aus scinexx.de,
Das mittlere Pleistozän war eine für die europäische Frühgeschichte entscheidende Phase. Denn damals, vor 550.000 bis 350.000 Jahren, besiedelten die ersten Neandertaler den Westen des Kontinents und legten den Grundstein für spätere Fortschritte auch in der Werkzeugtechnologie. Bisher ging man allerdings davon aus, dass die damalige Bevölkerungsdichte selbst in den Zwischeneiszeiten nicht über rund 2.000 Frühmenschen hinausging.
Während der Kaltzeiten könnte die Population der Homininen in Europa sogar auf wenige hundert Individuen abgesunken sein. Diese überdauerten in nur wenigen noch lebensfreundlichen Refugien am Mittelmeer – und waren jeweils tausende von Jahren voneinander isoliert. So das gängige Szenario.
Besiedelbare Nischen ermittelt
Doch eine neue Studie der damaligen Verhältnisse zeichnet nun ein ganz anders Bild. Ein deutsch-spanisches Forschungsteam um Jesus Rodriguez vom Nationalen Forschungszentrum für die Evolution des Menschen (CENIEH) in Burgos hat dafür die Klima- und Lebensbedingungen im mittleren Pleistozän auf Basis von Klimadaten und Modellen der Vegetation rekonstruiert.
„Diese Technik der Nischenmodellierung wird gewöhnlich eingesetzt, um die Verteilung moderner Tiere und Pflanzen vorherzusagen“, erklärt Rodriguez. „Auch auf fossile Organismen wurde sie schon häufiger angewendet. Aber dies ist das erste Mal, dass man sie auf diese Zeitperiode in dieser geografischen Ausdehnung angewendet hat.“ Ausgehend von den resultierenden Karten ermittelte das Team anhand der Bedürfnisse heutiger Jäger-und-Sammler-Kulturen, wo frühe Menschen damals trotz der Klimaschwankungen hätten überleben können.
Lebensfreundlicher Korridor durch Europa
Das überraschende Ergebnis: Selbst auf dem Höhepunkt vergangener Kaltzeiten wie der Elster-Eiszeit blieben weit mehr Gebiete in Europa lebensfreundlich als angenommen. Statt nur kleiner Refugien direkt am Mittelmeer blieben weite Teile Mittel- und Westeuropas eisfrei und zur Besiedlung geeignet. „Das Nischenmodell zeigt eine geeignete Fläche, die die südlichen Halbinseln über Frankreich und den Westen Deutschland mit den Britischen Inseln verbindet“, schreiben die Forschenden.
Während der Kaltzeiten machte kaltes, trockenes Klima zwar den größten Teil der nördlich des 50. Breitengrad liegenden Gebiete zu lebensfeindlich. Auch höher gelegene Gebiete wie die Alpen und Pyrenäen, die Ardennen oder Teile Zentral-Frankreichs wurden zu kalt. Der Rest West- und Mitteleuropas bot aber selbst dann noch geeignete Bedingungen für die Besiedelung, wie Rodriguez und sein Team feststellten.
Genug Ressourcen für 13.000 bis 25.000 Individuen
Das bedeutet: Den frühen Menschen in Europa standen mehr Ressourcen und mehr Fläche zur Verfügung als bislang gedacht – und sie waren auch nicht genetisch voneinander isoliert. Denn selbst auf dem Höhepunkt der Vereisungen blieb ein lebensfreundlicher Korridor erhalten, durch den Gruppen vom Norden Spaniens über Südfrankreich bis nach Mitteleuropa ziehen konnten. Nur die Frühmenschengruppen in Italien wurden zeitweise vom Rest der Population isoliert.
Aus diesen Daten resultiert auch eine neue Schätzung darüber, wie viele Menschen es vor 550.000 bis 350.000 Jahren in Europa gegeben haben könnte. „Wenn wir von einem konservativen Ansatz ausgehen, muss die Bevölkerung Westeuropas während dieser Zeit zwischen rund 13.000 und 25.000 Individuen geschwankt haben“, berichten Rodriguez und seine Kollegen. Diese Frühmenschen waren vermutlich auf gut 500 bis 1.000 einzelne Jäger-und-Sammler-Gruppen verteilt.
Die Populationsdichte während des mittleren Pleistozäns könnte demnach gut zehnmal höher gewesen sein als nach gängigen Modellen angenommen. „Dieses Ergebnis bietet ein neues theoretisches Szenario und könnte die kulturelle und biologische Evolution erklären, die im mittleren Pleistozän in Westeuropa stattfand“, schreiben die Wissenschaftler. (Scientific Reports, 2022; doi: 10.1038/s41598-022-10642-w)
Quelle: CENIEH
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