aus FAZ.NET, 22. 5. 2022
Was wäre, wenn Martin Luther Papst geworden wäre? Im Jahr 1976 beantwortete Kingsley Amis diese Frage in seinem phantastischen Roman „The Alteration“. Darin entwirft Amis das Panorama eines fiktiven Europas im zwanzigsten Jahrhundert, das den Zerfall des Christen-tums in Katholizismus und Protestantismus vermieden hat. Die Reformation führte nicht zur Kirchenspaltung, sondern beförderte vielmehr Luther selbst als Papst Germanian I. auf den Stuhl Petri. Diese imaginierte „Änderung“ des Geschichtsverlaufs hat bei Amis drastische Folgen. Die Moderne ist ausgeblieben. Im England der Jetztzeit singen noch immer Kastraten, es gibt keine Elektrizität, und die technologische Entwicklung ist auch sonst kaum vorange-kommen, „Wissenschaft“ ist ein Schimpfwort, und die Größen der abendländischen Kultur stehen unter der Knute der Kirche. Ohne Reformation ist die alternative Gegenwart dunkel, klerikal und theokratisch.
Der Weg von Amis’ Roman zum neuen Buch des emeritierten Historikers Heinz Schilling ist kürzer, als er scheinen mag. Auch Schillings große Erzählung kreist um den Zusammenhang zwischen Reformation und europäischer Gegenwart. Ein zentrales Charakteristikum des Christentums, das Schilling schon in der Spätantike und im Mittelalter ausfindig macht, besteht in seiner bipolaren inneren Struktur. Transzendenz und Immanenz, Glaube und Welt, Kirche und Staat – das Christentum legitimiert und bedient jeweils beide Pole. Mit Papst und Kaiser hatte die westliche Christenheit deshalb lange eine Doppelspitze. Sooft beide Führungspo-sitionen auch miteinander konkurrierten, noch häufiger gingen sie enge Allianzen ein. Das betraf insbesondere die Bekämpfung von Abweichlergruppen, von denen zunächst angesichts koordinierter geistlich-weltlicher Machtausübung keine längerfristig überleben konnte.
- Der Beitrag des Christentums zum Abendland...
- Der wichtigste Beitrag des Christentums zum Abendland.
- Europa und die Vernunft.
Doch die erfolgreiche Zusammenarbeit bei der Häretikerbekämpfung zwischen Kirche und weltlicher Macht bröckelte im frühen sechzehnten Jahrhundert. Die weltlichen Herrscher entdeckten allmählich, dass die Förderung von Glaubensabweichlern gegen den Papst unter Umständen gewinnbringender war als deren gemeinsame Bekämpfung. Viele Reformatoren fanden deshalb nach 1517 die Unterstützung ihrer Obrigkeiten, die die Reformation geschickt nutzten, um ihre entstehenden Staatsapparate zu stärken. Die traditionsreiche Allianz von geistlichen und weltlichen Mächten wurde wiederbelebt, ja sie wurde intensiver als je zuvor, nun freilich unter dem Zeichen einer gespaltenen Christenheit.
Das stärkte nicht nur die Macht der Staaten; es entstanden nun erst die modernen christlichen Großkirchen, die sich in ständigem Austausch mit der werdenden Staatsmacht zu institutio-nalisierten, homogenen und hierarchischen Massenorganisationen entwickelten. Ein tiefgrei-fender Wandel im Verständnis von Kirche, Glauben und religiösem Leben war die Folge. Zwei ideologisch gegensätzliche, strukturell jedoch ganz ähnlich organisierte Lager entstanden und beäugten sich mit äußerster Feindschaft.
Es war diese staatlich verfestigte Kirchenspaltung, nicht jedoch die Reformation Luthers per se, die in Schillings Augen zur treibenden historischen Kraft wurde und die Moderne mit all ihren Ambivalenzen heraufführte. Neben einem vorbildlosen Willen zur Disziplinierung großer Menschengruppen steht der ungeheure künstlerische Ausdruckswillen, den das kon-fessionelle Zeitalter entfachte. Damals entstanden neuartige innerliche Formen des Glaubens-lebens ebenso wie jener unerbittliche Wahrheitsanspruch der Kirchen, der mehr als einmal zu brutalem Fundamentalismus führte. Obwohl die Kirchen streng über die Gelehrten und ihre Ideen wachten, trieb ihre Rivalität sie doch zugleich zu Höchstleistungen an. Nicht trotz, son-dern in und wegen der Kirchenspaltung wurde Europa modern. Daraus zieht Schilling sympa-thische Lehren für die Gegenwart. Die „Freude am religiös-spirituellen wie kulturellen Reich-tum der europäischen Christenheit“ sollte den ökumenischen Alltag des 21. Jahrhunderts anleiten.
