Montag, 29. Dezember 2014

Verwissenschaftlichung des Politischen?


Was im öffentlichen Bereich nicht durch Wissenschaft entschieden werden kann, muss durch qualitative Optionen entschieden werden; nach ästhetisch-moralischen Kriterien.

Das ist es, was vom Politischen immer politisch bleibt: All das, was die Wissenschaft nicht klären kann und dennoch allgemein gelten soll, muss durch wertsetzende Akte bestimmt werden.

Durch Hauen und Stechen?

aus e. Notizbuch, 29. 9. 08


Das gilt darum kategorisch, weil es wohlweislich problematisch formuliert ist. Denn es enthält nacheinander eine Reihe von Bedingungen. Erstens war zu entscheiden, was in den öffentlichen Bereich fällt und was nicht. Zweitens muss entschieden werden, ob 'die Wissenschaft' ihr Wort schon hinreichend klar gesprochen hat oder ob die Öffentlich- keit noch ein bisschen warten kann. Und erst dann muss geklärt werden, auf welche Weise die Öffentlichkeit selber zu einem Verdikt kommen kann und soll. Und ganz zum Schluss ist zu entscheiden: welches Verdikt?

Zu jeder einzelnen dieser Bedingungen hat die - oder doch diese oder jene - Wissenschaft dann auch wieder etwas zu sagen; bloß eben zum Schluss nicht mehr. 

Mit andern Worten: Wie öffentlich ein öffentliches Wissen auch sein mag - es ist nicht eo ipso zwingend. Dazu braucht es immer und jederzeit einer zwingenden Instanz. Eine Verwissenschaftlichung des Politischen ist weit und breit nicht abzusehen. Ein Verstecken politischer Pläne - oder der Planlosigkeit - unter wissenschaftlichen Formeln war dagegen stets in Mode, daran ist nichts neu. Neuer ist die wachsende Skepsis der Öffentlichkeit, und das ist ja schonmal ein Anfang. Und wenn es dann der Wissenschaft auch noch auseinanderzulegen gelingt, unter welchen Prämissen welche Alternativen möglich sind, hat sie alles geliefert, was man von ihr verlangen kann.



Samstag, 27. Dezember 2014

Putins Hitler-Stalin-Pakt.


Stalins und Ribbentrops Unterschriften auf ihrem Zusatzabkommen

Timothy Snyder  ist ein streitbarer Mann, mit andern Worten, unumstritten ist er nicht. Einem größeren Publikum ist der Historiker im Jahr 2010 mit seinem monumentalen Bloodlands bekannt geworden - einer minutiösen Darstellung der blutigen Geschichte der Länder zwischen Deutschland und Russland im 20. Jahrhundert. Seine Protagonisten sind das "Zwillingsgestirn Hitler/Stalin", sein Knotenpunkt der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 mit seinem geheimen Zusatzabkommen über die Aufteilung der "Bloodlands" zwischen beiden totalitären Systemen.

Unlängst brachte die FAZ einen ausführlichen Beitrag Snyders zu Vladimir Putins Agieren in der Ukraine und zu dessen angelegentlicher Uminterpretation der Geschichte. Hier einige Auszüge:


"...Fünf Jahre lang, von Anfang 1934 bis Anfang 1939, hatte Hitler vergeblich versucht, Polen als Verbündeten für einen Krieg gegen die Sowjetunion zu gewinnen. Im August 1939 hofierte er Stalin nur drei Tage lang, um ihn für einen Krieg gegen Polen zu gewinnen. Sein Vorschlag wurde begeistert akzeptiert.

Am 20. August 1939 bat Hitler Stalin um ein Treffen, und Stalin war überglücklich. Seit fünf Jahren hatte der sowjetische Führer nach einer Gelegenheit gesucht, um Polen zu vernichten - nun bot sich ihm diese Gelegenheit. Stalin wusste natürlich, dass er mit dem mächtigsten Antisemiten der Welt eine Vereinbarung über die Vernichtung des größten Heimatlandes europäischer Juden traf. Bei den Vorbereitungen für das Bündnis mit Hitler hatte Stalin wie so viele andere Politiker einen Kotau vor dem Führer gemacht. In der Hoffnung, Hitlers Aufmerksamkeit zu erregen, hatte er Maxim Litwinow, seinen jüdischen Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten, entlassen und durch den Russen Wjatscheslaw Molotow ersetzt. Litwinows Entlassung war nach Hitlers eigener Aussage von entscheidender Bedeutung. Molotow war es denn auch, der mit Außenminister Joachim von Ribbentrop am 23. August 1939 in Moskau den Vertrag aushandelte.


...Ein geheimes Zusatzprotokoll zu dem Nichtangriffspakt regelte die Aufteilung Osteuropas zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion. Endlich hatte Hitler den Verbündeten, den er brauchte, um die Feindseligkeiten zu beginnen. Die vom geheimen Zusatzprotokoll betroffenen osteuropäischen Gebiete bildeten das Kernland der weltumspannenden jüdischen Gemeinschaft und waren seit einem halben Jahrtausend ununterbrochen von Juden besiedelt. Als der Krieg begann, wurde die Region rasch zu dem für Juden gefährlichsten Gebiet ihrer gesamten Geschichte. Nicht einmal zwei Jahre später sollte hier der Holocaust beginnen. Stalin tat den berühmten Ausspruch, der Hitler-Stalin-Pakt sei „mit Blut besiegelt“...


...die Befürchtungen Polens, Litauens, Lettlands und Estlands, jener vier Staaten, die 1939 und 1940 gemäß den Bestimmungen des Pakts von der Roten Armee besetzt wurden. Am 17. September 1939 sprang Stalin seinem Verbündeten Hitler mit einem Angriff auf Polen zur Seite: Von Osten her rückte die Rote Armee nach Polen ein. Sie traf in der Mitte des Landes auf die Wehrmacht, und man veranstaltete eine gemeinsame Siegesparade. Die sowjetische und die deutsche Geheimpolizei kamen überein, die polnische Widerstandsbewegung zu vernichten. Hinter den neuen Grenzlinien organisierte das sowjetische NKWD die Massendeportation einer halben Million polnischer Bürger in den Gulag. Außerdem exekutierten die Sowjets Tausende polnische Offiziere, von denen viele gerade noch gegen die Wehrmacht gekämpft hatten.


Die Zerstörung des polnischen Staates ist in der Geschichte Polens verständlicherweise in Erinnerung geblieben. Dabei wird aber oft übersehen, dass sich die polnische und die jüdische Geschichte überlappen. Die vom NKWD ermordeten polnischen Bürger, meist Reserveoffiziere mit höherer Bildung, wurden getötet, weil sie die Elite des polnischen Staates darstellten. Viele von ihnen waren Juden, deren Familien nun ohne sie der deutschen Besatzung ausgeliefert waren. ...


