Sonntag, 30. November 2014

Früheste Ackerbauern in Schwaben.

aus derStandard.at, 25. 11. 2014

Archäologen entdecken im Südwesten Deutschlands 7.000 Jahre alte Siedlung
Funde liefern Hinweise auf Lebensweise der frühen Bauern

Stuttgart - Deutsche Archäologen haben in Kirchheim unter Teck im Bundesland Baden-Württemberg eines der frühesten Siedlungen des Südwestens ausgegraben. Das Dorf stamme aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung, wie Grabungsleiter Jörg Bofinger vom Landesamt für Denkmalpflege am Dienstag mitteilte. Mit rund 25.000 Quadratmetern handle es sich auch um die bisher größte jungsteinzeitliche Siedlung, die je in dieser Region gefunden wurde. In den Lehmhütten dürften vor mehr als 7.000 Jahren bis zu 100 Menschen gelebt haben. Mithilfe von Fotodrohnen soll das Dorf für die Nachwelt dokumentiert werden, denn die Fundstelle wird in den kommenden Monaten unter Beton verschwinden . Von Jänner 2015 an will die Stadt das Gelände für ein Gewerbegebiet erschließen.

Ergiebige Abfallgruben
Die Forscher wurden vor allem in den einstigen Abfallgruben neben den Häusern fündig: Steinwerkzeuge, Keramikscherben und sogar Speisereste liefern wertvolle Hinweise auf die Lebensweise der frühen Bauern. Aufgrund der Verzierungen auf den Keramikbruchstücken konnten die Wissenschafter den Fundort der sogenannten Linearbandkeramischen Kultur zuzuordnen. (APA/red)

Samstag, 29. November 2014

Das Mammut für die Menschen, für die Hunde das Ren.

gefunden in Hohler Fels
institution logoMammut für die Menschen, Rentier für die Hunde: Wie die Nahrung vor 30.000 Jahren verteilt wurde
Dr. Karl Guido Rijkhoek 
Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen 

Pressemitteilung der Universität Tübingen und des Senckenberg Center for Human Evolution and Paleoenvironment: Knochenanalysen vom tschechischen Fundplatz Předmostí I offenbaren Tübinger Forschern Details über das Leben in der Gravettien-Kultur

Der prähistorische Fundplatz Předmostí I nahe Brno in der Tschechischen Republik wurde vor ca. 30.000 Jahren von Menschen der paneuropäischen Gravettien-Kultur besiedelt. Hier wurden aus den Knochen von mehr als tausend Mammuts Behausungen gebaut und auch Skulpturen aus ihrem Elfenbein angefertigt. Gemeinsam mit tschechischen und belgischen Kollegen untersuchte ein Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Professor Hervé Bocherens vom Fachbereich Geowissenschaften der Universität Tübingen und dem Senckenberg Center for Human Evolution and Paleoenvironment (HEP), wie die prähistorischen Menschen an dieses wertvolle Rohmaterial herankamen: Sammelten sie die Knochen und das Elfenbein von Kadavern, die in der weiten Steppe einfach auszumachen waren, oder handelte es sich um Jagd- beziehungsweise Schlachtreste? In der im Gravettien ganzjährig genutzten Siedlung fand sich auch eine große Zahl von Überresten weiterer Tiere, von denen sich einige als steinzeitliche Hunde bestimmen ließen. Halfen sie bei der Mammutjagd?

Zur Klärung dieser Fragen untersuchten die Wissenschaftler die Knochenfunde genauer. Sie analysierten die stabilen Kohlenstoff- und Stickstoffisotope in menschlichen und tierischen Knochen aus der Fundstelle. Die Signatur der Isotope verrät den Wissenschaftlern, wovon sich die Lebewesen ernährt haben. „Die Menschen von Předmostí I aßen Mammutfleisch und das in großen Mengen“, berichtet Hervé Bocherens. Auch andere Fleischfresser wie Braunbären, Wölfe und Vielfraße hatten Zugang zu Mammutfleisch, was darauf hindeutet, dass viele frische Kadaver verfügbar waren – vermutlich wurden sie von den menschlichen Jägern zurückgelassen.

Erstaunlicherweise sahen die Befunde für die Hunde anders aus: Sie können sich kaum von Mammutfleisch ernährt haben, sondern fraßen hauptsächlich Rentierfleisch. Das wiederum zählte nicht zu den Hauptnahrungsmitteln der Menschen. „Ähnliches ist bei Traditionsvölkern nördlicher Regionen zu beobachten: Sie verfüttern das Fleisch an die Hunde, das sie selbst nicht so gern mögen“, sagt Bocherens. Die Ergebnisse deuteten außerdem darauf hin, dass die Hunde zahm waren. Sie wurden vermutlich als Transporttiere eingesetzt.

Zusammenfassend sagt der Wissenschaftler: „Mammuts waren ein zentraler Faktor des prähistorischen Lebens in Europa vor 30.000 Jahren, und Hunde wurden auch schon gehalten.“ 

Originalpublikation:
.Hervé Bocherens, Dorothée G. Drucker, Mietje Germonpré, Martina Láznicková-Galetová, Yuichi I. Naito, Christoph Wissing, Jaroslav Bruzek, Martin Oliva: Re-construction of the Gravettian food-web at Předmostí I using multi-isotopic tracking (13C, 15N, 34S) of bone collagen. Quaternary International (2014), http://dx.doi.org/10.1016/j.quaint.2014.09.044 

Kontakt: 
Prof. Dr. Hervé Bocherens
Universität Tübingen 
Fachbereich Geowissenschaften – Biogeologie
Senckenberg Center for Human Evolution and Paleoenvironment (HEP)
Telefon +49 7071 29-76988
herve.bocherens[at]uni-tuebingen.de


[Nota. - In der Domestikationsgeschichte des Hundes gab es ein Rätsel: Sie kann kaum damit begonnen haben, dass die Menschen Wölfe als Jagdhelfer eingesetzt haben. Was hätte jene veranlassen können, ihre Beute an die Menschen rauszurücken? Dazu muss ja ein hoher Grad von Domestikation schon erreicht sein! Es gibt die Mutmaßung, man habe Wolfswelpen als Spielgefährten für Frauen und Kinder in die Lager geholt (wie es in afrikanischen Stämmen wohl noch immer üblich ist). Danach mögen sie, wie noch heute in Alaska, als Transporttiere eingesetzt worden sein. Und als sie sich schon seit vielen Generationen nicht mehr selber von der Jagd zu ernähren brauchten - da konnten sie den Menschen b ei Jagen helfen. JE]

Donnerstag, 27. November 2014

Der späte Sieg der Weißen: Woher Putin seine Ideen hat.


aus nzz.ch, 2014-11-27 11:30:00                                                         Zaristische Offiziere; 4. v. lks. der weiße General Denikin

Putins Ideologie vom eurasischen Grossrussland

Die Weissen haben gewonnen
Präsident Putin handelt zwar aussenpolitisch nach der Staatsräson der Sowjetunion im Kalten Krieg, doch seine Ideen von der imperialen Grösse und dem eurasischen Sonderweg Russlands wurzeln im reaktionär-konservativen Denken des antibolschewistischen Exils. So gilt Putin als glühender Anhänger von Iwan Iljin. 