Seit den frühen Achtzigerjahren haben diese Thesen Schillings zur „Konfessionalisierung“ Europas die Forschung angeregt und zugleich heftige Diskussionen ausgelöst. Ein Einwand lautet, hier würden großflächige Erklärungsansätze die Vielfalt historischer Erfahrungen nivellieren. Andere Kritiker meinen, dass sich wesentliche Teile des modernen, demokrati-schen Selbstverständnisses Europas gerade nicht auf den Loyalitätsabsolutismus der Konfes-sionskirchen zurückführen lassen. Die konfessionelle Spaltung mag Europa den Umgang mit Pluralität zunächst aufgenötigt haben, doch akzeptiert wurde sie von den konfessionalisierten Kirchen gerade nicht. Toleranzideen entsprangen alternativen Argumentationsreservoirs. So-fern sie religiös motiviert waren, entstammten sie häufig dem humanistischen oder mysti-schen Christentum; häufig wurde Duldung jedoch auch einfach pragmatisch legitimiert oder juristisch begründet. Die Durchsetzung religiöser Vielfalt war so schwierig, weil sie eine zu-tiefst antikonfessionalistische Idee war. Hier erreicht die These des neuzeitlichen Konfessio-nalismus als modernisierende Kraft ihre Grenze.
Mehr als nur sachliche Lücken
Schillings Buch integriert zahlreiche seiner früheren Publikationen. Es spiegelt die eindrucks-volle Fülle seiner Forschungen wider. Zugleich gibt es Fehlstellen. Frömmigkeit dient meist nur der Illustration sozialhistorischer Trends; statt um menschliches Innenleben geht es vor-rangig um strukturelle Prozesse. Die Aufklärung findet nur auf wenigen Seiten des Epilogs statt. Vor allem fehlen zentrale Themen wie Mission, Kolonien, Religionsbegegnungen. Das ist mehr als nur eine sachliche Lücke, denn mit diesen heute besonders drängenden Themen ver-bindet sich die Frage, welche Rolle die Konfessionen eigentlich bei der Globalisierung des Christentums hatten. Wie konfessionalisiert waren die neuen, indigen geprägten Christentümer des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Kongo, in Äthiopien, in Japan oder am Ama-zonas? Die neuartigen religiösen Erfahrungen in diesen Missionen wirkten schnell und ganz direkt auf die pastorale Praxis in Europa zurück. Europa selbst, seine schwer zugäng-lichen Binnenregionen, die Berggegenden oder einsamen Inseln etwa, wurde im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert zum Missionsgebiet erklärt.
Während Schilling sehr anschaulich die urbane Dimension des neuzeitlichen Christentums betont, könnte man genauso gut auch die Neuentdeckung der ländlichen Räume als ein Sig-num des modernen, missionarischen Christentums bezeichnen. So regt Heinz Schillings ge-radlinige Erzählung von der modernisierenden Kraft der neuzeitlichen Kirchen durch ihren eindrucksvollen Reichtum an Wissen und pointierten Thesen nachdrücklich dazu an, auch zukünftig über die Rolle des Christentums in der Geschichte Europas nachzudenken.
Heinz Schilling: „Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa“. Aufbruch in die Welt von heute. Herder Verlag, Freiburg 2022. 480 S., geb., 28,
Nota. - Zur Aufklärung kann diese Sicht nicht viel aussagen - weil die epochale Zäsur des Deißigjährigen Krieges nicht hineinpasst. Einerseits war er das Ergebnis der Kirchenspaltung, andererseits war er der Anfang der europäischen Säkularisierung, die weltweit einzig ist. Der Westfälische Frieden kam nicht Zustande unterm Patronat der Kirchen oder überhaupt der Religion, sondern durch die Erhebung der Vernunft zum obersten Schiedsrichter in allen öffentlichen Angelegenheiten. Das war der Beginn der Aufklärung, die ihren Höhepunkt in der intellektuellen Vorherrschaft der enyzyklopädischen philosophes in Frankreich fand, die zur Empörung des abtrünnigen Rousseau samt und sonders heimliche Atheisten waren.
Seither ist in Europa der Einfluss der Kirchen auf das öffentliche Leben und der Religion auf die Herzen und Köpfe unablässig zurück. Nur darum können die Anfeindungen der Freiheit durch fremde Fundamentalismen abgewehrt werden.
JE
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