und gar der konservativen Kamarilla am Hof auszuliefern.

Radowitz, Joseph Maria von preuß. General und Politiker (Freund Friedrich Wilhelms IV., in der Frankfurter Nationalversammlung Führer der äußersten Rechten); Blankenburg 6.2.1797 – Berlin 25.12.1853. Porträt. Holzstich, um 1880, nach Photographie, 1848, von Biow.Schmiedete die Erfurter Union: Joseph Maria von Radowitz (1797––1853)

Radowitz große Stunde schlug im Frühjahr 1849. Am 3. April hatte die Nationalversammlung Friedrich Wilhelm die Kaiserkrone des kleindeutschen Nationalstaats angeboten, die dieser freundlich aber bestimmt zurückgewiesen hatte. Doch damit wollte der Preuße den Hoffnungen der Nationalversammlung keine endgültige Abfuhr erteilen. In Radowitz fand er nun den Mann, mit dem er dem liberalen Konzept der Paulskirche seine eigene Vision einer nationalen Einigung gegenüberstellen wollte.

Der entscheidende Grund für Friedrich Wilhelms Ablehnung der Krone war die – aus seiner Sicht – fehlende Legitimation des Angebots. Der Hohenzoller, ganz Romantiker, träumte von der Wiedererrichtung eines reformierten Heiligen Römischen Reiches unter preußischer Führung. Die Grundlage dafür sollte jedoch nicht der Mehrheitsbeschluss eines nationalen Parlaments, sondern die Zustimmung der Fürsten und Städte, also der Souveräne, sein. Radowitz wurde dabei zu seinem wichtigsten Helfer, oder, wie Bismarck es höhnisch formulierte: „der geschickte Garderobier der mittelalterlichen Fantasie des Königs“.

Das Ergebnis war das Dreikönigsbündnis vom 26. Mai 1849. Darin verständigten sich Preußen, Hannover und Sachsen auf die „Herstellung einer einheitlichen Leitung der Deutschen Angelegenheiten“. Das Ziel dieser Erfurter Union war ein Bundesstaat, der durch den Beitritt der deutschen Staaten geschaffen werden sollte. Das war der entscheidende Unterschied zum Vorschlag der Paulskirche.

Friedr.Wilh.IV./Rev. 1848/ Karik.1848 Friedrich Wilhelm IV., Koenig v. Preussen (1840-61); 1795-1861. - "Zwischen mich und mein Volk soll sich kein Stueck Papier draengen." (Karikatur auf Friedrich Wilhelm und seine Haltung waehrend der Revolution 1848; rechts der Prinz von Preussen, der spaetere Kaiser Wilhelm I.- Holzstich, unbez., 1848. Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte.Karikatur auf die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen

Der Verfassungsentwurf, der zwei Tage später veröffentlicht wurde, folgte jedoch in weiten Teilen der Konstitution, die die Nationalversammlung erarbeitet hatte. Nur die Rechte der Einzelstaaten waren verstärkt worden. Das bedeutete zum Beispiel, dass statt eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts ein Dreiklassenwahlrecht gelten sollte, wie es von einigen Mitgliedern inzwischen eingeführt worden war.

Immerhin signalisierten 26 Staaten des aufgelösten Deutschen Bundes ihre Zustimmung. Aber mit Bayern und Württemberg verweigerten zwei Schwergewichte den Beitritt zu diesem Bundesstaat. Mit dem sollte Österreich nur lose verbunden sein, sodass diese Deutsche Union ungefähr dem Umfang des Nationalstaats glich, der 1871 aus der Taufe gehoben wurde. Damit hätte Preußen Österreich als Führungsmacht Deutschlands bereits 1849 abgelöst.

In Wien war man damit verständlicherweise nicht einverstanden. Und in dem Maße, in dem es dem neuen Kaiser Franz Joseph I. gelang, die Revolution in seinen Ländern niederzuschlagen, gewann die Habsburgermonarchie die Handlungsspielräume zurück, um auch in Deutschland wieder aktiv zu werden. Der mächtige Partner wurde dabei das Zarenreich, dessen Truppen maßgeblich am Sieg über die ungarischen Freiheitskämpfer mitgewirkt hatten.

>Kaiser Nikolaus I. (Nikolaj I. Pawlowitsch, *Zarskoje Selo (heute Puschkin) 6.7.1796 – + Petersburg 2.3.1855, russischer Kaiser seit 1.12.1825) <. Ölgemälde 1843 von Wilhelm August Golike (*1802 – +1848). 143 × 105 cm.Unterstützte das österreichische Ultimatum: Zar Nikolaus I. (1796––1855)

Unter österreichischem Druck gelangten auch Hannover und Sachsen, gefolgt von Baden, zu der Überzeugung, dass eine Restauration des Deutschen Bundes ihren Interessen dienlicher sei als die Unterordnung unter preußische Dominanz. Unmissverständlich stellte der Kaiser in Wien die Machtfrage.


Den Hebel boten innere Unruhen im Kurfürstentum Hessen. Der reaktionäre Kurfürst sah sich von liberalen Gegnern herausgefordert und rief den im September 1850 reanimierten Deutschen Bund unter österreichischer Führung um Hilfe. Da zwei strategisch wichtige preußische Militärstraßen durch das Land führten, sah sich Friedrich Wilhelm IV. herausgefordert und ernannte Radowitz zum Außenminister.

Aber Wien ließ es auf die Machtprobe ankommen. Nachdem der Bund die „Exekution“ beschlossen hatte und Bundestruppen an der Grenze zusammengezogen worden waren, wurde von Berlin in scharfen Worten der Rückzug der preußischen Sicherungseinheiten in Hessen verlangt. Friedrich Wilhelm befahl daraufhin die Mobilmachung seiner Armee. Ein deutscher Krieg schien unausweichlich.