Unter den verheerenden Folgen des Ersten Weltkriegs gebührt der bolschewistischen Revolution 1917 zweifellos der oberste Rang. Die Niederlage und der Zusammenbruch des russischen Reichs wurden von einem blutigen Bürgerkrieg begleitet, in dem die Bolschewisten, die Roten, über die Weissen den Sieg davon trugen. Die Bolschewisten versprachen Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit, die Weissen kämpften für die Wiederherstellung der alten Ordnung. Nach vier Jahren in den Schützengräben waren die Bauern und Soldaten auf das Ancien Régime nicht gut zu sprechen. Den Kommunisten war es zudem gelungen, das russische Reich zu grossen Teilen in der Sowjetunion wieder zu vereinen. Das multinationale, vormoderne Imperium wurde die Heimat der Weltrevolution und des Sozialismus.

Kultur der Niederlage

Die geschlagenen Anhänger des alten Russland – Oppositionelle und Intellektuelle von rechts bis links – flohen ins Exil . Im Nachkriegseuropa liessen sich konservative Emigranten, die von der Befreiung des heiligen Russland vom Joch des Bolschewismus träumten, von faschistischen und geopolitischen Ideen jener Zeit beeindrucken. Manch ein Patriot versprach sich eine Wiedergeburt seiner Heimat von der rechten Diktatur und grübelte über einen Sonderweg Russlands. Unter den Exildenkern galt der Philosoph Iwan Iljin (1883–1954) als einer der besonders militanten Antibolschewisten. Im Faschismus sah er eine gesunde Reaktion auf den «linken Totalitarismus» und pries 1933 Hitler als Verteidiger Europas gegen die bolschewistische Barbarei. Selbst nach dem Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, als sich Stalins Imperium im Zenit seiner Macht und Ausdehnung zu befinden schien, glaubte Iljin an dessen unausweichlichen Zusammenbruch.

Er sah mittlerweile aber ein, dass der Faschismus es mit der totalen Herrschaft zu weit getrieben hatte. Dem künftigen Russland wünschte er eine autoritäre Diktatur im Stile Francos oder Salazars. Zugleich empörte sich Iljin aber über die Unterstützung nationaler Unabhängigkeitsbewegungen im sowjetischen Einflussbereich durch die Alliierten. Denn sie trügen zu einer Schwächung des Sowjetreichs bei, an dessen Stelle einmal ein «einiges und unteilbares Russland» als Führerstaat treten sollte. «Es wird die historische Stunde kommen», schrieb der russische Emigrant Iwan Iljin 1950 in der Schweiz, «da [das russische Volk] aus seinem scheinbaren Sarg auferstehen und seine Rechte zurückfordern wird.»

Auch andere Emigranten träumten von der Wiedergeburt des russischen Imperiums. In den zwanziger Jahren begründete eine Gruppe von Philosophen und Historikern eine Bewegung unter dem Namen Eurasiertum. Die Eurasier legten Wert auf geografisch bedingte Besonderheiten, unter denen der Nationalcharakter eines Volks in den zurückliegenden Jahrhunderten seine unverwechselbare Form angenommen habe, und hielten ihn für eine anthropologische Konstante. Russland sei weder Europa noch Asien, sondern ein vollkommen eigenständiger Landkontinent, der überwiegend asiatisch geprägt sei. Die russische Bevölkerung sei aus der Vermischung slawischer Stämme und mongolischer Nomaden hervorgegangen. Das romanisch-germanische Europa tauge deshalb keinesfalls als Vorbild, vielmehr stelle es eine Gefahr für die russische Kultur dar. Demokratische und sozialistische Ideen seien künstlich nach Russland verpflanzt worden, Liberalismus und Parlamentarismus seien dem Volk fremd. Die geeignete Staatsform sei daher eine Ideokratie, in der die vom Volk gewählte Führungsschicht durch eine Weltanschauung fundiert sei. Im künftigen Russland müsse der orthodoxe Glaube den Platz des Marxismus einnehmen.

Der liberale Politiker Pawel Miljukow verspottete das Russlandbild der Eurasier als «Aseopa». Er spielte damit auf ihren antieuropäischen Affekt an. Das Eurasiertum, erkannte scharfsinnig der Philosoph Nikolai Berdjajew, sei weniger eine intellektuelle denn eine «emotionale Reaktion nationaler und religiöser Instinkte auf die Katastrophe der Oktoberrevolution». Die Sehnsucht nach der Heimat hat einige der Emigrierten in die Sowjetunion getrieben, wo sie bald Opfer politischer Repressalien und des Grossen Terrors wurden. Stalin brauchte keine Berater in Sachen Ideokratie, war er doch selbst mit seiner imperialen Ideologie des Sowjetpatriotismus ein praktizierender Eurasier.


Auch als Denker waren die russischen Emigranten Zaungäste des Weimarer Europa geblieben. In der Sowjetunion wurden ihre Bücher in den Bibliotheken im «spezchran», dem Giftschrank, aufbewahrt. Eine Handvoll ausgewählter, parteinaher Geisteswissenschafter durfte in den vergilbten Seiten der in Berlin und Prag verfassten Werke blättern, um gegen den Klassenfeind ideologisch gewappnet zu sein.

Wiedergeburt auf Staatsebene

Doch diese Zeit ist längst passé. Die sterblichen Überreste von Iwan Iljin sind 2005 aus dem Schweizer Exil auf den Friedhof des Moskauer Donskoi-Klosters übergeführt worden. Die trüben Lehren der Eurasier füllen Regale in den Buchläden und werden wissenschaftlich erforscht. Mehr noch, die Emigranten mit ihrer Ideologie eines eurasischen Kulturraums scheinen ganz oben angekommen zu sein. Heute outet sich der russische Präsident Putin als glühender Anhänger von Iwan Iljin. Den Staatsbeamten empfiehlt er, dessen Werke wie einst die von Lenin zu lesen. Mit den Vorstellungen der «Russischen Welt», wie sie im Prag und Berlin der zwanziger und dreissiger Jahre herbeiphantasiert wurden, werden geopolitische Ansprüche Russlands legitimiert. 

In seinen Reden, wie etwa im Fernsehgespräch mit dem Volk, das nach dem Krim-Anschluss am 17. April 2014 stattgefunden hat, spricht Putin von Russen als ethnischem Mix, von besonderen russischen Werten, die den westlichen entgegengesetzt seien. «Wir sind weniger pragmatisch als andere Völker, dafür haben wir eine breite Natur. Vielleicht spiegelt sich darin auch die Grösse unseres Landes wider.» Der russische Mensch verfügt laut Putin über eine höhere moralische Bestimmung, die seit Dostojewski zum nationalistischen Stereotyp gehört. Der Russe sei anders als der Europäer durch seine Hinwendung nach draussen, zur Welt gekennzeichnet, er halte wenig vom Geld und sei bereit, für sein Vaterland zu sterben. «Darin liegen tiefe Wurzeln unseres Patriotismus», so Putin. «Daher kommen der Massenheroismus in den militärischen Konflikten und sogar eine Selbstaufopferung in der Friedenszeit. Hier wurzeln unser Gefühl der Zusammengehörigkeit, unsere Familienwerte.» 

Erst Ende der achtziger Jahren ging das kommunistische Projekt, das die alte bürgerliche Intelligenzia aus dem Land verbannt hatte, in die Brüche. Doch die Hoffnungen, Russland könnte sich politisch modernisieren und den europäischen Weg gehen, wurden enttäuscht. Mit der Hinwendung zu faschistischen und totalitären Phantasien, erkannte Berdjajew, reagierten russische Emigranten auf die Katastrophe der Oktoberrevolution. Auch das Ende des Sowjetimperiums wurde in Russland als eine «geopolitische Katastrophe» (Putin) wahrgenommen. Russen fanden sich auf einmal als ein geteiltes Volk wieder. Es nimmt wenig wunder, dass die Niederlage des Sowjetreichs einen massenpsychologischen Hintergrund schuf, vor dem das intellektuelle Erbe antiwestlicher Emigranten wie das des Grossmacht-Chauvinisten Iwan Iljin und der Eurasier in den Rang einer Staatsideologie erhoben werden konnte. 