...Von 1939 bis 1941 war die Sowjetunion ein Verbündeter Nazideutschlands, der Erze, Erdöl und Nahrungsmittel lieferte, damit die Deutschen Krieg gegen Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Luxemburg und vor allem gegen Frankreich und Großbritannien führen konnten. In dieser Phase des Krieges war Stalin darauf bedacht, Hitler zu gefallen. Er erfüllte nicht nur alle Verpflichtungen aus dem Hitler-Stalin-Pakt wie auch aus dem Grenz- und Freundschaftsvertrag, sondern auch spezielle Bitten seiner deutschen Verbündeten - mit einer größeren Ausnahme. Stalin wusste sehr genau, in welcher Notlage sich die Juden in der deutschen Zone in Polen befanden. Es kann kaum überraschen, dass er keinerlei Interesse daran zeigte, ihnen zu helfen. Im Februar 1940 machte Adolf Eichmann Moskau den Vorschlag, den Großteil der polnischen Juden, zwei Millionen, in die Sowjetunion zu überführen. Moskau reagierte auf dieses Ansinnen nicht.  ...


...Stalin weigerte sich zu glauben, dass Deutschland die Sowjetunion 1941 angreifen würde. Mehr als einhundert Warnungen der Geheimdienste vor der kommenden Invasion tat er als britische Propaganda ab. ...


... Als Stalin sein Bündnis mit Hitler schloss, verfolgte er damit ein politisches Ziel. Er stellte sich vor, wenn er den Nazistaat bei dessen Kriegsbemühungen unterstütze, könne er die deutschen Truppen gen Westen richten und von der Sowjetunion fernhalten. So würden die der kapitalistischen Welt innewohnenden Widersprüche zum Vorschein kommen, und Deutschland, Frankreich und Großbritannien würden gemeinsam zusammenbrechen. Putin versucht heute auf seine Weise dasselbe


... Man kann Stalin zugutehalten, dass er ein reales Problem zu lösen versuchte. Hitler wollte tatsächlich die Sowjetunion vernichten. ...


... Die Rehabilitierung des Hitler-Stalin-Pakts ist nicht Ausdruck einer klaren Ideologie, sondern möglicherweise etwas noch Schlimmeres: eine Flucht in den Nihilismus als Abwehr des Vorwurfs der Unfähigkeit. Den Hitler-Stalin-Pakt billigen, heißt die Grundlage wechselseitigen Verständnisses in der westlichen Welt zugunsten einer kurzlebigen Taktik aufzugeben, die nur zerstören kann, aber nichts zu erschaffen vermag."


*

Hat Putin einen Plan? Es ist wohl schlimmer: Er hat anscheinend keinen Plan. Doch für einen Mann ohne Plan hat er zu viel Macht. Das ist die wunde Stelle, auf die Snyder zum Glück hinweist, statt der Versuchung nachzugeben, ihn als einen finsteren, zu allem entschlossenen Erben Stalins und Iwans der Schrecklichen darzustellen.

Wenn Gerhard Schröder beteuert, Putin sei ein authentischer Demokrat, dann mag er vielleicht sogar Recht haben, aber davon hat niemand was: Eine Demokratie ist aus Jelzins WildWest-Kapitalismus nicht hervorgegangen, sondern ein bonapartistisches Regime, dem nichts anderes übrigbleibt, als zwischen den tausendfältigen gesellschaftlichen Kräften - von den Oligarchen über die Mafia und die alte Nomenklatura bis zu den wie immer stimmlosen, aber auch ruhebedürftigen Massen - hin und her zu lavieren, mit den KGB-Kadern als seiner loyalen Dezemberbande und den paar mehr oder minder intellektuellen Oppositionellen als Popanz. Wirklich repräsentativ ist dort niemand, jeder läuft seinem unmittelbarsten Vorteil nach, Parteien in einem politischen Sinn sind noch immer nicht entstanden. 

Noch vor wenigen Monaten war Putins Autorität im Keller. Da bot sich ihm die Gelegenheit, die noch jeder Bonaparte ergriffen hat, um sein wankendes Regime im Innern neu zu festigen: ein auswärtiges Abenteuer, ein - nur nach außen, nicht nach innen larvierter - Krieg. Wobei der Griff nach der Krim einen guten strategischen Sinn hatte: die Seeherrschaft im Schwarzen Meer zu sichern. Dagegen sind die Scharmützel am Don völlig aus dem Ruder gelaufen. Zuerst war da der Versuch, die Ukraine als russische Satrapie auszubauen, aber der hat hervorgerufen, was es bis dahin gar nicht gab: ein ukrainisches Massennationalbewusstsein, an dem Putin nun nicht mehr vorbeikommt. 

Genauso wenig kommt er jetzt aber an dem großrussischen Chauvinismus vorbei, den er zuhause entfacht hat. Was soll er bloß mit den verrosteten Stahlwerken im Donbass? Die sind keine einzige Patrone wert. Aber fahren lassen kann er sie auch nicht mehr, dann ziehn sie ihm daheim das Fell über die Ohren. Mein Gott, wenn er doch nur einen Plan gehabt hätte!
JE

Donnerstag, 25. Dezember 2014

Ein Ur-Evangelium?

aus Die Presse, Wien, 20. 12. 2014                                                                       ältestes Evangelien-Fragment (Johannes)

„In Q droht Gott ganz brutal“ 
Bibelforschung. Die Quelle Q kommt dem historischen Jesus näher als die Evangelisten. Diese haben Q geglättet. Der Grazer Theologe Christoph Heil hilft, das zu rekonstruieren.

von Anne-Catherine Simon

Woher haben die Evangelisten Lukas und Matthäus die Bergpredigt oder das Vaterunser? Aus der Quelle Q, meint die Mehrheit der Forscher. Lukas und Matthäus haben demnach neben dem Markus-Evangelium noch eine zweite, ungefähr zur gleichen Zeit um 70 n. Chr. entstandene Quelle genutzt. Q soll im Umkreis frühchristlicher Wanderprediger entstanden sein und enthielt fast nur Aussprüche Jesu, ohne die mythologisch-symbolisch aufgeladenen Erzählungen rund um Geburt, Wanderschaft, Tod oder Auferstehung. „Das macht Q zum glaubwürdigsten frühen Zeugnis über den historischen Jesus“, sagt der in Graz lehrende deutsche Theologe Christoph Heil.

Nur ist leider keine Zeile von diesem Zeugnis erhalten. Dass Q existiert hat, davon ist heute die große Mehrheit der Forscher überzeugt. Aber wie herausfinden, was darin stand? Indem man jene zwei Evangelien untersucht, die der Q-These zufolge von dieser Quelle ausgegangen sind: Matthäus und Lukas. Was bei diesen beiden Evangelisten steht, aber nicht bei Markus, so die Grundhypothese, das stammt wahrscheinlich von Q.

