Sonntag, 15. Mai 2022

'Das deutsch-russische Jahrhundert'.

 
aus spektrum.de, 15. 5. 2022

Rezension
»Das deutsch-russische Jahrhundert«
Zwischen enger Verflechtung und brutaler Abgrenzung
Der Historiker Stefan Creuzberger beschreibt ein Jahrhundert besonderer Beziehungen zwischen Deutschen und Russen. Eine Rezension


von Josef König

Wenn die »Neue Zürcher Zeitung« kürzlich schrieb, dass kaum ein europäisches Land seit Ende des Kalten Krieges so mit Russland verflochten sei wie Deutschland und dass gerade SPD-Politiker besonders dazu beigetragen hätten, ist das nur die halbe Wahrheit. Diese aktuell in Zweifel geratene gegenseitige Verbundenheit rührt schon aus den Zeiten des Niedergangs des Deutschen Kaiserreiches und des Russischen Zarenreiches Anfang des 20. Jahrhunderts.

Wer sich über die deutsche Haltung zu Russland et vice versa kompetent informieren und manches deutsche Zögern im aktuellen Krieg in der Ukraine verstehen möchte, dem sei das kürzlich erschienene Werk des Rostocker Historikers Stefan Creuzberger empfohlen: »Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung« ist ein fakten- und umfangreiches Buch, das auf gesichertem Wissen und eigener Archivarbeit beruht.

Eine ungewöhnliche und spannende Chronologie

Es besteht aus drei großen Kapiteln (»Revolution und Umbruch«, »Terror und Gewalt« sowie »Abgrenzung und Verständigung«), die jeweils vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis heute die Geschichte der Beziehungen analysieren. Indem Creuzberger sie nicht kontinuierlich erzählt, sondern sich anhand markanter Ereignisse und Umbrüche entlanghangelt, entsteht eine unge-wöhnliche und spannende Chronologie.
Das deutsch-russische Jahrhundert
Das deutsch-russische Jahrhundert
Geschichte einer besonderen Beziehung
Verlag: Rowohlt, Hamburg 2022
ISBN: 9783498047030 | Preis: 34,00 €


Man könnte sich die Augen reiben angesichts der Tatsache, dass Kaiser Wilhelm II und Zar Nikolaus II Cousins waren und dennoch einen der blutigsten Kriege gegeneinander führten. Dabei war die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den beiden Kaiserreichen von gegensei-tiger Abhängigkeit geprägt: 1913 bezog das Zarenreich 47,6 Prozent seiner Gesamteinfuhren aus dem Deutschen Kaiserreich; umgekehrt flossen 44,3 Prozent der gesamten russischen Warenexporte nach Deutschland. Während des Kriegs fand, bislang wenig bekannt, in Russ-land der erste Giftgaseinsatz Deutschlands statt. Insgesamt starben mehr als eine halbe Million Russen während dieses Kriegs den Giftgastod.

Am Ende des Ersten Weltkriegs waren beide Länder politische Parias, Russland auf Grund der linken Revolution und des erzwungenen Diktatfriedens von Brest-Litowsk, Deutschland nach dem demütigenden Versailler Friedensvertrag. Auch um dieser Isolation zu entkommen, schlossen beide Nationen den Rapallo-Vertrag von 1922, den die Siegermächte argwöhnisch betrachteten. Mit ihm erkannte Deutschland als erste Nation das revolutionäre Russland an; im Gegenzug bekam sie Zugang zu russischen Rohstoffen und Energie sowie die Möglichkeit, das Verbot militärischer Forschung zu umgehen, indem man sie auf russisches Gebiet verla-gerte. Dieser Vertrag ist für Creuzberger gleichsam Angel- und Drehpunkt der Beziehungen zwischen den beiden Ländern, nicht zuletzt, weil er Deutschland in den Augen der Westmäch-te zum unsicheren Kantonisten machte.

Auch der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 markiert die besonderen Verbindungen der zwei Staaten. Beide regierten zynische Diktatoren, die sich dennoch gegenseitig bewunderten. Der Vertrag ordnete die Machtsphären zwischen den Ländern neu – und Polen wurde zum dritten Mal aufgeteilt. Der Pakt, der nur 22 Monate hielt, sicherte Hitler bis zum Einmarsch in die Sowjet-union Ruhe für seine Eroberungen und pünktliche Rohstofflieferungen selbst noch am Vortag des Einmarsches. Der damit beginnende Krieg gegen die Sowjetunion brachte unsägliches Leid über beide Länder, der allein auf sowjetischer Seite mehr als 26 Millionen tote Bürger forderte.

Nachdem mit Adenauer als Kanzler nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine sichere Westbindung der Bundesrepublik erfolgt war – und damit die Abgrenzung zum Warschauer Pakt, in den die DDR eingebunden war –, brachte ab Anfang der 1970er Jahre die Regierung Willy Brandts eine neue Ostpolitik der Aussöhnung mit Russland. Danach entwickelten deut-sche Bundeskanzler ausgeprägte Freundschaften zu den Führern der Sowjetunion bis hin zur ungewöhnlichen Freundschaft Schröders zu Putin, welche die heutige Abhängigkeit Deutsch-lands von russischer Energie markiert.

Creuzbergers Buch breitet eine Fülle an Fakten aus, ist leicht, verständlich und gut geschrie-ben: ein Muss für jeden, der die besonderen Beziehungen der beiden Länder verstehen und den tagesaktuellen Polarisierungen mit einem erweiterten Zugang begegnen möchte.

 

Nota. -  Das "kurze zwanzigste Jahrhundert" und das begonnene einundzwanzigste waren und bleiben geprägt vom Europäischen Bürgerkrieg nach 1917: vom Beginn der Weltrevolution in Russland, ihrer ersten Niederlage in Deutschland und die darauf folgenden komplementären Konterrevolutionen in Russland und Deutschland, bis zur der darauffolgenden Neuordnung der Welt im Kalten Krieg und ihrem Riss mitten durch Deutschland. 

Nach der deutschen Wiedervereinigung stand eine erneute Umverteilung an, der Untergang der Sowjetunion konnte die amerikanische Hegemonie im Westen nicht unberührt lasse. Und schon gar nicht der Aufstieg des neostalinistisch-kapitalistischen Chinas, dessen offensive Außenpolitik wenigstens ebenso starke bonapartistische Züge trägt wie die von Putin. Es kann gar nicht"saturiert" werden, wie Bismarck von seinem Reich behauptete, denn der Bonapartis-mus dient hier wie dort der Bewahrung eines prekären inneren Gleichgewichts, und wie ag-gressiv er wird, hängt unkalkulierbar von jenem ab. Davor bewahrt kein Fädenziehen, sondern dafür muss man sich wappnen. Das russische Ausgreifen ist nur eine erste Welle, andere wer-den folgen - und die werden das laufende Jahrhundert mehr prägen als das veflosssene deutsch-russische Sonderverhältnis. Es ist eben, wie einer sagte, eine Zeitenwende.
JE

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