Wladimir Putin preist nun die Siege russischer Feldherren im Ersten Weltkrieg und wirft den Bolschewisten, die bekanntlich für die Niederlage des eigenen Lands agitierten, Verrat an nationalen Interessen vor. Die Schreibtisch-Träumer aus den Zentren des russischen Exils liefern nun postum Belege für die höhere moralische Bestimmung des russischen Volkes und seine Bereitschaft, für das Vaterland in der ukrainischen Steppe zu sterben. Ein Jahrhundert nach der Oktoberrevolution haben die Weissen gewonnen. 

Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie die Romane «Brandgeruch» (Berlin-Verlag, 2011) und «Kaltzeit» (Amazon, 2013). 2004 kam «Wodka: Trinken und Macht in Russland» heraus.

Montag, 24. November 2014

Die Natur, die Wurzel, die Ursprünge: Grüne Ideologie zur Kenntlichkeit verzerrt.

aus Süddeutsche.de, 24. November 2014 15:47

Schweizer Volksabstimmung über "Ecopop"
Vaterlandsliebe und Öko-Fundamentalismus 

Wie viel Schweizer sind genug? Die radikale Öko-Bewegung "Ecopop" will die Einwanderung auf ein Minimum drosseln. Am Wochenende stimmen die Eidgenossen über eine Initiative ab, die ausgesprochen böse Züge annimmt. Am kommenden Wochenende, 30. November, wird das "Volk" in der Schweiz über eine Initiative namens "Ecopop" abstimmen.

von Thomas Steinfeld

Der Name ist Programm: "Écologie" und "population" verbinden sich zu einem Kofferwort, weil der Ökologie wegen in Zukunft nicht mehr Menschen in der Schweiz leben sollen, als das heute der Fall ist. Auf 0,2Prozent der vorhandenen Bevölkerung will eine gleichnamige Organisation, die sich der "Sicherung der natürlichen Grundlagen" verschrieben hat, die jährliche Zuwanderung beschränken. Zugleich soll, mit Mitteln, die dann von der Entwicklungshilfe abgezogen werden dürften, die Familienplanung gefördert werden (SZ vom 14. November). Darüber hinaus sorgt sich die Initiative um die Zersiedlung der Landschaft, die Überfischung der Weltmeere und das Bevölkerungswachstum in der ganzen Welt.

Praktisch wird sie aber nun an diesem Punkt: Nicht einmal ein Jahr, nachdem eine von Rechtspopulisten initiierte Volksabstimmung dazu führte, dass der Schweizer Staat zu einer nicht weiter bezifferten Verminderung der Einwanderung verpflichtet wurde, geht es nun um schlichten Bestandsschutz: Die acht Millionen Einwohner sollen acht Millionen bleiben - nur, dass das Argument dafür frei von allem Rassismus sein soll, weil die Ökologie an dessen Stelle getreten ist. 

Aber wie viel ist zu viel? Ökologisch wie ästhetisch betrachtet, war die Schweiz sicherlich erträglicher, als sie, wie noch im späten neunzehnten Jahrhundert, hauptsächlich ein Agrarstaat war. Damals gab es Novartis noch nicht. Die Firma Ciba widmete sich der Seidenfärberei und kippte ihre Abwässer ungefiltert in den Rhein. Die Credit Suisse war eine Kreditanstalt zur Finanzierung des Eisenbahnbaus. 

Mit den heutigen Verhältnissen komme man gerade noch zurecht. 

Aber das sind längst vergangene Zeiten, zu denen keiner mehr zurückkehren will. Warum eigentlich? In Monaco leben fast zwanzigtausend Menschen auf einem Quadratkilometer Boden, während es in der Schweiz zweihundert sind, und es geht ihnen gewiss nicht schlechter. Südlich der Sahara gibt es gerade einmal dreißig Menschen auf einem Quadratkilometer. Aber was bedeutet das? Warum acht Millionen - und nicht sieben oder neun? Ein erhebliches Maß von Willkür verbirgt sich in der Behauptung, ausgerechnet mit den heutigen Verhältnissen komme man so gerade noch zurecht. Die Willkür ist so groß, weil solche Rechnereien von allen Gründen absehen, warum sich an einigen Orten sehr viele Menschen einfinden und es an anderen weniger sind. 

Die Schweiz etwa ist nicht nur deshalb so wohlhabend - und damit auch: so freundlich anzusehen -, weil dort so fleißige, ordentliche und ästhetisch gesonnene Bürger leben. Ein großer Teil des dort angehäuften Reichtums wird in ganzen anderen Gegenden der Welt erwirtschaftet, in kolumbianischen Bergwerken zum Beispiel, deren Erträge im Kanton Zug eingesammelt werden. 

Oder an irgendeinem anderen Ort der Welt, wo es Unternehmer, Spekulanten oder Politiker gibt, die ihr Geld lieber von einer sicheren, diskreten Bank verwaltet haben möchten als von heimischen Kreditinstituten. Selbstverständlich führt dieser Reichtum dazu, dass Menschen aus anderen Ländern an ihm partizipieren wollen, sei es dadurch, dass sie gut ausgebildet sind und, aus durchaus eigennützigen Motiven, beim Anhäufen helfen wollen (solche Einwanderer waren auch in der Schweiz bislang eher willkommen), sei es dadurch, dass sie sich bislang durchs Leben eher haben kämpfen müssen und nun hoffen, dass beim Ausgeben etwas für sie abfällt. 

Verdacht der Heuchelei 

Das aussichtsreichste Mittel, mit den Mitteln des "social engineering" zur "Sicherung der natürlichen Grundlagen derSchweiz" beizutragen, bestünde also vermutlich darin, sie ein wenig ärmer zu machen - aber an diese Option hat die Initiative Ecopop bislang nicht gedacht, jedenfalls nicht öffentlich. Das legt nicht nur den Verdacht nahe, in den ökologischen Argumenten verberge sich womöglich eine Heuchelei, sondern erklärt auch die Sympathien, die diese Initiative mittlerweile von Wählern der SVP, der rechtspopulistischen Partei der Schweiz, erfährt. 

Weil sich dieser Verdacht aber so aufdrängt und weil, von den Wirtschaftsverbänden bis zu den alten Parteien, gegen Ecopop immer wieder eingewandt wird, dieses Vorhaben beschädige die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz, werden Umweltbewegte zu strengen Nationalisten - und Vaterlandsliebende zu Fundamentalisten der Ökologie. Und so verwandelt sich dieser kleine Staat in der Mitte Europas in ein höheres, gleichsam selbständiges Wesen, das aus sich heraus eigene Notwendigkeiten und Forderungen gebiert, worauf man sagen kann: "Unser Land verträgt das nicht!"

Der ökologische Fundamentalismus hat einen rationalen Kern: Die Natur tritt dem Menschen tatsächlich als etwas Selbständiges gegenüber. Sie ist, erklärt der Münchner Philosoph Elmar Treptow in seinem "Entwurf einer ökologischen Ästhetik" (Berlin 2006), "die Voraussetzung, von der wir leben, ohne sie hervorbringen zu können". Indessen ist die Natur nicht identisch mit der Schweiz. 