Olmuetzer Punktation 1850, Schlussseite Deutschland / Olmuetzer Punktation, 29.Nov.1850 (Zwischen Uesterreich und Preussen, das auf das Eingreifen in Hessen verzichtet und seine deutsche Unionspolitik aufgibt). - Schlussseite mit Unterschriften der Ministerpraesidenten Fuerst Felix zu Schwarzenberg und Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg. - Berlin, SMPK, Geheimes Staatsarchiv.Schlusseite der sogenannten Olmützer Punktation vom 29. November 1850

Am 24. November ging in Berlin das österreichische Ultimatum ein, die preußischen Truppen binnen 48 Stunden aus Hessen abzuziehen. Das Entscheidende daran: Zar Nikolaus I., obwohl mit einer preußischen Prinzessin verheiratet, schloss sich der österreichischen Position an. Damit drohte ein großer Krieg. Was folgte, hat Sebastian Haffner in seinem Buch „Preußen ohne Legende“ so beschrieben: Es war „ein Zusammenbruch von einer Vollständigkeit wie der von 1806“, als der altpreußische Staat von Napoleon I. bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen worden war.

Im böhmischen Olmütz gab Preußen in allen Punkten nach, zog seine Truppen zurück, beteiligte sich an der Bundesexekution in Hessen und akzeptierte kleinlaut die Führung Österreichs im Deutschen Bund. Radowitz wurde als Sonderbotschafter nach London geschickt, während die Konservativen in Berlin triumphierten. Bismarck zog aus der schweren politischen Niederlage den Schluss, dass die Gründung eines kleindeutschen Reiches unter preußischer Führung „nur durch Kampf oder die Bereitschaft zu demselben gewonnen werden“ könnte. Diesen Krieg galt es jedoch erst zu führen, „bis wir gerüstet sein würden“.

 



Dienstag, 24. Mai 2022

Zeitenwende.

Peter Kufner, Die Presse, Wien

Olivgrün. 

 

 

Russische Oligarchen.

Aktivisten stehen auf dem Balkon der Stadtvilla des russischen Oligarchen Deripaska am Belgrave Square in London.
aus FAZ.NET, 23. 5. 2022  
         Aktivisten stehen auf dem Balkon der Stadtvilla des russischen Oligarchen Deripaska am Belgrave Square.

Wie die Sanktionen das Verhältnis zwischen Oligarchen und Kreml verändern
Russische Oligarchie im Wandel: Schon unter Jelzin zeichnete sich eine neue russische Oligarchie ab, unter Putin etablierte sie sich weiter. Doch der Ukrainekonflikt hat Auswirkungen. Ein Gastbeitrag.

Von Theocharis N. Grigoriadis

Putins Krieg in der Ukraine und die darauf folgenden westlichen Sanktionen haben ein zen-trales Kennzeichen des postsowjetischen Wirtschaftswandels in den Blickpunkt gerückt, den Aufstieg und die Konsolidierung der russischen Oligarchie, zuerst in der Ära von Boris Jelzin, später unter Wladimir Putin. In der russischen Geschichte ist seit der frühen Neuzeit die Prä-senz mächtiger politischer Akteure mit beträchtlicher Wirtschaftsmacht zu beobachten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist es seit den 1990er Jahren zu einem intransparenten Erwerb von Mehrheitsvermögenswerten in Russlands strategischen Sektoren wie Öl und Me-tallurgie sowie in der Medien- und Finanzindustrie gekommen. Zu den prominentesten rus-sischen Oligarchen in der frühen Post-Sowjetunion-Ära gehören etwa Michail Chodorkowskij, Boris Beresowski, Anatoli Tschubais, Alexander Smolenskij, Wladimir Gusinskij und Yuri Lushkow. Ihr Reichtum basierte auf ihren politischen Vernetzungen und auf intransparenten Auktionsverfahren bei der Privatisierung von Staatsvermögen. Lukrative Industriebeteiligun-gen gingen damals in undurchsichtigen Auktionen zu Billigpreisen an private Besitzer.

Der Unterschied zwischen Jelzins und Putins Oligarchen liegt in ihrer Verbindung mit Russ-lands Geheimdiensten. Anders als in der Ära Jelzin, stiegen in Putins Amtszeit Männer auf, die in den inneren oder auswärtigen Geheimdiensten verwurzelt waren. Der amerikanische Poli-tikwissenschaftler Daniel Treisman spricht von „Silowarkhi“, einem Kunstwort aus den Begriffen Silowiki (Sicherheitskräfte) und Oligarchen. Angesichts Putins eigener beruflicher Herkunft aus dem sowjetischen KGB wurde diese Entwicklung als Bestrebung Putins interpretiert, seine Macht abzusichern.

Zugang zu...
 
Nota. - Gern würde ich Ihnen den ganzenText posten, aber leider habe ich keinen Zugriff. Nichts ist wichtiger für das Verständnis des Putin'schen Bonapartimus als die Kenntnis der rivalisierenden Machtgruppen. Am rätselahftesten, weil wohl auch abenteuerlichsten sind die sogenannten Oligarchen, die ihren immensen Reichtum in der kurzen Zeit seit dem offiziellen Untergang der Sowjetordnung schlechterdings auf gesetzlichem Waeg nicht zusammengetra-gen haben können; auch nicht die, die unter Putin in Ungnade gefallen sind. Vielleicht wird der Volltext ja irgendwann freigegeben.
JE

Montag, 23. Mai 2022

Der Beitrag der Kirchenspaltung zur Ausbildung eines säkulären Abendlands.

Heinz Schilling: „Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa“. Aufbruch in die Welt von heute.  
aus FAZ.NET,  22. 5. 2022                                                             
Europa und die Kirchen
Wie nützlich doch Häretiker waren
Gelobt sei das Schisma: Heinz Schilling schreibt in einem neuen Buch weiter an seiner großen Erzählung von der modernisierenden Kraft der neuzeitlichen Kirchen. 
 
