Dienstag, 10. Mai 2022

Er kann gar nicht mehr zurück.

 

In einem Interview im Wiener Standard vom 2. 4. 22 trägt der Autor Moritz Rudolph seine Geschichts-philosophie vor: "Der Philosoph Moritz Rudolph sieht im Ukrainekrieg vor allem China als Gewinner. ... Nicht der liberale Westen, wie es einst Francis Fukuyama prophezeite, sondern China werde als "vollkommene Synthesemacht" aus Kapitalismus und Sowjetkommunismus dereinst am Ende der Geschichte stehen". Ein in der Ukraine siegreicher Putin könnte ganz Europa unter die Botmäßigkeit Chinas führen, wo unermeidlich früher oder später die Künstliche Intelligenz die Macht übernehmen werde."

Das kam mir zu schrill vor für mein Blog, und so habe ich das Interview damals nicht nachgedruckt. Inzwischen gelten die öffentlichen Spekulationen mehr der Frage, wss geschähe, wenn Putin den Krieg nicht gewinnt. Dazu enthält das Interview einige aufschlussreiche Beobachtungen. Hier ein Ausschnitt.

Das Interview führte Stefan Weiss

... STANDARD: Wir sprechen aktuell wieder in der Terminologie der alten Ost-West-Kon-frontation. Ihrer Analyse nach wird Russland aber nicht mehr sein als ein Vasallenstaat Chinas, richtig?

Rudolph: Russland ist eine Landschaft mit Raketen, hat weniger Einwohner als Bangladesch, eine Wirtschaftskraft, die mit der spanischen vergleichbar ist, und kaum Soft Power. Es hat Öl und Gas, die Einnahmen fließen in die Kriegsmaschine. Menschen braucht man dafür kaum noch. Insofern ist Russland eine nachmoderne Konfiguration. Es kommunizieren zwei Naturen miteinander: die Landschaft und die Kriegstechnologie. Damit kann Putin in den Krieg ziehen, aber nicht in den Frieden.

STANDARD: Warum nicht?

Rudolph: Mit Hannah Arendt gesprochen: Der Kreml hat kaum Macht, aber Gewalt, er kann keine Gemeinschaft stiften, nur kaputtmachen. Er mag die Weltordnung zerstören, wird aber trotzdem verlieren und seinen Großmachtstatus nicht zurückerhalten. Dafür fehlen ihm die Mittel. Er muss sich an den Rockzipfel Chinas klammern. Heute ist er der Junge fürs Grobe, morgen Rohstofflieferant. Indem er sich gegen seine eingebildete Vasallenrolle stemmt, wird er erst recht zum Vasallen.

STANDARD: Hegel sah um 1800 den Fortschrittsgeist der Zukunft richtigerweise in den USA heraufdämmern, aber schon sein jüngerer Zeitgenosse Napoleon bemerkte "wenn China erwacht, wird die Welt erzittern". In Europa zittert man dennoch mehr vor Russland. Zu Recht?

Rudolph: Völlig zu Recht. Gerade weil der Kreml ohnmächtig ist, ist er gefährlich. Er kann nichts aufbauen, aber alles zerstören. Früher musste man eine große Macht sein, um mitmischen zu können. Heute gelangt man mit geringem Aufwand in den Besitz einer ultradestruktiven Technologie, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Die Nachmoderne scheint den Einsatz von Gewalt zu prämieren. Moskau macht davon ausgiebig Gebrauch. China ist hingegen mächtig und darum ordnungsfähig. Napoleons Zittern bedeutet nicht unbedingt Angst. Vielleicht ist damit nur gemeint, dass Peking die fragile Weltordnung durchschüttelt und neu zusammensetzt – Kapitalismus, Kommunismus, Konservatismus, Technikglaube und Naturergebenheit könnten sich zu einem Gebilde vermengen, das alle Erfindungen der Vergangenheit verbindet.

STANDARD: Sie schreiben, dass China zehnmal mehr Daten speichert und dreimal so viele Patente jährlich für künstliche Intelligenz (KI) anmeldet wie die USA. Warum ist das so entscheidend?

Rudolph: Als konventionelles Machtmittel ist KI vielleicht nicht sehr aufregend. Da ist sie bloß eine quantitative technologische Neuerung, die die Karten neu mischt, aber kein neues Spiel erfindet. Doch vielleicht erzeugt sie irgendwann eine neue Qualität, etwas, das die Subjektivität vom Menschen abzieht und der Materie zuführt. Das wäre die technologische Singularität, der Eintritt in die Nachgeschichte der Menschheit.

STANDARD: Fukuyamas "Ende der Geschichte" wurde spätestens von Putin eindrücklich widerlegt. Sie meinen, das Ende der Geschichte komme über uns, wenn China dereinst die Kontrolle an seine KI abgibt. Das klingt doch sehr nach "Terminator". Ist das nicht unrealistisch?

Rudolph: Sind solche radikalen Übergänge nicht normal? Der Klagenfurter Soziologe Arno Bammé sieht vier Singularitäten in der Geschichte der Menschheit, die alles verändern: die neolithische Revolution, das griechische Mirakel der Denkabstraktion und die wissenschaftli-che Welteroberung der Europäer. Die technologische Singularität wäre der vierte Bruch, der Eintritt in die technologische Zivilisation, in der das Subjekt nicht mehr Mensch heißt, son-dern Maschine. ...

Moritz Rudolph ist 1989 in Gotha geboren und hat Politik, Geschichte und Philosophie studiert. Sein Essay "Der Weltgeist als Lachs" erschien 2021 bei Matthes & Seitz.

 

 

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