Vermischte Interessen 

Auch sonst vermischen sich in der Argumentation der Initiative Ecopop beständig Politisches und Ökonomisches mit Natürlichem. Kinderreichtum etwa geht in den meisten Ländern der Dritten Welt keineswegs nur auf Religion und Verblendung zurück, sondern stellt einen Versuch von Lebensversicherung dar, das Wissen um eine hohe Sterblichkeit eingeschlossen. Und dass es so etwas wie einen Kapitalismus gibt, der die natürlichen Ressourcen auch des letzten Erdenwinkels dem Gedanken an Verwertung unterwirft, bleibt der Initiative gleich ganz verschlossen. 

Stattdessen erscheint die "Natur" unter gleichsam ästhetischen Voraussetzungen: als eine Instanz, die um ihrer selbst willen geschützt werden muss und daher strenge Ignoranz erfordert. Daher nimmt der Versuch der Initiative Ecopop, mit einer ökologischen Ästhetik ein autonomes Gebilde zu erzeugen, dessen Grenzen aus angeblich pragmatischen Gründen mit den Staatsgrenzen identisch sind, ausgesprochen bösartige Züge an. Das Programm enthält etwa einen Passus, in der sich die Initiative mit dem Argument auseinandersetzt, jeder Mensch sei mehr oder minder der Umwelt nicht zuträglich, gleichgültig, ob er nun im Senegal oder in Lausanne wohne - man könne also deshalb aus ökologischen Motiven nicht gegen Migration sein. 

Die Antwort lautet: "Mit der Migration in die Schweiz erhöht . . . sich im Allgemeinen die reale Kaufkraft der Betroffenen stark, was sich in einem höheren Konsum und einer entsprechend höheren ökologischen Belastung äußert." Der arme Ausländer, lautet also der Gedankengang, möge bitte arm und Ausländer bleiben, damit der Schweizer sich weiter an der guten Luft, den grünen Wiesen und dem sauberen Wasser erfreuen kann - aus keinem anderen Grund, als dass der Schweizer eben ein Schweizer ist oder doch zumindest einer, der schon in der Schweiz wohnt und damit unter den Bestandsschutz fällt. 

Sozialdemokrat Rechsteiner: Idee klingt nach "Herrenvolk" 

So sei das ja nicht gemeint, erklärt die Initiative, wenn sie auf solche Kritik stößt. Denn es sei ja allgemein bekannt, dass es auf der Welt zu viele Menschen gebe und die natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens zerstört würden. Irgendwo müsse man ja anfangen, doch sprächen selbst die Vereinten Nationen davon, dass in der Dritten Welt zu viele Kinder geboren würden. Paul Rechsteiner, sozialdemokratischer Abgeordneter im Ständerat, sagte deshalb zu Recht, solche Ideen klängen nach "Herrenvolk". 

Der Vorwurf ist richtig, weil die Initiative Ecopop in ihrem Versuch, die Schweiz vor der vermeintlichen Zerstörung zu retten, von den Gründen der Armut und den daraus resultierenden Wanderungen nichts wissen will - und den Armen als geborene (oder manchmal auch zugezogene) Elite gegenübertritt, die fremden Reichtum gern entgegennimmt, aber nicht im Traum daran denken will, wie er entstanden ist. Dabei könnte man das Problem, wenn es denn wirklich nur um die Rettung der natürlichen Ressourcen der Schweiz ginge, auch ganz anders lösen: dadurch nämlich, dass eine angemessen große Zahl von Schweizern in den Senegal zöge. Ihr ökologischer "Fußabdruck" würde auf der Stelle schrumpfen.

Nota. - Als Anfang der 80er die K-Grüppler in heller Scharen zu Öko überliefen, habe ich noch gegiftet: Grün mit bissel Rot hat noch immer Braun ergeben. Aber das war gehässig, das verdienten sie nicht, es war zwar alles wichtig, aber nicht recht ernstgemeint, eigentlich hatten sie nur ihre Radikalität loswerden wollen, ohne ganz das Gesicht zu verlieren, aus Grün wurde so schnell Blass, dass von dem bissel Rot nichts mehr übrigblieb. 

Inzwischen sind sie eine Partei die alle andern, die Werte, für die wir einmal angetreten sind, kommen auch auf Vollversammlungen nicht mehr zur Sprache, sie sind nur noch der Schatten ihrer selbst - da finden sie, hoch oben in den Schweizer Bergen, ihr Konterfei an die Felswand gemalt: Das wär aus euch geworden, wenn ihr's nicht so eilig gehabt hättet, ministrabel zu werden.
JE

Freitag, 21. November 2014

Technischer Fortschritt in der Frühzeit.


Innovative Gesellschaften in der Vorgeschichte
Nicole Kehrer
Pressestelle 
Deutsches Archäologisches Institut

Internationale Tagung des Exzellenzclusters Topoi zur Verbreitung technischer Innovationen im 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. vom 24. bis 26. November in Berlin

Wie wurde in der Vorgeschichte Wissen über technische Innovationen weitergegeben? Gab es in der Zeit von 3.500 bis 2.000 vor Christus Gesellschaften, die besonders innovationsfreudig waren? Diese und andere Fragen stehen im Mittelpunkt einer internationalen Tagung des Exzellenzclusters Topoi, die vom 24. bis 26. November am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte stattfindet. Die Wissenschaftler zeichnen in ihren Vorträgen nach, in welchen sozialen und politischen Kontexten technische Innovationen auftauchten und welche Umweltbedingungen förderlich gewirkt haben könnten. Die Tagung wird ausgerichtet von der Topoi Forschergruppe „Atlas der Innovationen“, deren Ziel es ist, das Auftauchen fundamentaler Innovationen wie Rad und Wagen oder des Pflugs in der Alten Welt zu kartographieren. Tagungssprache ist Englisch. Die Veranstaltung ist öffentlich, der Eintritt frei.

Während bisherige Innovationstheorien wie die des australischen Archäologen Gordon Childe davon ausgingen, dass sich Innovationen von Zentren zur Peripherie durchgesetzt hätten, bezeugen archäologische Funde andere Verbreitungswege. Die Wissenschaftler der Tagung „Contextualising Technical Innovations in Prehistory“ versuchen durch eine übergreifende Perspektive – neben archäologischer Evidenz sollen etwa auch Ansätze der Techniksoziologie fruchtbar gemacht werden – neue Erklärungsmodelle für das oftmals gleichzeitige Auftauchen technologischer Entdeckungen zu finden.

Innovationen in der Alten Welt sind ein zentrales Thema des Exzellenzclusters Topoi. Zahlreiche Forschungsprojekte beschäftigen sich mit der Einführung und Verbreitung von technischen Neuerungen in der Alten Welt – dazu zählen neben Rad und Wagen und dem Pflug, Waagen und Sonnenuhren auch die Herstellung neuer Werkstoffe wie Eisen oder Glas oder die textile Revolution durch die Domestikation des Wollschafs. Diese umfassende Erforschung des Themas „Innovation“ wird durch die Zusammenarbeit aller an Topoi beteiligten Einrichtungen möglich. Dazu zählen neben den beiden Trägeruniversitäten – Freie Universität und Humboldt-Universität – die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie das Deutsche Archäologische Institut und das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, die diese Tagung ausrichten.