Von Markus Friedrich

Was wäre, wenn Martin Luther Papst geworden wäre? Im Jahr 1976 beantwortete Kingsley Amis diese Frage in seinem phantastischen Roman „The Alteration“. Darin entwirft Amis das Panorama eines fiktiven Europas im zwanzigsten Jahrhundert, das den Zerfall des Christen-tums in Katholizismus und Protestantismus vermieden hat. Die Reformation führte nicht zur Kirchenspaltung, sondern beförderte vielmehr Luther selbst als Papst Germanian I. auf den Stuhl Petri. Diese imaginierte „Änderung“ des Geschichtsverlaufs hat bei Amis drastische Folgen. Die Moderne ist ausgeblieben. Im England der Jetztzeit singen noch immer Kastraten, es gibt keine Elektrizität, und die technologische Entwicklung ist auch sonst kaum vorange-kommen, „Wissenschaft“ ist ein Schimpfwort, und die Größen der abendländischen Kultur stehen unter der Knute der Kirche. Ohne Reformation ist die alternative Gegenwart dunkel, klerikal und theokratisch.

Der Weg von Amis’ Roman zum neuen Buch des emeritierten Historikers Heinz Schilling ist kürzer, als er scheinen mag. Auch Schillings große Erzählung kreist um den Zusammenhang zwischen Reformation und europäischer Gegenwart. Ein zentrales Charakteristikum des Christentums, das Schilling schon in der Spätantike und im Mittelalter ausfindig macht, besteht in seiner bipolaren inneren Struktur. Transzendenz und Immanenz, Glaube und Welt, Kirche und Staat – das Christentum legitimiert und bedient jeweils beide Pole. Mit Papst und Kaiser hatte die westliche Christenheit deshalb lange eine Doppelspitze. Sooft beide Führungspo-sitionen auch miteinander konkurrierten, noch häufiger gingen sie enge Allianzen ein. Das betraf insbesondere die Bekämpfung von Abweichlergruppen, von denen zunächst angesichts koordinierter geistlich-weltlicher Machtausübung keine längerfristig überleben konnte. 

 


Doch die erfolgreiche Zusammenarbeit bei der Häretikerbekämpfung zwischen Kirche und weltlicher Macht bröckelte im frühen sechzehnten Jahrhundert. Die weltlichen Herrscher entdeckten allmählich, dass die Förderung von Glaubensabweichlern gegen den Papst unter Umständen gewinnbringender war als deren gemeinsame Bekämpfung. Viele Reformatoren fanden deshalb nach 1517 die Unterstützung ihrer Obrigkeiten, die die Reformation geschickt nutzten, um ihre entstehenden Staatsapparate zu stärken. Die traditionsreiche Allianz von geistlichen und weltlichen Mächten wurde wiederbelebt, ja sie wurde intensiver als je zuvor, nun freilich unter dem Zeichen einer gespaltenen Christenheit.

Antikatholisches Flugblatt der Reformationszeit.

Das stärkte nicht nur die Macht der Staaten; es entstanden nun erst die modernen christlichen Großkirchen, die sich in ständigem Austausch mit der werdenden Staatsmacht zu institutio-nalisierten, homogenen und hierarchischen Massenorganisationen entwickelten. Ein tiefgrei-fender Wandel im Verständnis von Kirche, Glauben und religiösem Leben war die Folge. Zwei ideologisch gegensätzliche, strukturell jedoch ganz ähnlich organisierte Lager entstanden und beäugten sich mit äußerster Feindschaft.

Kirchenspaltung als treibende historische Kraft

Es war diese staatlich verfestigte Kirchenspaltung, nicht jedoch die Reformation Luthers per se, die in Schillings Augen zur treibenden historischen Kraft wurde und die Moderne mit all ihren Ambivalenzen heraufführte. Neben einem vorbildlosen Willen zur Disziplinierung großer Menschengruppen steht der ungeheure künstlerische Ausdruckswillen, den das kon-fessionelle Zeitalter entfachte. Damals entstanden neuartige innerliche Formen des Glaubens-lebens ebenso wie jener unerbittliche Wahrheitsanspruch der Kirchen, der mehr als einmal zu brutalem Fundamentalismus führte. Obwohl die Kirchen streng über die Gelehrten und ihre Ideen wachten, trieb ihre Rivalität sie doch zugleich zu Höchstleistungen an. Nicht trotz, son-dern in und wegen der Kirchenspaltung wurde Europa modern. Daraus zieht Schilling sympa-thische Lehren für die Gegenwart. Die „Freude am religiös-spirituellen wie kulturellen Reich-tum der europäischen Christenheit“ sollte den ökumenischen Alltag des 21. Jahrhunderts anleiten.

Seit den frühen Achtzigerjahren haben diese Thesen Schillings zur „Konfessionalisierung“ Europas die Forschung angeregt und zugleich heftige Diskussionen ausgelöst. Ein Einwand lautet, hier würden großflächige Erklärungsansätze die Vielfalt historischer Erfahrungen nivellieren. Andere Kritiker meinen, dass sich wesentliche Teile des modernen, demokrati-schen Selbstverständnisses Europas gerade nicht auf den Loyalitätsabsolutismus der Konfes-sionskirchen zurückführen lassen. Die konfessionelle Spaltung mag Europa den Umgang mit Pluralität zunächst aufgenötigt haben, doch akzeptiert wurde sie von den konfessionalisierten Kirchen gerade nicht. Toleranzideen entsprangen alternativen Argumentationsreservoirs. So-fern sie religiös motiviert waren, entstammten sie häufig dem humanistischen oder mysti-schen Christentum; häufig wurde Duldung jedoch auch einfach pragmatisch legitimiert oder juristisch begründet. Die Durchsetzung religiöser Vielfalt war so schwierig, weil sie eine zu-tiefst antikonfessionalistische Idee war. Hier erreicht die These des neuzeitlichen Konfessio-nalismus als modernisierende Kraft ihre Grenze.