Detektivarbeit um Jesus-Worte

Die Q-Forschung ist detektivische Feinarbeit, Indizienforschung. Seit den 1980er-Jahren arbeiten Dutzende Forscher aus aller Welt im Rahmen des internationalen Q-Projekts daran. Christoph Heil ist einer davon. Über 40 Wissenschaftler aus Nordamerika, Korea und Europa sind es derzeit, erzählt er. „So eine Arbeit braucht ein breites Fundament, da können nur viele etwas weiterbringen und Autorität erzeugen. Wenn einer etwas macht, haben Sie sonst fünf andere, die das bestreiten.“

Im Jahr 2000 veröffentlichte man die Rekonstruktion von 245 Versen als kritische Ausgabe, allerdings nur den Text ohne die Begründungen. „Die große Masse des dokumentarischen Materials“, erzählt Heil, „ist zu zwei Dritteln unveröffentlicht. Der Wissenschaftsfonds FWF hat uns jetzt zum zweiten Mal Geld dafür gegeben, Dokumentation und Begründung zu bestimmten Passagen zu veröffentlichen.“ Das Projekt „Gottes Liebe und Gericht im Spruchevangelium Q“ läuft bis 2017.

„Die große Frage dahinter ist, was der historische Jesus wirklich gesagt und getan hat“, sagt Heil. Damit hat die Q-Forschung beträchtliche Folgen für die Glaubenslehre. Überraschend ist die Strenge, die in Q zum Ausdruck kommt, etwa in Sätzen wie: „Wer nicht Vater und Mutter, und wer nicht Sohn oder Tochter hasst, kann nicht mein Jünger sein.“ Jesus hatte eine ganz harte Gerichtsbotschaft, sagt Heil. „Es ist teilweise erschreckend, wie brutal Gott das Gericht über die Menschen bringen wird. Andererseits zeigt Q auch, dass Gott den Untergang der Menschen nicht will. Nimmt man die einfache Botschaft Jesu nicht an, wird man im Gericht vernichtet. Aber gleichzeitig ist Gott der Väterliche, der über Gerechten und Ungerechten die Sonne aufgehen lässt und alles tut, um das verlorene Schaf wieder zur Herde zu bringen. Ein ganz wichtiger Punkt darin ist auch, dass die Umkehr immer möglich ist. Das ganze Leben kann verpfuscht sein, aber wenn man sich im letzten Moment Gott zuwendet und seinen Willen tut, ist man gerettet.“

Ist die Hölle voll – oder ganz leer?

Q vermittelt also ein ganz dunkles Bild von Gottes Zorn, zugleich zeigt Gott einen „radikalen Heilswillen“ und will nicht, dass auch nur einer im Gericht untergeht. „Zwischen diesen zwei Aussagen besteht eine starke Spannung“, sagt Heil. „Die wurde bei den späteren Evangelisten etwas eingeebnet und pädagogisch akzeptabler gemacht.“ Bei späteren Generationen führte sie dann auch zur Frage, ob es überhaupt eine Hölle gebe. „Origenes zum Beispiel behauptet, dass die Hölle leer ist. Aber das war eine Minderheitenmeinung, die große Mehrheit der Kirchenväter hat die Hölle groß ausgemalt.“

Neben der Bergpredigt wurzeln noch weitere christliche Schlüsselelemente wie das Vaterunser Heil zufolge in Q. „Es gibt ein Vaterunser bei Matthäus und eines bei Lukas, und im Markus-Evangelium steht es nicht, also stammt es wahrscheinlich von Q.“ Und wie funktioniert die Rekonstruktion im Einzelnen, zum Beispiel bei der Bitte um das Brot? „Bei Lukas wird um das Brot täglich, also immer wieder gebetet, bei Matthäus kann man zeigen, dass das Einmalige im Vordergrund steht, dass die Bitte für den Moment – für heute – gedacht war. Das ist offenbar die Q-Formulierung. Lukas hat oft Worte Jesu so umformuliert, dass sie besser für den dauerhaften Gebrauch in der Kirche passen.“

Das Wissen über inhaltliche Absichten und stilistische Eigenheiten der Evangelisten ist eine entscheidende Hilfe bei der Rekonstruktion von Q. Dazu Heil: „Man kann davon ausgehen, dass die Evangelisten immer wieder in typischer Weise Aussagen verändern. Lukas und Matthäus haben unterschiedliche Stilvorlieben, eine unterschiedliche Theologie. Daraus kann man bei Varianten relativ sicher schließen, dass der eine die ursprüngliche Fassung hat, die bei Q steht, während der andere sie verändert hat. Schwierig wird es, wenn man das Gefühl bekommt, dass beide die ursprüngliche Fassung geändert haben. Es gibt natürlich Textpassagen, bei denen man zu überhaupt keinem Schluss kommt, aber das kommt relativ selten vor.“

Wenn Q dem historischen Jesus näherkommt als Lukas und Matthäus, vielleicht auch Markus, muss sich die Q-Forschung dann nicht sehr stark in der theologischen Praxis niederschlagen? Müsste sie, tut sie aber Heil zufolge immer noch so gut wie gar nicht. „Bisher konnte man leicht sagen, das sind nur so Spinnereien von Wissenschaftlern. Katholische Amtsträger zum Beispiel sagen das gern.“

In der Pastoraltheologie gebe es zwar einige, die die Erkenntnisse über Q aufnehmen würden, sagt Heil; „aber als Standard durchgesetzt hat sich das nicht. Wenn Theologen über Jesus schreiben, werden immer noch in der Regel die vier Evangelisten zitiert. Dem Stand der Forschung würde es eher entsprechen, wenn man sich vor allem an die älteren Texte hält, also Markus und die Quelle Q.“

Von Teilen der Kirche abgetan

Dabei ist die Rekonstruktion von Q leicht zugänglich. In der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft etwa gibt es eine Ausgabe um 15 Euro. „Aber immer noch sagen in der Kirche viele, das sind doch nur irgendwelche Spekulationen von Theologen an der Uni, das ist kein Teil der Heiligen Schrift.“ Deshalb ist es auch so wichtig, dass die Rekonstruktion von Q dokumentiert wird. „Natürlich arbeiten wir mit Hypothesen, aber in anderen Forschungsbereichen geschieht das genauso. Vieles in den Geisteswissenschaften kann man nicht mathematisch beweisen, auch dass Jesus gelebt hat, kann man letztlich nicht zweifelsfrei ,beweisen‘. Trotzdem werden die antiken Belege dafür mit Recht allgemein akzeptiert.“