Zeit und Ort
• Montag, 24. bis Mittwoch, 26. November, jeweils 9 bis 18 Uhr
• Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Boltzmannstraße 22, 14195 Berlin

Weitere Informationen
Dr. Nina Diezemann, Exzellenzcluster Topoi, Freie Universität Berlin, Telefon 030 / 838-73190, E-Mail: nina.diezemann@topoi.org
Weitere Informationen: http://www.topoi.org/event/26293/ - Programmhinweis

Donnerstag, 20. November 2014

Warum das Assyrische Reich unterging.

aus scinexx                                                                                                 Tor der assyrischen Stadt Ninive

Klima und falsche Politik brachten die Assyrer zu Fall
Niedergang des ersten Großreichs der Weltgeschichte hat Parallelen zu heute


Rätselhafter Untergang: Das Assyrische Großreich brach schon kurz nach seiner größten Blüte rapide in sich zusammen. Warum, war bisher nur in Teilen geklärt. Jetzt haben Forscher zwei Gründe dafür aufgedeckt: Demnach beschleunigte eine fatale Kombination aus Bevölkerungswachstum und Klimawandel den Untergang. Dabei gebe es durchaus Parallelen zur heutigen Situation im Mittleren Osten, so die Forscher im Fachmagazin "Climatic Change".

Das Reich der Assyrer gilt als erstes Großreich der Weltgeschichte. Im frühen 7. Jahrhundert vor Christus erstreckte es sich von Ägypten bis an den Persischen Golf, vor allem unter seinem Herrscher Assurbanipal erlebte es eine kulturelle und wirtschaftliche Blütezeit. Doch schon kurz nach seinem Tod folgte das dramatische Ende, das Reich löste sich auf und wurde von seinen Nachbarn geschluckt. Was diesen raschen Niedergang dieser militärischen Supermacht seiner Zeit auslöste, blieb lange rätselhaft.

Unruhen, Krieg und Kollaps

Nach gängiger Annahme kollabierte das assyrische Reich in erste Linie durch seine überschnelle Expansion: Weil ein Großteil der Bevölkerung als Soldaten diente, fehlten im Kernland Arbeiter, Bauern und Verwaltungsbeamte. Es kam zur Unterversorgung und zu inneren Unruhen. Gleichzeitig schlossen sich die Babylonier und Meder zusammen und griffen die assyrischen Grenzen an.

Ausdehnung des assyrischen Reiches

Doch die politischen Faktoren waren es offenbar nicht allein, die den Assyrern den Untergang brachten, wie Adam Schneider von der University of California in San Diego und Selim Adalı vom türkischen Forschungszentrum für anatolische Zivilisationen herausfanden. Sie haben paläoklimatologische Daten analysiert und stellten dabei fest, dass das Klima im Nahen Osten während etwa ab 660 vor Christus deutlich trockener wurde. Als Folge erlebte das assyrische Reich zunehmende Dürren und Missernten.

Dürren förderten den Niedergang

Wie die Forscher berichten, gab es unter anderem 657 vor Christus eine fünf Jahre anhaltende Dürre, die die politische und wirtschaftliche Stabilität des assyrischen Staates stark geschwächt haben dürfte. Da in der Zeit davor die Bevölkerung Assyriens stark angewachsen war, konnte sie nun nicht mehr ausreichend versorgt werden – als Folge häuften sich Unruhen und Bürgerkriege brachen aus.

"Wir gehen davon aus, dass diese demographischen und klimatischen Faktoren eine indirekte, aber wesentliche Rolle beim Niedergang des Assyrischen Reiches spielten“, sagt Schneider. Die Assyrer konzentrierten sich auf kurzfristige wirtschaftliche und politische Ziele und erhöhten dadurch ihr Risiko, durch Klimaveränderungen beeinträchtigt zu werden. "Ihre technologischen Fähigkeiten und ihre wissenschaftlichen Kenntnisse über die Zusammenhänge in der Natur waren unzureichend", sagt Adalı.
Portrait des assyrischen Königs Assurbanipal bei der Löwenjagd

Parallelen zur heutigen Lage in Syrien?

Nach Ansicht der Forscher könnten heutige Gesellschaften daraus durchaus eine Lehre ziehen. Denn der Niedergang der Assyrer zeige, welche Folgen es hat, wenn man nur kurzfristige wirtschaftliche und politische Ziele verfolgt, statt auf langfristige wirtschaftliche Sicherheit und Risikominimierung zu achten. "Wir besitzen heute aber den Vorteil der Rückschau. Sie erlaubt uns rückblickend zu erkennen, was schief laufen kann, wenn wir langfristige Nachhaltigkeitsstrategien in der Politik nicht berücksichtigen", so Adalı.

Schneider und Adalı sehen auch Parallelen zwischen dem Assyrischen Reich damals und den Konflikten in Syrien und dem Nordirak heute. Denn diese Region erlebe auch jetzt wieder eine Periode zunehmender Trockenheit und damit verbunden der wirtschaftlichen Probleme. Diese könnten mit dazu beigetragen haben, die politischen Konflikte anzuheizen. (Climatic Change, 2014; doi: 10.1007/s10584-014-1269-y)

(Springer, 06.11.2014 - NPO)

Dienstag, 18. November 2014

Anklage gegen Edathy.

Idolino di Pesaro
aus Süddeutsche.de, 18. November 2014 17:56

Von der Ächtung bis zur Anklage
Die soziale Vernichtung von Sebastian Edathy lässt einen frieren. Dass er wegen des Besitzes von Kinderpornografie nun vor Gericht muss, ist dennoch richtig - in dieser Causa gibt es noch viel zu klären.

Kommentar von Heribert Prantl

Ach ja, die Unschuldsvermutung. Sie ist in Fällen wie dem von Sebastian Edathy nur noch papierschnipselgroß. Sie verwehte im Sturm der öffentlichen Empörung, der durch die Löcher des Ermittlungsverfahrens pfiff. Edathy war schon längst verurteilt, bevor die Anklage jetzt gegen ihn zugelassen wurde.

Dass er sich einst als Vorsitzender des Ausschusses zur Untersuchung der NSU- Mordtaten Verdienste erworben hat, kann man kaum noch erwähnen, ohne als potenziell pädophil verdächtigt zu werden. Die SPD hat sich deswegen von ihrem Ex-Abgeordneten in Hast und Hass getrennt. Mit so einem will man nichts mehr zu tun haben - auch wenn die Strafbarkeit seines Tuns (Besitz von Kinder- und Jugendpornografie) wohl im untersten Bereich liegen wird.

Es wird allenfalls eine Geldstrafe herauskommen. Auch das ist natürlich nicht nichts. Und man möchte nicht unbedingt vertreten oder regiert werden von einem Mann, der sich Bilder nackter Kinder anschaut. Aber die Art und Weise, wie hier die soziale Vernichtung eines Menschen verläuft, lässt einen schon frieren.

Nun also ist die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Edathy zugelassen worden, es wird gegen ihn vor Gericht verhandelt werden. Das ist schon deswegen richtig, weil in dieser Causa so viel unklar ist. Diese Unklarheiten konnten und können nicht im Zwischenverfahren geklärt werden. Die Klärung kommt zu spät.