Mehr als nur sachliche Lücken

Schillings Buch integriert zahlreiche seiner früheren Publikationen. Es spiegelt die eindrucks-volle Fülle seiner Forschungen wider. Zugleich gibt es Fehlstellen. Frömmigkeit dient meist nur der Illustration sozialhistorischer Trends; statt um menschliches Innenleben geht es vor-rangig um strukturelle Prozesse. Die Aufklärung findet nur auf wenigen Seiten des Epilogs statt. Vor allem fehlen zentrale Themen wie Mission, Kolonien, Religionsbegegnungen. Das ist mehr als nur eine sachliche Lücke, denn mit diesen heute besonders drängenden Themen ver-bindet sich die Frage, welche Rolle die Konfessionen eigentlich bei der Globalisierung des Christentums hatten. Wie konfessionalisiert waren die neuen, indigen geprägten Christentümer des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Kongo, in Äthiopien, in Japan oder am Ama-zonas? Die neuartigen religiösen Erfahrungen in diesen Missionen wirkten schnell und ganz direkt auf die pastorale Praxis in Europa zurück. Europa selbst, seine schwer zugäng-lichen Binnenregionen, die Berggegenden oder einsamen Inseln etwa, wurde im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert zum Missionsgebiet erklärt.

Während Schilling sehr anschaulich die urbane Dimension des neuzeitlichen Christentums betont, könnte man genauso gut auch die Neuentdeckung der ländlichen Räume als ein Sig-num des modernen, missionarischen Christentums bezeichnen. So regt Heinz Schillings ge-radlinige Erzählung von der modernisierenden Kraft der neuzeitlichen Kirchen durch ihren eindrucksvollen Reichtum an Wissen und pointierten Thesen nachdrücklich dazu an, auch zukünftig über die Rolle des Christentums in der Geschichte Europas nachzudenken.

Heinz Schilling: „Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa“. Aufbruch in die Welt von heute. Herder Verlag, Freiburg 2022. 480 S., geb., 28,

 

Nota. - Zur Aufklärung kann diese Sicht nicht viel aussagen - weil die epochale Zäsur des Deißigjährigen Krieges nicht hineinpasst. Einerseits war er das Ergebnis der Kirchenspaltung, andererseits war er der Anfang der europäischen Säkularisierung, die weltweit einzig ist. Der Westfälische Frieden kam nicht Zustande unterm Patronat der Kirchen oder überhaupt der Religion, sondern durch die Erhebung der Vernunft zum obersten Schiedsrichter in allen öffentlichen Angelegenheiten. Das war der Beginn der Aufklärung, die ihren Höhepunkt in der intellektuellen Vorherrschaft der enyzyklopädischen philosophes in Frankreich fand, die zur Empörung des abtrünnigen Rousseau samt und sonders heimliche Atheisten waren.

Seither ist in Europa der Einfluss der Kirchen auf das öffentliche Leben und der Religion auf die Herzen und Köpfe unablässig zurück. Nur darum können die Anfeindungen der Freiheit durch fremde Fundamentalismen abgewehrt werden.
JE 

Freitag, 20. Mai 2022

Alte und Neue Seidenstraße.


aus FAZ.NET, 18. 5. 2022

Wo einst Oasenstädte florierten, stehen jetzt Internierungslager
Vom Austausch zur Kontrolle: Thomas Höllmann zeigt, dass die alte Seidenstraße mit ihrer Beschwörung im heutigen China nicht viel zu tun hat. 

Von Kai Vogelsang

Die „Seidenstraße“ ist seit einiger Zeit in aller Munde. Seit China vor zehn Jahren ein gigantisches Infrastrukturprogramm mit dem Namen „Neue Seidenstraße“ ins Leben gerufen hat, erscheint sie manchen als Symbol einer „neuen Weltordnung“, anderen liefert sie „den Gründungsmythos der Globalisierung“, pfiffige Unternehmer bieten Kurse in „New Silk Road Business Chinese“ an, und deutsche Städte reißen sich darum, „Knotenpunkte“ in der Seidenstraße zu werden.

Inmitten all dieser Aufregung kommt Thomas Höllmanns Buch wohltuend nüchtern daher. China und die Seidenstraße: Schon die Konjunktion im Titel drückt aus, dass die Seidenstraße nie mit China gleichzusetzen war. Nicht einmal ihr Name ist chinesisch. Er geht auf die deutschen Geographen Carl Ritter und Ferdinand von Richthofen zurück, spiegelt also eine eurozentrische Perspektive wider. Die „Seidenstraße“, so Höllmann, sei ein „Konstrukt (. . .), für das unterschiedliche Phänomene und Zeithorizonte zusammengeführt werden“. China war nie das Zentrum der verzweigten Handelswege, die sich in vielen Etappen von Europa nach Ostasien erstreckten. Chang’an, die Hauptstadt der Dynastie Tang (618–907), war nur ein Knotenpunkt in diesem Handelsnetz, wiewohl ein überaus wichtiger.

Die Pipa und der Drachentanz

Höllmann richtet den Blick auf diesen Knotenpunkt und damit auf einen Höhepunkt der chinesischen Geschichte. Nicht historisch, sondern nach Sachgebieten geordnet, liest sich das Buch fast wie eine Enzyklopädie der Seidenstraße. Sachkundig und detailreich beschreibt Höllmann die Routen und Regionen, Menschen und Tiere, die Religionen und Waren, Sprachen und Gebräuche der Seidenstraße. Achtzig Farbtafeln, viele davon Abbildungen archäologischer Funde, bieten dazu faszinierende Illustrationen. Man staunt, was da alles zu sehen ist: ein „in zentralasiatische Gewänder gekleideter Chinese“, ein „junger Mann mit dunkler Haut und krausem Haar“, das „Porträt einer kaiserlichen Konkubine in europäischer Rüstung“, eine „tangutische Inschrift“, ein persischer Glasteller, uigurische Damen, manichäische Priester, ein „jüdisches Bußgebet“ und vieles mehr.