Liegt die noch fehlende Wirkung der Q-Forschung auch daran, dass Sprachwissenschaft im Theologiestudium zu wenig Raum hat und angehenden Theologen dadurch der Sinn für sprachhistorische und textanalytische Forschung fehlt? „Ganz sicher“, so Heil. „Wir müssen immer darum kämpfen, dass die Theologiestudenten auch die sprachlichen Fähigkeiten und die Methodenkenntnis haben, um solche Forschungen nachzuvollziehen. Die Studienpläne fördern das derzeit nicht.“ Viel Resonanz könnte die Q-Forschung auch bei Lehramtsstudenten bringen, ist Heil überzeugt. „Die sind zum Teil aufgeweckter als die Volltheologen.“ Sie könnten bei solchen Projekten mitarbeiten, wenn man ihnen Rüstzeug dafür bieten würde. „Aber der Lehrplan enthält sehr viel Pädagogik und kaum Sprachunterricht.“
*

Die Zweiquellentheorie kam im 19. Jahrhundert auf. Demnach stützten sich Matthäus und Lukas nicht nur auf Markus (um 70 n. Chr.), sondern auch auf eine spätestens um 70 niedergeschriebene Sammlung von Worten und Taten Jesu (Logienquelle oder Q). Im deutschsprachigen Raum ist die Q-These großteils unbestritten, im englischsprachigen Raum gibt es Gegenmodelle.

Die Farrerhypothese ist das wichtigste Gegenmodell, wird v.a. in England vertreten. Lukas kannte demnach das Matthäus-Evangelium. Ein Problem dieser Theorie, so Heil: Warum übernahm Lukas dann so viele wunderschöne Teile von Matthäus nicht? Von der Bergpredigt etwa bleiben nur 30 Verse, die Kindheitsgeschichte ist gestrichen etc. Heil: „Da kommt man in lauter Sackgassen.“ Und die Auswege daraus seien „nicht wirklich überzeugend“.



Freitag, 19. Dezember 2014

Die Fabrik der Zukunft braucht keine Menschen.


aus Der Standard, Wien, 17. Dezember 2014, 19:51

Die intelligente Fabrik kommt ohne Menschen aus
In der "Industrie 4.0" wird die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine zunehmend schwieriger

von Tanja Traxler

Wien - Als die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert weite Teile der Welt von Agrar- in Industriegesellschaften überführte, waren die Wissenschaften in doppelter Weise an dieser Entwicklung beteiligt. Einerseits basierte die zunehmende Mechanisierung auf der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Andererseits beschleunigte die industrielle Revolution den Fortschritt in Wissenschaft und Technik.

Dieser Wandel wird oft als die einschneidendste Veränderung für die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse gesehen. Doch es sollte nicht dabei bleiben. Mittlerweile wird zwischen vier industriellen Revolutionen unterschieden (siehe Wissen), die alle die Tendenz haben, dass Maschinen eine immer wichtigere Produktionsrolle spielen. Nur in der Ausprägung, welche Aufgaben an Maschinen delegiert werden, unterscheiden sie sich voneinander.

Der derzeit laufende Call "Pro Industry 2015" der Wirtschaftsagentur Wien verschreibt sich der aktuellen industriellen Revolution und forciert die sogenannte "Industrie 4.0". Noch bis 12. März können sich Wiener Forschungseinrichtungen um insgesamt zwei Millionen Euro bewerben.

Vernetzte Objekte

Der Begriff kam 2011 in Deutschland auf und wurde zum Zukunftsprojekt der deutschen Bundesregierung. Seit kurzem setzt sich der Ruf nach der "Industrie 4.0" auch in Österreich durch. Es geht dabei etwa um die Vision der "smart factories", in der die unterschiedlichen Produktionskomponenten so weit miteinander vernetzt sind, dass der Ablauf ohne menschlichen Eingriff von selbst vor sich geht.


Eine zentrale Rolle spielt auch das "Internet der Dinge", in dem Objekte über das Internet verbunden zu sogenannten "smart objects" werden und somit automatisch ohne menschliche Anweisung Daten verarbeiten können.

Damit geht eine Veränderung in den klassischen Produktionssektoren einher. Nach der Drei-Sektoren-Hypothese der Volkswirtschaftslehre wird zwischen einem Primärsektor der Rohstoffgewinnung, einem Sekundärsektor der industriellen Verarbeitung und einem Tertiärsektor der Dienstleistungen unterschieden. Mit der Vernetzung der Dinge und Menschen lässt sich dieses klassische Sektorendenken nicht länger aufrechterhalten.

Verschmelzung von Dienst und Produkt

Auch in einer soeben abgeschlossenen Ausschreibung der Wirtschaftsagentur Wien "Service Innovations" zeigte sich diese Veränderung. In den nächsten ein bis zwei Jahren werden über diese Ausschreibung insgesamt knapp eine Million Euro an Förderungen und Preisgeldern an acht Wiener Unternehmen vergeben.

Wie die Juryvorsitzende des Calls Inka Woyke sagt, haben alle der insgesamt 34 eingereichten Projekte technologieunterstützte Produkte angeboten. Daraus lässt sich ein Trend ablesen, der derzeit weltweit zu beobachten ist: "Es gibt eine Verschmelzung von Dienstleistung, Produkt und Software", sagt Woyke.

"Die klassische Face-to-Face-Dienstleistung verändert sich und wird immer häufiger durch Technologien unterstützt", sagt Woyke, die beim deutschen Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart den Bereich Dienstleistungsmanagement leitet.

In dieser Funktion unterstützt sie Unternehmen dabei, neue Dienstleistungen und dafür geeignete Geschäftsmodelle entwickeln können.

Steuerbarer Stromverbrauch

In einem Projekt, das die Jury als förderungswürdig erachtete, wurde eine webbasierte Steuerung für günstigen Stromverbrauch entwickelt. Die Dienstleistung, die der Kunde erhält, ist, den Stromverbrauch frei steuern zu können und so zum günstigsten Stromtarif einzukaufen.

Ein weiteres Projekt, das im Rahmen von "Service Innovations" gefördert werden soll, ist ein Diktierdienst, der online angeboten wird. So wird ein bisher klassisches Produkt zur technisch vermittelten Dienstleistung gemacht.

In den meisten wissensbasierten Volkswirtschaften wie auch in Österreich macht der Dienstleistungssektor den größten Anteil der Wertschöpfung aus und bringt wesentlich mehr Geld ein als Rohstoffgewinnung und -verarbeitung. Doch die "Sektorentheorie greift nicht mehr richtig", sagt Woyke, "das ist weltweit in vielen Industrienationen so".

Dennoch wurde noch keine alternative Form der Einteilung gefunden, die sich durchsetzen konnte. Woyke könnte sich vorstellen, nach Kundengruppen zu clustern, aber "bisher gibt es auch das im großen Stil noch nicht".