Nota. - Was soll das heißen: "Die Klärung kommt zu spät"? Die Klärung, die ein ordentliches Gerichtsverfahren bringen könnte, käme zu spät, wenn ihm der Besitz von Kinderpornografie doch nicht nachzuweisen wäre. Dann wäre jemand in seiner bürgerlichen Existenz vernichtet, weil er etwas getan hat, was nicht verboten ist - nämlich Aktfotos von Kindern anschauen -, und ein eifernder Staatsanwalt unter Einbeziehung der Presse versuchsweise eine Hausdurchsuchung durchführen ließ, um mal nachzusehen, ob er nicht vielleicht auch noch was Verbotenes getan hat; könnt' ja sein, bei Leuten dieser Richtung ist alles möglich.

"Möglich", habe ich geschrieben; nicht: "wahrscheinlich". Erinnern Sie sich? Seinerzeit sagten sie, das hätten sie immer so gemacht, und bei jedem Vierten hätten sie wirklich was gefunden. Jeder Vierte, das ist eine Wahrscheinlichkeit von 1:3. Wenn ich der deutschen Sprache mächtig bin, heißt das: eine Unwahrscheinlich- keit. 

Aus einem nicht-strafbaren Verhalten auf ein "wahrscheinlich" strafbares Verhalten schließen wegen der Richtung - das ist nicht die Logik des Rechts-, sondern des Polizeistaats. Das wäre skandalös, und jeder, der bis drei zählen kann, hätte das so gesehen - aber nicht sagen mögen, weil man gleich auch ihn jener Richtung zugerechnet hätte.

Und wäre nicht weniger skandalös, wenn die Haussuchung tatsächlich pornografische Fotos zutage gefördert hätte. Doch dann würden Herr Prantl und ich uns überlegen müssen, ob wir unsere resp. Beiträge nicht besser löschen sollten. Strafbar sind sie zwar eigentlich nicht, aber so eine Haussuchung ist in jedem Fall eine furchtbar lästige Sache; und was erst die Nachbarn sagen werden!
JE



Arbeiterbewegung in China.

Stillstand an der Werkbank der Welt: Chinas Arbeiter trauen sich immer öfter, ihre Rechte einzufordern. aus nzz.ch,  18. 11. 2014                                                           Chinas Arbeiter trauen sich immer öfter, ihre Rechte einzufordern. 

Streiks und Proteste in China
Aufstand der Arbeiter 

In China wollen viele Arbeiter die schlechten Bedingungen nicht mehr hinnehmen. Da ihnen Gewerkschaften keine glaubwürdigen Anwälte sind, nehmen sie ihr Schicksal selbst in die Hand. Nach Herkunft und Werdegang deutete nichts darauf hin, dass Huang Xingguo einmal über seine enge Welt hinaus von sich reden machen würde. Als junger Mann war der 50-Jährige in seiner Heimatprovinz Hunan vom Land in die Millionenstadt Changde abgewandert und hatte es dort zum fest angestellten Kassierer in der lokalen Filiale des amerikanischen Einzelhandelskonzerns Walmart gebracht. Nachdem ihn seine Kollegen zum Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaft gewählt hatten und Huang ein Jahr später im Konflikt mit dem Management um die kurzfristig verkündete Schliessung der Filiale Farbe bekennen musste, war es mit dem unauffälligen Leben schlagartig vorbei.


Stich in die Herzregion

Wenn sich wie im Frühling in Changde gerade einmal hundert Beschäftigte dagegen wehren, Knall und Fall und ohne angemessene Abfindung auf die Strasse gesetzt zu werden, ist das bei der geballten Häufigkeit, mit der sich seit der Wirtschaftskrise 2008/09 Arbeitskonflikte in China in Protestaktionen entladen, kaum der Rede wert. Da war der zweiwöchige Arbeitskampf in den Fabriken des taiwanischen Sportschuhherstellers Yue Yuen im südchinesischen Donguang (Provinz Guangdong) von anderem Kaliber. Bis zu 40 000 Beschäftigte legten im April im Streit um ausstehende Rentenbeitragszahlungen den Betrieb lahm.

Was dem Zwischenfall in Changde dennoch landesweit Aufmerksamkeit verschaffte, war der per Twitter und in Blogs verbreitete Mut, mit dem Huang den Rollenwechsel vom loyalen Gefolgsmann des All-Chinesischen Gewerkschaftsbunds (ACGB) zum «wahren Gewerkschafter» vollzogen hatte. So würdigte ihn die in Guangzhou erscheinende Wochenzeitung «Nanfang Zhoumo» («Southern Weekend») in einem ausführlichen Porträt. Im Gegensatz zur Lokalregierung und zur örtlichen Vertretung der Einheitsgewerkschaft, die den Konzern mit Rücksicht auf seine anderen Investitionen davonkommen lassen wollten, solidarisierte sich Huang mit der Belegschaft. Auch nach der Gewaltandrohung durch die Polizei hielt er mit seinen Kollegen das Betriebsgelände besetzt. Dass die Ereignisse von Changde ein besonders lebhaftes Echo gefunden haben, ist kein Zufall. Das ergibt sich bereits aus der regionalen Verteilung der Arbeitskämpfe, wie sie die auf Arbeitnehmerfragen in China spezialisierte Forschungsstelle «China Labour Bulletin» in Hongkong regelmässig dokumentiert. Von Mitte 2011 bis Ende 2013 wurden insgesamt rund 1200 Zwischenfälle registriert. Davon ereigneten sich demnach über die Hälfte im und um das Perlflussdelta – also in der industriellen Herzregion, auf die sich die von einheimischen wie ausländischen Investoren gehaltenen Unternehmen der Exportindustrie konzentrieren. Diese Firmen beschäftigen meist Wanderarbeiter als gering qualifizierte Arbeitskräfte.
Das erklärt auch, weshalb der waghalsige Alleingang von Huang Xingguo bis in die Reihen der von Partei und Regierung gelenkten Einheitsgewerkschaft die meisten Sympathisanten findet. In Gesprächen mit Aktivisten und Sozialexperten wird häufig der ehemalige ACGB-Vorsitzende von Guangdong, Deng Weilong, zitiert. Deng tanzte schon 2010 mit selbstkritischen Bemerkungen aus der Reihe und nahm für das Umsichgreifen der sozial wie ökonomisch kostspieligen Dauerkrise nicht die Arbeiterschaft, sondern die eigene Organisation in Haftung. Unter anderem liess er sich auf die Feststellung ein, dass die Gewerkschaftsvertretungen in vielen Betrieben im Konfliktfall «wie Unterabteilungen des Managements» agierten, statt die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten.
Für sein Anliegen hat der Gewerkschaftsveteran Verbündete, die ebenso wenig wie er selbst im Verdacht stehen, das politische System sprengen zu wollen, sondern an seine Lernfähigkeit glauben. Ein namhafter, in Theorie und Praxis erfahrener Wortführer in diesem Kreis ist Chang Kai. Er lehrt an der Volksuniversität (Renmin-Universität) in Peking und war als Sachverständiger an der Ausarbeitung des 2008 in Kraft gesetzten Arbeitsvertragsgesetzes beteiligt. Als gefragter Schlichter war er im Frühjahr auch nach Changde gerufen worden. Immer wieder hat er sich für mehr kollektive Autonomie und nicht nur auf dem Papier verbriefte Mitspracherechte der Arbeiter eingesetzt.
Wie Chang immer wieder hervorhebt, ist der Ansehensschwund des ACGB symptomatisch für die Fehlentwicklung, bei der im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung und der Diversifizierung der unternehmerischen Eigentumsformen der Schutz der Arbeitnehmerrechte unter die Räder geraten ist. Chang spricht von der «Merkantilisierung des Faktors Arbeit», dessen Wert sich jahrzehntelang vorrangig nach den ehrgeizigen Zielvorgaben für das Wirtschaftswachstum zu richten hatte. Parallel dazu bildete sich auf lokaler Ebene das Interessenskartell aus Unternehmern und Funktionären heraus. Dieses legte die Regeln für die Lohnfestsetzung, die Gestaltung von Arbeitsverträgen und die Mitbestimmung der Beschäftigten nach eigenem Gutdünken fest.
Keine Reformen in Sicht