Ein Überfall: Wandmalerei in Höhle 45 von Dunhuang (Gansu), achtes Jahrhundert

Das Reich der Tang war weniger chinesisch als kosmopolitisch: sogdische, persische, griechische, mongolische, chinesische, sanskritische, tibetische, alttürkische und andere Manuskripte zeugen von der Sprachenvielfalt, die am östlichen Ende der Seidenstraße herrschte. Gesandte, Händler und Mönche brachten ihre Religionen nach China: Zoroas­trismus, Manichäismus, den Islam, Christentum, Judentum und vor allem den Buddhismus. Klöster, Pagoden, Felsinschriften und Monumentalplastiken zeugen bis heute davon, wie stark der Buddhismus die Gesellschaft des chinesischen Mittelalters durchdrungen hat. Von der konfuzianischen Orthodoxie späterer Jahrhunderte war damals noch nichts zu spüren.

Die Seide hat dem Handelsnetz seinen Namen gegeben, doch sie war bloß das Tauschmittel für eine Fülle von exotischen Waren, die Händler und Gesandte nach Chang’an brachten: Robbenfelle aus Korea, Bernstein aus Japan, „goldene Pfirsiche“ aus Samarkand, Leoparden aus Buchara, Teppiche aus Persien, Gold aus Tibet, Elefanten aus Vietnam, Nashörner aus Kambodscha, Papageien aus Sumatra. Die Kultur der Seidenstraße prägte alle Bereiche des städtischen Lebens. Die chinesischen Eliten trugen Kaftan und Lederstiefel, uigurische Haarknoten waren der letzte Schrei, sie tranken gewürzten Traubenwein aus Mittelasien, richteten sich mongolischen Jurten ein, erfreuten sich an Musik aus Turfan, Kucha, Kashgar, Samarkand, Indien und Korea, ließen sich von ausländischen Gauklern, Akrobaten, Tänzerinnen und „Bettmädchen“ unterhalten.

Sehnsucht nach Verständigung?

So manches, was heute als „typisch chinesisch“ gilt – die Pipa etwa und der Drachentanz –, hat seinen Ursprung in Mittelasien. Zwar wurden nicht alle fremdländischen Gaben gleichermaßen wohlwollend empfangen: ein Nashorn aus Nanzhao wurde wegen seiner „Temperamentsausbrüche“ zurückgeschickt, die arabischen Löwen bereiteten mit ihrer Gefräßigkeit Probleme, und wie die aus Korea offerierten „Verklumpungen aus dem Magen oder Pansen von Rindern“ (Bezoar) am Hof ankamen, ist ungewiss. Aber bunter und weltoffener als in der Tang-Zeit dürfte das chinesische Reich nie gewesen sein. Die Hochzeit der Seidenstraße, die so viele fremde Anregungen brachte, war auch eine Glanzzeit chinesischer Kultur.

Ganz anders liest sich das „Nachspiel“ in Höllmanns Buch, in dem es um Chinas „One Belt, one Road“-Initiative geht. Hier schwenkt der Fokus von der Pipa zu Pipelines, von Gauklern zu Glasfaserkabeln und von kultureller Vielfalt zur „Ein-China-Politik“. Dabei wird deutlich, wie wenig die sogenannte Neue Seidenstraße mit der alten zu tun hat: Diese war als Netzwerk von Handelsstraßen herangewachsen, jene ist zentral geplant; diese brachte Menschen, Tiere und Kulturgüter aus aller Welt nach China, jene transportiert Industrieprodukte von China in die Welt; bei dieser ging es um Warentausch und Religion, bei jener um „Absicherung ökonomischer und strategischer Interessen“. Höllmann vergleicht Chinas Vorgehen mit der Strategie der westlichen Imperialmächte in Asien: auch damals bereiteten Handelsstützpunkte die koloniale Landnahme vor.

Vor allem eine Paradoxie sticht heraus: „Stand die Seidenstraße in einigen Epochen für den lebendigen Austausch von Ideen, ist heute eher deren Blockade wahrnehmbar“. Während China seine „Sehnsucht nach Verständigung“ beteuert, unterdrückt es die Meinungs- und Pressefreiheit im eigenen Land massiv. Vollends zum „Widerspruch in sich“ wird die Rede von der „digitalen Seidenstraße“, während zugleich in China Dutzende von internationalen Websites – Google, Facebook, Wikipedia, YouTube, Le Monde, NDR, New York Times, Instagram und viele andere – gesperrt sind und die „Great Firewall“ alle unerwünschten Inhalte blockiert.

Statt der Weltoffenheit von einst ist China heute von Abgeschlossenheit geprägt. Der Partei geht es nicht um den Fluss von Informationen, die Mobilität von Menschen und Ideen oder die Entfaltung von Religionen, sondern immer um deren Kontrolle. Während chinesische Herrscher sich in der Tang-Zeit an Exotika aus dem Westen berauschten, verbannen sie ausländische Einflüsse heute aus ihrem Land. Die Sprachenvielfalt der Seidenstraße ist durch den Primat des Hochchinesischen erstickt worden, und wo einst Oasenstädte florierten, stehen jetzt Internierungslager. Thomas Höllmanns Buch beschreibt die Glanzzeit des kosmopolitischen Tang-Reichs, als die Kulturen der Seidenstraße in der Metropole Chang’an zusammenkamen; und es zeigt zugleich, wie weit sich das heutige China von dieser Glanzzeit entfernt hat.

Thomas O. Höllmann: „China und die Seidenstraße“. Kultur und Geschichte von der frühen Kaiserzeit bis zur Gegenwart. Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. C. H. Beck Verlag, München 2022. 454 S., Abb., geb., 34,– €.