Vier Industrielle Revolutionen

Klare Abgrenzungen, wann eine industrielle Revolution aufhört und die nächste anfängt, sind kaum möglich. Jedenfalls begann alles mit der ersten industriellen Revolution, die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte und die Mechanisierung mit Wasser- und Dampfkraft anstieß.
In der zweiten Revolution wurde um 1900 der Einsatz von Elektrotechnik entscheidend. Digitalisierung und Computer sind Kern der dritten Revolution, die Mitte der 1970er-Jahre begann.
Derzeit ist die vierte industrielle Revolution im Gange. Mit "smart factories" und cyberpsychischen Systemen forciert sie die Vernetzungen von Maschinen und Menschen. (trat)


Mittwoch, 17. Dezember 2014

Die Fortschritte des Atheismus bei den Arabern.

aus nzz.ch, 17.12.2014, 05:30 Uhr                                                                              Truhe mit dem Bart des Propheten 

Atheismus im Mittleren Osten
Eine postislamistische Generation?
Die arabischen Aufstände scheinen gescheitert – und die radikalen Islamisten die Gewinner. Tatsächlich aber haben die Revolten von 2011 eine Bewegung freigesetzt, die vielfach unbemerkt blieb: die Hinwendung zum Atheismus. Dessen Anhänger sind dem «Islamischen Staat» zahlenmässig sogar weit überlegen. 

von Mona Sarkis 

2014 befragte die Al-Azhar-Universität, Ägyptens wichtigste religiöse Institution, 6000 Bürger und kam zum Ergebnis: 12,3 Prozent von ihnen sind Atheisten. 2012befragte das renommierte Marktforschungsinstitut Win/Gallup International 502 Saudiaraber und kam zum Ergebnis: 19 Prozent von ihnen sind «nicht religiös», weitere fünf Prozent gar überzeugte Atheisten. Vorausgesetzt, dass diese Zahlen repräsentativ sind, hiesse das: Fast ein Viertel der rund 29 Millionen Saudis ist latent oder akut religionsmüde. Und das ausgerechnet in dem Land, das die heiligsten Stätten des Islam hütet und dessen Herrscherhaus seit 1744 seine gesamte Raison d'être auf einem fundamentalistischen Religionsverständnis aufbaut.

Höllenpredigten statt Argumente

Wie gross der von Win/Gallup konstatierte Sündenfall demnach ist, beweist nichts besser als Riads Reaktion: Im März erklärte es die Infragestellung der islamischen Fundamente Saudiarabiens zum «terroristischen Akt». Weniger radikal, aber nicht minder konfus fiel die Reaktion Kairos aus: Eine nationale Kampagne soll die verlorenen Schafe – die gemäss Verfassung kriminell und mit Haft zu bestrafen sind – wieder in den Schoss der Gesellschaft holen. Das Problem ist nur: Keiner weiss, wie. Denn um die Dialoge, zu denen aufgerufen und eingeladen wird, fruchten zu lassen, müssten die Religionsgelehrten die Intelligenz der jungen Zweifler ansprechen. Gerade das aber misslingt ihnen zumeist. «Das Gros von ihnen hat nie gelernt, logische Fragen zu stellen, geschweige denn, solche zu beantworten», erklärt die 22-jährige Ägypterin Aynur. Stattdessen schwinge der Klerus vorzugsweise die Keule buchstabentreuer Gottesfurcht und traktiere seine Kritiker mit Szenarien von Höllenfeuern. «Allerdings wirkt das neben all dem, was wir hier wirklich durchmachen, irgendwann ausgesprochen lächerlich», meint Aynur.

Wie viele andere Muslime fühlte sich die junge Frau von Fragen umgetrieben: «Es ist also aus religiöser Sicht gut, eine Frau wegen Ehebruchs zu steinigen – aber einen 70-Jährigen, der eine 10-Jährige heiratet, soll man beglückwünschen?!» Oder: «Gott gab den Homosexuellen Instinkte – verbietet ihnen aber, diese auszuleben. Wozu gab er sie ihnen dann? Um sie zu quälen?» Oder: «Wenn Gott und Mensch zwei voneinander getrennte Entitäten sind, muss Gott doch räumlich begrenzt sein? Sonst könnte er ja in den Menschen einfliessen – womit Gott und Mensch eins wären.»


Artikuliert werden solche Fragen und Ideen vor allem in den sozialen Netzwerken. Über 70 arabisch- und englischsprachige Facebook-Seiten mit atheistischen Inhalten verzeichnet der Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker von der Universität Wien 2013 in einem Überblick. Die Autoren seien Jordanier oder Sudanesen, Palästinenser oder Marokkaner, Kuwaiter oder Libyer, mit einer Follower-Gemeinde von acht («Die Atheisten Omans») bis 28 000 («Syrische Atheisten»). Dass diese Seiten nahezu alle seit 2011 entstanden sind, ist zweifellos den arabischen Revolten geschuldet, die Menschenrechte und persönliche Freiheit grossschrieben. Anderseits aber brachte der damalige Umbruch nur ans Licht, was schon lange gegärt hatte. Entsprechend lassen sich im arabischsprachigen Internet atheistische Themen finden, die bereits in der voraufgehenden Dekade gepostet wurden. Dies ist nicht weiter verwunderlich: Gerade in jenem Jahrzehnt kamen zwei Faktoren zusammen, welche die Entwicklung des Atheismus im Mittleren Osten verstärkten und beschleunigten. Als Erstes wäre das Internet zu nennen, das um die Jahrtausendwende in die Region einzog und quasi die Revolution vor der Revolution einleitete: Von den Schriften muslimischer Freidenker des Mittelalters über den Werdegang des schillernden einstigen Salafisten Abdullah al-Qasimi (1907 bis 1996) bis hin zu den Ansichten Che Guevaras oder des US-Nobelpreisträgers Richard Feynman waren plötzlich alle erdenklichen Informationen zugänglich und wurden regelrecht verschlungen.

Dass das Bedürfnis, andere Weltsichten kennenzulernen, aber überhaupt so gross war, ist wohl weniger der Globalisierung zuzuschreiben als vielmehr der Eskalation des politischen Islam, die in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts unübersehbar wurde. Dabei galt diese Ideologie in den 1980er Jahren noch als Wunderwaffe der Muslime nach einer schier endlosen Kette von Niederlagen. Vor allem der Sieg Israels im Sechstagekrieg von 1967 hatte die Entwicklung eingeläutet: Weil damals der Panarabismus kollabierte, der die Massen mit Stolz – und offensichtlich überzogenen Erwartungen – erfüllt hatte, suchte man einen anderen geistigen Rettungsanker. Die Reislamisierung begann, längst abgelegte Kleidungsstücke wie das Kopftuch kamen wieder in Mode – aber die beschworene «Stärke der Umma», der islamischen Gemeinde, war damit noch nicht bewiesen.