Die Finanzkrise hat auch in China ihren Tribut gefordert und gezeigt, wie stark das Land in die Weltwirtschaft integriert ist. Der sprunghafte Anstieg von Streik- und Protestaktionen, die der vom Konjunktureinbruch hervorgerufene Rationalisierungsdruck auslöste, bescherte dem Schlichter Chang viel Arbeit. 2009 waren es zunächst die Arbeiter in der staatseigenen Stahlindustrie, die sich gegen Stellenstreichungen zur Wehr setzten. Noch folgenschwerer war der Grossstreik, der ein Jahr später in einem Gemeinschaftsunternehmen des japanischen Autoherstellers Honda in Guangdong ausbrach und in einer Kettenreaktion viele der südchinesischen Autozulieferer erfasste. Der Anlass war ein für die arbeitsintensive Fertigungsindustrie typischer Konflikt. Der Getriebehersteller, der überwiegend gering qualifizierte Wanderarbeiter beschäftigt, hatte zuvor zwar die von der Provinzregierung verfügte Erhöhung der Mindestlöhne umgesetzt, kürzte dafür aber die Zuschüsse für Unterbringung und Verpflegung.
Die Häufigkeit von Streiks, die in China nicht verboten, aber verfassungsrechtlich nicht geschützt sind, ihre breite geografische Streuung und der Gleichklang in den Parolen machen auch in der Summe noch keine Arbeiterbewegung aus. Dennoch hat das Konfliktverhalten aufseiten der Arbeitnehmer eine neue Qualität erreicht. Sie macht sich bemerkbar in der Unerschrockenheit, mit der die Arbeiter ihre Ansprüche durchzusetzen versuchen. Sie speist sich aus einem geschärften Rechtsbewusstsein, das sich auf den Wortlaut der Schutzgesetze beruft, die ihnen der Staat als Waffe in die Hand gegeben hat.
Darüber hinaus haben kritische chinesische Beobachter besonders unter den jungen Beschäftigten einen «Trend zur kollektiven Resolidarisierung» ausgemacht. Wo die Einheitsgewerkschaft mit ihren regionalen Unterorganisationen versagt, nehmen Arbeitnehmer neuerdings vermehrt die Dienste von zivilgesellschaftlichen Gruppen in Anspruch. So gibt es in der Provinz Guangdong inzwischen rund 50 solcher «Arbeitsrechtgruppen». Neben individueller Rechtshilfe leisten sie auch Unterstützung bei der Organisation von Streiks.
Chinesische Wissenschafter diskutieren schon lange, an welchem Modell sich eine funktionsfähige Sozialpartnerschaft in China orientieren sollte. Wie schwierig sich das Umdenken in der politischen Praxis gestaltet, zeigt sich aber gerade in Guangdong. Unter dem Eindruck der Streikwelle bei den Autozulieferern hatte die Provinzregierung noch 2009 die Initiative zu Arbeitsrechtsreformen ergriffen. Die Gesetzentwürfe machen anstelle der bisher üblichen Konsultationen kollektive Tarifverhandlungen verbindlich und schreiben kontrollierte und transparente Mechanismen zur Konfliktschlichtung vor. Bisher ist jedoch keines dieser Gesetze verabschiedet worden.
Die unnachgiebige Härte, mit der die Pekinger Führung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping den umfassenden Lenkungsanspruch der Partei in allen Bereichen der Gesellschaft verteidigt, lässt nicht erwarten, dass daraus bald ein Pilotprojekt wird. Von einer Sozialpartnerschaft neuen Typs ist in den vor einem Jahr in Peking verabschiedeten Beschlüssen zu wirtschaftlichen Reformen jedenfalls mit keinem Wort die Rede.

Sonntag, 16. November 2014

«Germany: Memories of a Nation» – eine Ausstellung in London.

Ein barocker Bernstein-Humpen, made in Königsberg – auch das ist Deutschland.aus nzz.ch, 14. 11. 2014                                                  Ein barocker Bernstein-Humpen, made in Königsberg – auch das ist Deutschland.


Deutschland verstehen, Europa begreifen 
Das British Museum zeigt Deutschland einmal nicht aus der Perspektive zweier Weltkriege. Obwohl die assoziative Schau zwangsläufig Mut zur Lücke bezeugt, landet sie einen Überraschungserfolg. Deutschland boomt in London.

von Marion Löhndorf 

Maler wie Sigmar Polke und Anselm Kiefer werden derzeit mit umfangreichen Ausstellungen geehrt, im Sommer wurden mit den «Georges», den englischen Königen aus Hannover, deutsch-englische Verwandtschaftsbeziehungen neu entdeckt, und ein blauer Gockel der deutschen Künstlerin Katharina Fritsch thront temporär neben Lord Nelsons Säule auf dem Trafalgar Square. Nun kommt das British Museum dem frisch erblühten englischen Interesse an Deutschland mit einer Schau entgegen, die ebenfalls neue Töne anschlägt. Unter dem Titel «Germany: Memories of a Nation» wird anhand von rund zweihundert Objektgruppen ein in England ungewohntes, zum Positiven neigendes Deutschlandbild präsentiert: nicht aus dem Blickwinkel zweier Weltkriege, sondern mit einem Interesse an der Ausstrahlung des deutschen Staatswesens, der Bedeutung von deutschem Handel und deutscher Kultur in der europäischen Vergangenheit und Gegenwart. Dem lange perpetuierten Zerr- und Feindbild des hässlichen Deutschen eine ganz andersgeartete, differenziertere Darstellung entgegenzusetzen, ist eines der Verdienste dieser Ausstellung. Für das British Museum ist es zudem ungewöhnlich, sich überhaupt einem das Zeitgenössische so stark betonenden Thema zuzuwenden. Und wenn ein so hoch geschätzter Museumsmann wie Hausherr Neil MacGregor sich persönlich einer Ausstellung annimmt, hat das besonderes Gewicht.




Ein Mosaik
Ausgangspunkt ist die jüngere Vergangenheit: der Mauerfall in Videobildern. Dass ein vereinigtes Deutschland keine historische Selbstverständlichkeit ist, kommt gleich zur Sprache. Eine Wand voller unterschiedlicher Münzen steht für die deutsche Kleinstaaterei bis zur Reichsgründung 1871. Von der These einer, wie Neil MacGregor es formuliert, «massiven Dezentralisierung der Macht» ausgehend, wird eine Reihe von Besonderheiten der deutschen Geschichte erklärt – wie etwa die Koexistenz von Protestanten und Katholiken und die daraus resultierende Bewahrung katholischer Kirchenkunst während und nach der Reformation.


Barlach, Schwebender Engel, Güstrow

Aus vielen Teilen wird ein Ganzes: Nach diesem Muster verfährt auch die Ausstellung, die mosaikartig die «Erinnerungen einer Nation» zusammensetzt. Die Abfolge historischer Entwicklungslinien steht dabei keineswegs im Vordergrund, und Zeitsprünge werden in Kauf genommen – zugunsten des Versuchs einer Mentalitätsgeschichte. Objekte in Vitrinen sollen Geschichten erzählen, die sich zu einem Überblick fügen, in dem Widersprüche nicht ausgespart werden. Die Gegenstände fungieren als Erinnerungsträger, sie werden zu Symbolen und veranschaulichen Aspekte einer nationalen Identität, nach der die Schau vor allem fragt.