Montag, 16. Mai 2022

Vorwärts in die Mitte?


aus nzz.ch, 16. 5. 2022

Hendrik Wüsts Triumph in Nordrhein-Westfalen ist ein später Erfolg für die Merkel-CDU
Der Sieg des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten sollte all jenen zu denken geben, die sich eine konservativere CDU wünschen. Wüst hat den deutschen Christlichdemokraten gezeigt, wie sie auftreten müssen, wenn sie auch in Berlin zurück an die Macht wollen.

von Hansjörg Friedrich Müller, Berlin 
 
Die deutschen Christlichdemokraten, so schrieben vor allem Kommentatoren rechts der politischen Mitte in den vergangenen Jahren regelmässig, müssten wieder konservativer werden und sich auf ihre Wurzeln besinnen.

Irgendwann schienen die Mitglieder der CDU derselben Ansicht zu sein: Ende vergangenen Jahres wählten sie Friedrich Merz, den Wunschkandidaten des konservativen Parteiflügels, im dritten Anlauf zum Vorsitzenden. Zuvor hatten sich mit Annegret Kramp-Karrenbauer und Armin Laschet zwei Politiker, die deutlich näher an der Mitte standen, als CDU-Chefs innert kurzer Zeit verschlissen.

Noch populärer als die Rede von den konservativen Wurzeln ist allerdings jene von den Wahlen, die in der Mitte gewonnen würden. Auch sie mag abgegriffen sein, doch falsch ist sie deshalb nicht: Am Sonntag hat in Nordrhein-Westfalen mit dem Christlichdemokraten Hendrik Wüst erneut ein Mann der Mitte triumphiert. 

Ein Bundesland, so vielfältig wie Deutschland

Bereits eine Woche zuvor hatte in Schleswig-Holstein sein Parteikollege Daniel Günther gesiegt, der sich innerhalb der CDU ähnlich positioniert hatte. Zwar fiel Wüsts Sieg weniger deutlich aus als jener Günthers, doch ist er in einem Land, das meist von den Sozialdemokraten regiert wurde, alles andere als selbstverständlich.

All jenen, die sich eine konservativere CDU wünschen, sollte das Ergebnis vom Sonntag zu denken geben. Nordrhein-Westfalen, das bevölkerungsreichste Bundesland, ist ein Deutschland im Kleinen. Grossstädte und ländlich geprägte Regionen wechseln einander ab; einige Gegenden prosperieren, andere kämpfen noch immer mit den Folgen des Strukturwandels.

Wer hier reüssieren will, muss wohlhabende und eher arme Wähler für sich gewinnen, er muss Bürger mit Migrationshintergrund und solche, deren Vorfahren über Generationen im Land lebten, von sich überzeugen. Das ist Wüst gelungen. Er hat seiner Partei gezeigt, wie sie auftreten muss, wenn sie auch in Berlin zurück an die Macht will.

Wüsts Sieg ist wie jener Günthers eine späte Bestätigung für den Kurs der früheren deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Zwar zeigt sich nun, nach dem Ende ihrer Amtszeit, dass unter Merkel einige Weichen falsch gestellt wurden, etwa in der Russlandpolitik. Ihr Ansatz, neue Wählerschichten für die CDU zu erschliessen, war gleichwohl richtig.

Merz könnte sich Wüst und Günther zum Vorbild nehmen

Ihre Kritiker machten Merkel für zahlreiche schlechte Wahlergebnisse verantwortlich, welche die CDU während ihrer Kanzlerschaft erzielte. Doch spricht einiges dafür, dass die Kanzlerin ihre Partei eher vor Schlimmerem bewahrte: Die SPD als zweite grosse Volkspartei stand meist noch schlechter da, und Merkels persönliche Beliebtheitswerte waren immer gut.

Natürlich wird Friedrich Merz, der lange Zeit zu Merkels schärfsten parteiinternen Kritikern gezählt hatte, Wüsts Sieg als Bestätigung für sich selbst interpretieren. Der CDU-Chef ist klug genug, um zu wissen, dass er alle Parteiflügel einbinden muss, um Erfolg zu haben. Darin könnte eine Pointe der nächsten Jahre bestehen: Während sich Wüst in jungen Jahren prononciert konservativ äusserte und später in die Mitte rückte, geht der zwanzig Jahre ältere Merz diesen Wandlungsprozess jetzt erst an. Vielleicht ist es auch für ihn noch nicht zu spät.

 

Nota. - Der Untote war konservativ, als er sich zu Merkelzeiten profilieren musste. Doch mehr als konservativ ist er selbtverliebt. Mit andern Worten, zuzutrauen wärs ihm. Aber zurück in die Mitte reicht nicht. In Deutschland muss man vorwärts in der Mitte; keine Vektorensumme, sondern ein Streitross. Mit andern Worten, das ist ihm nicht zuzutrauen.
JE

Sonntag, 15. Mai 2022

'Das deutsch-russische Jahrhundert'.

 
aus spektrum.de, 15. 5. 2022

Rezension
»Das deutsch-russische Jahrhundert«
Zwischen enger Verflechtung und brutaler Abgrenzung
Der Historiker Stefan Creuzberger beschreibt ein Jahrhundert besonderer Beziehungen zwischen Deutschen und Russen. Eine Rezension


von Josef König

Wenn die »Neue Zürcher Zeitung« kürzlich schrieb, dass kaum ein europäisches Land seit Ende des Kalten Krieges so mit Russland verflochten sei wie Deutschland und dass gerade SPD-Politiker besonders dazu beigetragen hätten, ist das nur die halbe Wahrheit. Diese aktuell in Zweifel geratene gegenseitige Verbundenheit rührt schon aus den Zeiten des Niedergangs des Deutschen Kaiserreiches und des Russischen Zarenreiches Anfang des 20. Jahrhunderts.

Wer sich über die deutsche Haltung zu Russland et vice versa kompetent informieren und manches deutsche Zögern im aktuellen Krieg in der Ukraine verstehen möchte, dem sei das kürzlich erschienene Werk des Rostocker Historikers Stefan Creuzberger empfohlen: »Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung« ist ein fakten- und umfangreiches Buch, das auf gesichertem Wissen und eigener Archivarbeit beruht.