Dies gelang erst den Mujahedin der achtziger Jahre, die die Sowjets aus Afghanistan vertrieben und so aller Welt demonstrierten, dass die Kombination aus extremer Religiosität und politischem Willen sehr wohl handfeste Siege erringen kann. In den folgenden Jahrzehnten zeitigte das Konzept allerdings Auswüchse, die immer mehr Muslime abstiessen. «Das Wort Gott ist für mich Synonym für Rückwärtsgewandtheit, Grausamkeit, Rassismus und Mordgier», notierte ein junger Muslim 2007 in Reaktion auf die Anschläge der Kaida im Irak. Die Gewaltexzesse des Islamischen Staats lagen damals noch jenseits des Vorstellbaren.

Der Islam ist nicht länger «die Lösung»

Noch wenn man vom pervertierten Glaubens- und Gesellschaftsverständnis solcher Extremisten absieht, bleibt die Frage, was der politische Islam eigentlich je geleistet hat. Die Antwort darauf blieben 2012 auch die Muslimbrüder schuldig – ihrer Parole «Der Islam ist die Lösung» zum Trotz. «Viele Ägypter hatten nach Hosni Mubaraks Sturz auf die Bruderschaft gehofft. Sie, die selbst jahrzehntelang unterdrückt worden war, sollte die Antithese zu Korruption und Gewaltherrschaft sein. Aber sie entpuppte sich bloss als eine weitere Synthese», resümiert Aynur.

Die Einsicht, dass der bisher praktizierte politische Islam in die Irre, aber nicht aus dem Abseits führt, beginnt auch dort Fuss zu fassen, wo man es zuletzt erwartet hätte. So sorgte der saudische Scharia-Gelehrte und ehemalige Salafist Abdullah al-Maliki 2011 mit einem Buch für Aufsehen, in dem er den Schlachtruf «Der Islam ist die Lösung» in «Die Souveränität der Umma ist die Lösung» abwandelte. Seine These: Die Revolten seien ausgebrochen, damit die Herrschaft der Individuen, Sippen oder Einzelparteien ende und das Volk Referenzpunkt der Legislative werde. Zwar bleibt für Maliki die Scharia der Dreh- und Angelpunkt der Verfassung, doch über die Art ihrer Anwendung soll einzig der Urnengang des Volkes entscheiden. So verschwommen seine These auch noch klingt: Sie ist ein Plädoyer für ein demokratisches Modell. Und aus dem Mund eines einstigen Ultrakonservativen, der obendrein noch in Saudiarabien lebt, ist das nicht wenig.

Fürs Erste, befindet der Syrer Fadi, sei es sogar mehr als genug. Dies überrascht, da der 36-Jährige an sich bekennender Atheist ist. Dennoch hält der Computeringenieur aus Homs es für fatal, die Religion aus lauter Frustration über ihren Missbrauch durch Machtmenschen über Bord zu werfen. Fadis Argumentation ist dabei keineswegs kulturhistorisch, sondern überaus pragmatisch ausgerichtet: Seit 1967 sei der Islam nachgerade zur identitätsstiftenden Konstituente aufgebaut worden. Ihn jetzt unreflektiert abschütteln zu wollen, hiesse, ein Vakuum zu schaffen, das nicht die Souveränität der Völker, sondern den nächsten Absturz bringe.

Extreme statt Synthese

Tatsächlich mag die Hinwendung zum Säkularismus oder gar Atheismus vorab denjenigen Muslimen leichtfallen, die sich im Internet bewegen und möglicherweise auch Auslanderfahrung haben. Für die meisten aber wäre für eine derartige Entwicklung zumindest ein Bruchteil jener Zeit vonnöten, die etwa die europäische Aufklärung beansprucht hat. Genau das aber scheint unmöglich: Seit vier Jahren überschlagen sich die Ereignisse, treten die Extreme immer schärfer hervor. Der Soziologe Asef Bayat von der Universität Illinois bleibt indes zuversichtlich und prognostiziert den «Postislamismus» – ein System, in dem radikale religiöse Lesarten schrittweise zugunsten einer Fusion mit zivilen Freiheiten aufgegeben werden. Eine solche Entwicklung wäre zu begrüssen; klar bleibt aber vorerst nur: Die ideologischen Kontinentalplatten des Mittleren Ostens reiben derzeit gewaltig aneinander.


Nota. - Wie praktisch für eine Religion, wenn sie eine heilige Kirche hat und eine gesalbte Priesterschaft! Die sind nämlich nur solange Hüter der dogmatischen Reinheit, wie... sie es sich leisten können. Alles oder nichts ist ihre Devise nur, solange Alles "machbar" bleibt. Wenn nicht, nehmen sie eher mit der Hälfte vorlieb, als sich auf Null setzen zu lassen; so viele Mäuler wollen gestopft, so viele Anliegen berücksichtigt sein! 

Kirche und Klerus sind von Natur Pragmatiker, sie werden irgendwie für ihr Überleben sorgen - und für das der Religion. Als im aufgeklärten 18. Jahrhundert unter den Gebildeten der Deismus Mode wurde, dem zufolge GOtt zwar die Welt erschaffen, sich hernach aber zur Ruhe begeben hatte, da ereiferten sich die Krichenmänner und nannten es einen Atheismus-light. Am Ende des Jahrhunderts erlebten sie aber, wie man auf ihre Dienste ganz verzichtete und nur noch ein Höheres Wesen, womöglich sogar bloß Die Vernunft verehrte, und viele von ihnen aufs Schafott schickte. Da kehrten sie sich in das Unvermeidliche. Das Abendland wurde säkular, das Gewissen frei und die Menschenrechte fast schon selbstverständlich. Die Kirchen mussten den Gürtel enger schnallen, aber schlecht geht es ihnen noch heute nicht. Und viele Menschen sind noch immer froh, dass es sie gibt.

So sarkastisch es klingt: Der Islam hat eine solche Rückzugslinie nicht. Wenn er gegen die Säkularisierung bestehen will - als Glaube ohne bestimmten Inhalt einerseits und doch andererseits als kleinliches Regelwerk für den Alltag -, dann bleibt ihm als Rückzugsstellung überhaupt nur Alles! Der Salafismus, die Rückkehr zu den Ursprüngen und der Ausstieg aus der Geschichte ist der Islam mit dem Rücken zur Wand. Er hat eine blutige Gegenwart, aber keine Zukunft.
JE

Kein Ende der Geschichte.

Elmer Bischoff, 1957
aus nzz.ch, 17.12.2014, 05:30 Uhr

Europa verabschiedet sich vom Ende der Geschichte

Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 begann in den Augen vieler Europäer ein neues, besseres Zeitalter; eine Zukunft schien heraufzuziehen, die sich fundamental von der Vergangenheit unterscheiden würde. In Europa entstand offenbar eine neue politische Ordnung, die die Irrungen und Wirrungen der Vergangenheit – Konflikte und Kriege – ein für alle Male hinter sich liess. Europäische Geschichte als «Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit» (Hegel) schien endlich, nach den totalitären Abwegen des 20. Jahrhunderts, zu sich selbst zu finden.

von Ulrich Speck

In dieser neuen Welt gab es keine Feinde mehr. Konflikte waren nichts anderes als Missverständnisse, die man durch Kommunikation beheben konnte. Die neuen Aufgaben der Politik waren transnational und liessen die Enge der Staatenwelt hinter sich: Ökologie, Klima, Gerechtigkeit. Der Weltstaat, von dem Kant geträumt hatte, als Verwirklichung einer Weltgesellschaft und einer globalen Rechtsordnung, schien in greifbare Nähe zu rücken.