Bauhaus, Wiege
Nach diesem assoziativen Verfahren hat das British Museum schon in der Vergangenheit umfassende Ausstellungen angelegt (so etwa Shakespeare im Jahr 2012). Auch in der Deutschland-Schau finden sich nun wieder aufwendig gearbeitete Kostbarkeiten und Kunstwerke in sozusagen demokratischer Gesellschaft von eher obskuren Objekten. Figuren des spätmittelalterlichen Bildhauers Tilman Riemenschneider, eine Ausgabe der Gutenberg-Bibel – die Erfindung des Buchdrucks bildet als eines der Gründungsereignisse des modernen Europa den historischen Ausgangspunkt der Ausstellung – und ein schäbiger Taucheranzug sind da vereint. Den Neopren-Anzug trug ein Mann bei einem – gescheiterten – Fluchtversuch über die Ostsee aus der ehemaligen DDR. Die Placierung von Ernst Barlachs still schwebendem Bronze-Engel am Ausgang kann als Versöhnungsgeste gelesen werden. («Der Schwebende» entstand zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs, wurde von den Nationalsozialisten eingeschmolzen und überlebte in zwei späteren Abgüssen in Ost- und Westdeutschland.)


Riemenschneider, Apostel
Dinge zum Reden bringen

Flankiert wird «Germany: Memories of a Nation» von einem Buch gleichen Titels und einem – sehr populären – BBC-Radioprogramm. Das Londoner Goethe-Institut lockt Schüler mit ergänzendem Material und freien Eintritten. Im Radio stellt Neil MacGregor dreissig Ausstellungsobjekte in jeweils fünfzehnminütigen Sendungen vor; im Buch reichert er seine Beschreibungen mit weiteren Erläuterungen an. Ein ideales, vertiefendes Begleitprogramm – so gut gemacht, dass es fast dazu angetan sein könnte, den Ausstellungsbesuch zu ersetzen.


Eingang, KZ Buchenwald
Es geht in der Ausstellung um die Geschichten hinter der Geschichte und das daraus entstehende «Narrativ». Dass die musealen Objekte, die zu Aufhängern solcher Geschichten werden, genau betrachtet werden können, ist dabei ein Bonus. Die Strategie, Museumsstücke zum Reden zu bringen, hatte allerdings, so Neil MacGregor, bestimmte Auslassungen zur Folge: Da etwa Philosophie und Musik nur schwer anhand von «sprechenden» Gegenständen darstellbar seien, blieben diese deutschen Exportartikel weitgehend aussen vor. Werden dann ausserdem noch die in England so überreichlich dokumentierten Weltkriege nur gestreift, beweisen die energischen kuratorischen Entscheidungen grossen Mut zur Lücke.


Die Reichskrone
Nicht ausgespart wird der Holocaust. Eine Replik des Eingangstors von Buchenwald mit der verhöhnenden Inschrift «Jedem das Seine» erinnert daran und erzählt darüber hinaus noch mehr: Das Tor wurde von dem in Buchenwald als Kommunist internierten Grafiker und Architekten Franz Ehrlich entworfen. Ehrlich, der im Büro von Walter Gropius gearbeitet hatte, gestaltete die Tor-Inschrift in einem Akt heimlicher Subversion in dem von den Nationalsozialisten als «entartet» verfemten Bauhausstil. Wie dieses Tor deuten viele Ausstellungsgegenstände komplexe historische Zusammenhänge an. Trotz der nur schlaglichtartigen Erhellung des jeweiligen Themas werden bei der Erläuterung vereinfachende Lesarten vermieden. Die Ausstellungsmacher – Sabrina Ben Aouicha, Barrie Cook und Clarissa von Spee unter Neil MacGregors Leitung – haben sich augenscheinlich sogar insbesondere für Nuanciertes interessiert.


Volkswagen
Die Wirkungen deutscher Erfindungen, des Handels und künstlerischer Leistungen auf das heutige Europa stehen im Fokus. So wird etwa eine Entwicklungslinie nahegelegt, die von der dezentralen politischen Kultur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis hin zu Deutschlands heutiger Herangehensweise an die Europäische Union reicht. Die Themen der sich immer wieder verschiebenden Grenzen und der Entstehung einer Nation lagen den Kuratoren besonders am Herzen: die nationale Identität der Deutschen und die Entwicklung der Nationalidee als Erfindung und als romantisches Ideal des 19. Jahrhunderts.


Gutenberg-Bibel
Insgesamt wäre mehr Raum für die Fülle der Objekte gewiss wünschenswert gewesen. Doch hatte sich das Museum gegen den grössten Ausstellungsraum entschieden, da man der Resonanz auf das Thema Deutschland mit Skepsis entgegensah. Tatsächlich aber erweist sich die Schau, die täglich ausverkauft ist, als Überraschungserfolg – bei den Engländern ebenso wie bei deutschsprachigen Besuchern.


Isaac Habrecht, The Strasbourg Clock, AD 1589
«Man kann die Welt von heute nicht verstehen, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie die Deutschen die Dinge sehen», sagte MacGregor in einem Interview mit der Sonntagszeitung «The Observer». Er fuhr fort: «Und ganz sicher kann man Europa nicht begreifen, ohne sich darüber klar zu werden, dass es bei den Deutschen einen grossen Widerwillen zur Machtausübung gibt.» Der germanophile schottische Direktor des British Museum spricht selbst Deutsch und kennt das Land bestens. Das Anliegen, seinen Landsleuten ein «anderes» Deutschland zu präsentieren, hat sich aus persönlicher Erfahrung und Anschauung gebildet. So ist ein Projekt in aufklärerischer Absicht entstanden, das dem britischen Publikum Aspekte der deutschen Geschichte vor Augen führt, von denen es bisher kaum wusste – etwa die Vertreibung von 12 bis 14 Millionen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Absicht und ihre Realisierung nahm die britische Presse mit Hochachtung, ja Begeisterung zur Kenntnis. Eine Ausnahme machte der konservative «Daily Telegraph».
Wessen Erinnerungen?

In seiner Kritik fragt der «Telegraph» nicht zu Unrecht, um wessen – immerhin titelgebende – Erinnerungen es sich eigentlich handle, die in «Germany: Memories of a Nation» in Szene gesetzt würden. Die Schau legt doch schliesslich eine (wenn vielleicht auch neue) britische Lesart der deutschen Geschichte vor. Soll es um die bei den Deutschen vermuteten Erinnerungen gehen? Auch die erwähnte Radio-Sendereihe unterstellt «den Deutschen» ein schmeichelhaft hohes Mass an historischem Bewusstsein und sehr gute Kenntnisse der eigenen Geschichte. Vieles darin Erwähnte gehört aber, möchte man einwenden, womöglich nicht zum Kanon des in Deutschland allgemein Bekannten. Auch deutsche Besucher können in der Ausstellung über ihr Land manches erfahren.
Bis 25. Januar 2015. Die Publikation zur Ausstellung «Germany: Memories of a Nation» von Neil MacGregor ist 640 Seiten stark und kostet zwanzig britische Pfund.

Trier, Geburtshaus von K. Marx