Eine ungewöhnliche und spannende Chronologie

Es besteht aus drei großen Kapiteln (»Revolution und Umbruch«, »Terror und Gewalt« sowie »Abgrenzung und Verständigung«), die jeweils vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis heute die Geschichte der Beziehungen analysieren. Indem Creuzberger sie nicht kontinuierlich erzählt, sondern sich anhand markanter Ereignisse und Umbrüche entlanghangelt, entsteht eine unge-wöhnliche und spannende Chronologie.
Das deutsch-russische Jahrhundert
Das deutsch-russische Jahrhundert
Geschichte einer besonderen Beziehung
Verlag: Rowohlt, Hamburg 2022
ISBN: 9783498047030 | Preis: 34,00 €


Man könnte sich die Augen reiben angesichts der Tatsache, dass Kaiser Wilhelm II und Zar Nikolaus II Cousins waren und dennoch einen der blutigsten Kriege gegeneinander führten. Dabei war die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den beiden Kaiserreichen von gegensei-tiger Abhängigkeit geprägt: 1913 bezog das Zarenreich 47,6 Prozent seiner Gesamteinfuhren aus dem Deutschen Kaiserreich; umgekehrt flossen 44,3 Prozent der gesamten russischen Warenexporte nach Deutschland. Während des Kriegs fand, bislang wenig bekannt, in Russ-land der erste Giftgaseinsatz Deutschlands statt. Insgesamt starben mehr als eine halbe Million Russen während dieses Kriegs den Giftgastod.

Am Ende des Ersten Weltkriegs waren beide Länder politische Parias, Russland auf Grund der linken Revolution und des erzwungenen Diktatfriedens von Brest-Litowsk, Deutschland nach dem demütigenden Versailler Friedensvertrag. Auch um dieser Isolation zu entkommen, schlossen beide Nationen den Rapallo-Vertrag von 1922, den die Siegermächte argwöhnisch betrachteten. Mit ihm erkannte Deutschland als erste Nation das revolutionäre Russland an; im Gegenzug bekam sie Zugang zu russischen Rohstoffen und Energie sowie die Möglichkeit, das Verbot militärischer Forschung zu umgehen, indem man sie auf russisches Gebiet verla-gerte. Dieser Vertrag ist für Creuzberger gleichsam Angel- und Drehpunkt der Beziehungen zwischen den beiden Ländern, nicht zuletzt, weil er Deutschland in den Augen der Westmäch-te zum unsicheren Kantonisten machte.

Auch der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 markiert die besonderen Verbindungen der zwei Staaten. Beide regierten zynische Diktatoren, die sich dennoch gegenseitig bewunderten. Der Vertrag ordnete die Machtsphären zwischen den Ländern neu – und Polen wurde zum dritten Mal aufgeteilt. Der Pakt, der nur 22 Monate hielt, sicherte Hitler bis zum Einmarsch in die Sowjet-union Ruhe für seine Eroberungen und pünktliche Rohstofflieferungen selbst noch am Vortag des Einmarsches. Der damit beginnende Krieg gegen die Sowjetunion brachte unsägliches Leid über beide Länder, der allein auf sowjetischer Seite mehr als 26 Millionen tote Bürger forderte.

Nachdem mit Adenauer als Kanzler nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine sichere Westbindung der Bundesrepublik erfolgt war – und damit die Abgrenzung zum Warschauer Pakt, in den die DDR eingebunden war –, brachte ab Anfang der 1970er Jahre die Regierung Willy Brandts eine neue Ostpolitik der Aussöhnung mit Russland. Danach entwickelten deut-sche Bundeskanzler ausgeprägte Freundschaften zu den Führern der Sowjetunion bis hin zur ungewöhnlichen Freundschaft Schröders zu Putin, welche die heutige Abhängigkeit Deutsch-lands von russischer Energie markiert.

Creuzbergers Buch breitet eine Fülle an Fakten aus, ist leicht, verständlich und gut geschrie-ben: ein Muss für jeden, der die besonderen Beziehungen der beiden Länder verstehen und den tagesaktuellen Polarisierungen mit einem erweiterten Zugang begegnen möchte.

 

Nota. -  Das "kurze zwanzigste Jahrhundert" und das begonnene einundzwanzigste waren und bleiben geprägt vom Europäischen Bürgerkrieg nach 1917: vom Beginn der Weltrevolution in Russland, ihrer ersten Niederlage in Deutschland und die darauf folgenden komplementären Konterrevolutionen in Russland und Deutschland, bis zur der darauffolgenden Neuordnung der Welt im Kalten Krieg und ihrem Riss mitten durch Deutschland. 

Nach der deutschen Wiedervereinigung stand eine erneute Umverteilung an, der Untergang der Sowjetunion konnte die amerikanische Hegemonie im Westen nicht unberührt lasse. Und schon gar nicht der Aufstieg des neostalinistisch-kapitalistischen Chinas, dessen offensive Außenpolitik wenigstens ebenso starke bonapartistische Züge trägt wie die von Putin. Es kann gar nicht"saturiert" werden, wie Bismarck von seinem Reich behauptete, denn der Bonapartis-mus dient hier wie dort der Bewahrung eines prekären inneren Gleichgewichts, und wie ag-gressiv er wird, hängt unkalkulierbar von jenem ab. Davor bewahrt kein Fädenziehen, sondern dafür muss man sich wappnen. Das russische Ausgreifen ist nur eine erste Welle, andere wer-den folgen - und die werden das laufende Jahrhundert mehr prägen als das veflosssene deutsch-russische Sonderverhältnis. Es ist eben, wie einer sagte, eine Zeitenwende.
JE

Donnerstag, 12. Mai 2022

Politik ist keine moralische Veranstaltung.

W. Busch

Pazifist bin ich nie gewesen. Dass ein Angegriffener sich verteidigt, war mir immer selbstver-ständlich. Für wen der beiden ich selber Partei ergreife, ist eine ganz andere Frage.