Balkankriege und islamistischer Terror als Rückzugsgefechte Ewiggestriger

Die Bürgerkriege auf dem Balkan drohten zwar dieses Narrativ vom «Ende der Geschichte» (Francis Fukuyama) zu unterlaufen. Doch im globalen Fortschrittsdiskurs waren dies Rückzugsgefechte von Ewiggestrigen, die die Segnungen einer globalisierten, ganz auf das ökonomische Wohlbefinden ausgerichteten neuen Epoche noch nicht begriffen hatten. Und auch vom islamistischen Terrorismus liess man sich nicht beirren, jedenfalls nicht in Europa. Terrorismus wurde überwiegend nicht als Angriff auf die liberaldemokratische Ordnung wahrgenommen, sondern als Reaktion auf Fehler Amerikas gedeutet. Deshalb applaudierte Europa, als Obama den Rückzug aus dem Irak ankündigte.

2014 als Jahr der bitteren Erkenntnisse

Doch der Rückzug Amerikas aus dem Irak, die Konzentration auf Diplomatie und Verhandlung, die Weigerung, weiterhin eine Führungsrolle in der Region einzunehmen, haben nicht zum Frieden geführt. 2014 war das Jahr, in dem sich die Europäer von ihrer bequemen Illusion verabschieden mussten, dass Gewalt in Europas Nachbarschaft im Wesentlichen eine Reaktion auf amerikanische Macht darstellt. Im Süden eroberten die barbarischen Horden des IS ein Territorium. Das «Trainingslager» für radikale Islamisten, vor dem die Befürworter des Afghanistankriegs immer gewarnt haben, ist entstanden, nicht fern am Hindukusch, sondern in direkter Nachbarschaft Europas. 

Und im Osten demonstrierte Putins Russland, dass es postmoderne europäische Friedensliebe als Schwäche deutet, als Unfähigkeit, für Interessen und Werte einzustehen. Die europäische Interpretation, in solchen Aktionen manifestiere sich der Widerstand gegen ein aggressives Amerika, ist zwar immer noch zu hören. Doch ein Amerika, das sich seit Jahren in der Tendenz zurückzieht, weil es die Verantwortung für globale Ordnung nicht mehr so recht tragen will, taugt immer weniger zum Sündenbock. Die Europäer sehen sich gezwungen, sich selbst mit Phänomenen wie radikalem Islam und russischer Aggression auseinanderzusetzen. 

Mehr noch, je näher die Gewalt an Europa heranrückt, umso mehr kommen sie selbst unter Handlungszwang. Aus der Akteursperspektive aber sehen diese Dinge sehr anders aus. Die islamistische Gewalt in der Levante und der Ukraine-Konflikt sind längst nicht mehr vorrangig Probleme Amerikas, sondern Herausforderungen für Europa.

Geschichte hat Europa eingeholt

Die Pause von der Geschichte, die die Europäer über Jahrzehnte geniessen durften, ist im Jahr 2014 wohl endgültig zu Ende gegangen. Diplomatie, gutes Zureden, wirtschaftliche Anreize und Integrationsangebote bleiben weiterhin wesentliche Elemente europäischer Aussenpolitik.

Aber wenn mörderische Banden und Horden Zivilisten massakrieren, wenn ein mächtiges Land ein weniger mächtiges Nachbarland angreift, besetzt, destabilisiert, muss Europa erst einmal Gegenwehr leisten, auch wenn das schwierig und riskant ist. Die Geschichte hat Europa wieder eingeholt. Aussenpolitik dreht sich wieder um Staaten, Grenzen, Konflikte und militärische Gewalt. Europa hat seine Antwort darauf noch nicht gefunden.

Montag, 15. Dezember 2014

Die Religionen und die Gewalt.


Guido Reni, Erzengel Michael

Die Neue Zürcher brachte am 10. Dezember von Friedrich Wolfgang Graf eine Rezension des jüngsten Buchs der englischen Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong: Im Namen Gottes. Religion und Gewalt.* Ingesamt ist es ein milder Verriss, daher beschränke ich mich darauf, Ihnen die Kernthese der Buches mitzuteilen:

Von den agrarischen Gemeinwesen der alten Sumerer vor 6000 Jahren bis hin zur Gegenwart bietet Armstrong für die Gewaltgeschichten der Religion immer wieder dieselben Deutungsmuster: Es seien gar nicht genuin religiöse Motive, die zur Gewalt führten, sondern nichtreligiöse strukturelle Bedingungen, vor allem die politische und militärische Machtausübung in einer Gesellschaft. Obendrein sei Religion als eine selbständige, relativ autonome Sphäre menschlicher Kultur nur eine moderne, primär von protestantischen Philosophen und Theologen verbreitete «Erfindung». Vor der Aufklärung des 17. Jahrhunderts sei wirklich alles, Staat und Politik, Ökonomie und Kunst, Sexualität und Kriegsführung, vom Glauben an Gott oder mehrere Götter durchdrungen gewesen.

So hätten die religionskritischen Aufklärer den falschen Eindruck gewonnen, dass eigentlich rein politisch oder ökonomisch motivierte Kriege eine religiöse Ursache hätten. Denker wie John Locke und Immanuel Kant seien deshalb gar keine Aufklärer, sondern Erfinder des «myth of religious violence»; mit dieser Formel knüpft Armstrong an den katholischen Theologen William T. Cavanaugh an. Dass die modernen «Säkularisten» diesen Mythos seit dem 19. Jahrhundert und auch heute noch für wahr hielten, erklärt Armstrong mit ideologischer Verblendung: In ihrem radikalen Antiklerikalismus und ihren Kulturkämpfen gegen die Frommen sei es den «Säkularisten» gelungen, den Mythos von der Glaubensgewalt als Realität erscheinen zu lassen. ...

*

Das hat ja was für sich. Denn wie ein Subjekt wirken kann "die Religion" nur in der Gestalt ihrer Anhänger. Doch kein Anhänger einer Religion ist im Leben nur das und nichts anderes. Man kann nicht sinnvoll eine Geschichte "der Religionen" schreiben und nachsehen, wann und wo und warum sie 'zu Gewalt geneigt' haben. Andersrum geht es eher: eine Geschichte gewaltsam ausgetragener Konflikte schreiben und nachsehen, wann und wo und wie religiöse Gesichtspunkte motivierend oder legitimierend dabei eine Rolle gespielt haben.