Ich bin heute nicht in der peinlichen Lage, umlernen und meine Sätze von gestern verdrehen zu müssen. Politik ist keine Sache der Moral, sondern eine Sache der Vernunft. 

Ach, und Vernunft hätte nichts mit Moral zu tun?! 

Nein, nicht unmittelbar. Vernünftig ist ein Denken, das darauf zielt, Zwecke zu setzen; für die Mittel reicht Verstand. Und so zu setzen, dass andere, die sich ihre Zwecke ebenso frei setzen können wie ich selbst, in ihrer Freiheit nicht beeinträchtigt sind. Das verlangt nach zwei Spe-zifikationen: Erstens gibt es im Leben eines jeden einen privaten Bereich, in dem die Zwecke irgend eines andern nichts verloren haben. (Die Scheidung der Lebenswelt in einen privaten und einen öffentlichen Bereich war die große Kulturrevolution, durch die sich der Westen nachhaltig aus dem Rest der Welt hervorgetan hat. Erst so wurden staatsbürgerliche Verant-wortung und persönliche Moral historisch möglich.) 

Und zweitens gibt es einen - nämlich den öffentlichen - Bereich, wo die Zwecke des einen notwendig mit den Zwecken der andern ins Gehege kommen, weil die Menschen nur durch Arbeitsteilung und Kooperation lebensfähig sind. Hier wird Vermittlung der Zwecke des Einen mit denen der Andern nötig. Das ist der Bereich der Politischen.

Am Ökonomischsten ist es, ein einstweiliges Übereinkommen durch Verständ igung zu su-chen. Das gelingt nicht immer, denn Verständigung benötigt Verstand, und den haben nicht immer alle. Da muss dann das Kräfteverhältnis entscheiden, und äußerstenfalls die Überlegen-heit der Waffen. Letzteres ist immer unvernünftig, weil es unvermeidlich zu Zerstörungen von Reichtum führt und zum Verlust an menschlichem Leben.

Auch die ökonomische Sichtweise ist eine vernünftige. Um fromm, weise und gütig leben zu können, müssen Menschen leben können. Dies ist die notwendige Bedingung für alles Weitere. Doch auf diese Doppeltheit kommt es an: Die Bedingung kommt zuerst, das Weitere erst des weiteren. Aber nicht die Bedingung ist ihr eigener Zweck, sondern - das Weitere. Die sachli-chen Bedingungen wird man kühl und nüchtern erwägen können, da lässt sich mancher Streit durch schlichtes Messen erübrigen. Mit den weiteren Zwecken ist das anders. Dort wird Er-messen erforderlich, nämlich Schätzungen, Wertungen, Leidenschaften und manches andere. Da gerät der gesunde Menschenverstand oft in die Klemme, da bleibern Übereinkünfte prekär und vieles muss immer wieder ausgefochten werden, siehe oben.

Zu dem erwähnten Weiteren gehören ganz besonders auch Wertungen, die umgangssprachlich als moralisch bezeichnet werden. Zu den sachlichen Voraussetzungen des Lebens zählen sie nicht, denn die sind sich die Menschen gegenseitig schuldig. Ein - eo ipso strittiges - Politikum ist immer die Frage, wo die Gegenseitigkeit anfängt und wie weit sie reicht (und das ist wieder-um eine politische Frage); nicht aber die Schuldigkeit selbst, die ist kategorisch, und sie ge-winnt nichts dazu, wenn sie moralisch aufgeblasen wird; das macht sie suspekt und bana-lisiert... die Moralität.

Moralität bezeichnet all das, was ein jeder sich selber schuldig ist. Das kann immer nur er selbst bestimmen, das darf er sich gar nicht von einem Andern vorsagen lassen. Fromm, weise, gütig - das zählt auch darunter, doch sind das Dinge, über die er sich mit andern im-merhin beratschlagen kann. Für das im strengen Sinn Moralische trifft nicht mal das zu - jedenfalls nicht weiter, als er dem jeweils anderen auch sonst Zugang zu seinem Persönlichsten gewährt, denn dann sind sie aus Freiheit beide einander etwas schuldig

Die Grenze im Politischen ist das, was ich mir von andern zumuten lasse. Die Grenze im Moralischen ist das, was ich mir selber zuzumuten bereit bin. Die Grenze heißt - wiederum umgangssprachlich - Selbstachtung, und an dem Punkt nehme ich es mit mir selber um vieles genauer als mit den Leuten.

Die Unterscheidung zwischen Gesinnungsmoral und Verantwortungsmoral hat Max Weber in einer seiner letzten öffentlichen Äußerungen eingeführt, vor Studenten der eben gegründeten Deutschen Hochschule für Politik; und sie trägt den bezeichnenden Titel Politik als Beruf. Denn davon ist die Rede: vom sittlichen Dilemma des Berufspolitikers. Von einer Verantwor-tungsmoral kann nur er reden und nicht schon jeder, der sein geschmeidiges Rückgrat beschö-nigen will, ohne überhaupt öffentlich Verantwortung zu tragen. 

An verantwortlicher Stelle kommt ein Berufspolitiker öfter mal in die unangenehme Lage, Entscheidungen mittragen zu müssen, die er, wenn er nur für sich wäre, nie getroffen hätte. Doch mit seinem Gewissen  ist er wenn er es will, und gerade er sollte es wollen, immer wie-der allein. Und wenn es hart auf hart kommt, kann es passieren, dass ihm seine Gesinnung - die betrifft alles, was oben als 'das Weitere' vorkam - eine berufliche Veränderung nahelegt, und seinen Hut zu nehmen.

Ich glaube, in Deutschland hat das als letzte - noch in vorigen Jahrtausend - die Frau Schnar-renberger getan. Seither treten Politiker nur noch zurück, wenn ruchbar wurde, dass sie eine Gesinnung gar nicht haben; nicht einmal eine politische.