Aber sogleich wird deutlich: Was ein religiöser Gesichtspunkt ist im Unterschied zu einem weltlichen, hängt davon ab, um welche Religion es geht. 

Christen mögen sich die Köpfe einschlagen über die Menschennatur des Gottessohns. Ob das das wahre Motiv ist oder nur ein Vorwand für reelle Interessen, wäre dann immer noch zu klären. Aber wenn Frau Armstrong dieses Buch in diesen Jahren schreibt, denkt sie natürlich an den Islam. Der ist dogmatisch ausgesprochen mager. Das muslimische Glaubensbekenntnis, durch das allein man der Umma beitritt, heißt: Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet. Ansonsten hat man rituellen Vorschriften zu folgen, mal strenger, mal laxer. 

Aber viel zu glauben gibt der Koran nicht. Gott ist nicht Mensch geworden, es gibt nichts Heiliges und kein Sakrament, es gibt keine Kirche, die seliger machte als eine andere. Die große Scheidung des Islam in Sunniten und Schiiten war und ist in ihrer Begründung rein politisch: Es geht um die Legitimität der Kalifen, die dem Propheten nachgefolgt sind. Wobei der Kalif kein Geistlicher war, sondern ein Gläubiger wie die andern, er war nicht der Seelsorger der Muslime, sondern ihr Schutzherr.

Mit andern Worten: Aus geistlichen Motiven kann islamischer politischer Aktivismus gar nicht verstanden werden, man muss nach außerreligiösen Triebkräften suchen - das ist ein hermeneutischer Elementarsatz.
JE

*) Karen Armstrong, Im Namen Gottes. Religion und Gewalt. Aus dem Englischen von Ulrike Strerath-Bolz. Pattloch, München 2014, 687 S., Fr. 37.90.

Samstag, 13. Dezember 2014

Wie ursprünglich ist der Koran?

aus derStandard.at,13. Dezember 2014, 17:00                                                                        Eine Seite der Koran-Handschrift Ma VI 165. Sie wurde mit der C14-Methode auf die Zeit zwischen 649 und 675 datiert

Was die Muslime schon immer sagten
Dass der Koran in seiner heutigen Form aus der frühislamischen Zeit stammt, wurde oft angezweifelt. Heute ist die Quellenlage überzeugend

von GUDRUN HARRER

Die Weltreligion Islam hatte es - schon vor der schweren Beschädigung durch Al-Kaida und Islamischen Staat - im Westen nie leicht: Als Epileptiker wurde etwa sein Prophet von frühen Autoren beschrieben, dessen krause Fantastereien irgendwann viel später zu einem Buch zusammengestoppelt wurden. Manche sogenannte Islamkritiker gingen später bis zur Behauptung, es handle sich quasi um eine "erfundene" Religion, auch das Personal - wie Muhammad selbst - habe gar nie existiert.

Ohne deshalb an die göttliche Offenbarung glauben zu müssen, lässt sich nüchtern konstatieren, dass im Gegensatz zu all diesen Behauptungen die Quellenlage aus der frühislamischen Zeit ganz hervorragend ist. Und sie wird immer besser: Im November informierte die Universität Tübingen in einer Presseaussendung über die naturwissenschaftliche Datierung eines aus ihrem Bestand stammenden Koranfragments auf die Jahre 649 bis 675 unserer Zeitrechnung, statistische Wahrscheinlichkeit 95,4 Prozent.

Muhammad starb 632, demnach geht es um eine Textprobe aus der Zeit zwanzig bis vierzig Jahre nach dessen Tod. Nach islamischer Überlieferung versuchte gerade in jener Zeit der dritte Kalif, Uthman Ibn Affan (644-656), einen einheitlichen Kodex der zuvor gesammelten Koranverse durchzusetzen, und schickte dazu Standardexemplare in die islamischen Provinzen. Wissenschaftlich belegt ist das nicht.

Siebenundsiebzig Blätter

Die Tübinger Handschrift mit der Signatur Ma VI 165 ist ein substanzielles Stück, mit 77 Blättern macht sie gut zwanzig Prozent des Korans aus (von Sure 17,37 bis 36,57). Allerdings ist die Abmessung der Blätter klein - das Buch entsprach demnach nicht dem, was man sich unter einem Referenzkodex vorstellt. Gerade deshalb wäre er nicht erstaunt gewesen, wenn eine etwas spätere Datierung, um 700, herausgekommen wäre, sagt Michael Marx am Telefon zum Standard.

Er ist Leiter der Arbeitsstelle "Corpus Coranicum" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zusammen mit französischen Wissenschaftern arbeiten die Deutschen an einem Projekt, das erstmals auch auf materielle Erzeugnisse zur Erforschung der koranischen Textgeschichte setzt. Dabei kommt zur paläografischen und zur orthografischen Analyse die Datierung mithilfe der an der ETH Zürich durchgeführten Radiocarbonmethode (sie misst den Zerfall radioaktiver C14-Isotope).

Archaischer Schreibstil

Bei der Handschrift Ma VI 165 ergab die Untersuchung von drei an unterschiedlichen Stellen entnommenen Proben eine frühere Datierung, als Paläografie - der Schriftstil - und Orthografie erwarten ließen. Der ursprüngliche Text ist im archaischen und nichtkalligrafischen Hijazi-Stil geschrieben, früher wurden diese frühen Schriftarten meist generell als "kufisch" zusammengefasst.

Untersucht wird allerdings nur der Beschreibstoff, in diesem Fall das Pergament, eine Tintenuntersuchung ist noch nicht möglich. Auf Ma VI 165 wurden im ursprünglichen Text, der nicht alle Buchstaben eindeutig notiert, später in roter Tinte Vokalzeichen eingesetzt und noch einmal später mit schwarzer Tinte die frühere Version eindeutig geschrieben.

Wenn nur annähernd Sicherheit über das Pergament besteht, könnten demnach nicht doch jene recht haben, die meinen, der Koran wurde erst viel später aufgeschrieben und in einem Buch gesammelt? Theoretisch möglich, aber sehr unwahrscheinlich, sagt Marx: Pergament sei ein teurer Beschreibstoff gewesen, und dass dieser womöglich jahrzehntelang gehortet worden wäre, wäre sehr unökonomisch gewesen.

Dreißig größere Fragmente

Dagegen spricht wohl auch die große Anzahl von physischer Evidenz aus dieser frühen Zeit. Marx nennt dreißig größere Fragmente (insgesamt bis zu 2000 Blättern), die im ersten islamischen Jahrhundert anzusiedeln seien - eine ganz erstaunliche Anzahl, verglichen mit der Textüberlieferung anderer antiker und spätantiker Texte. Weitere Forschungsergebnisse sind für Jänner und Februar zu erwarten, dabei handelt es sich gleich um ein Koranfragment von 210 Blättern sowie sieben aus einem Kodex, von dem weitere 31 Blätter unzugänglich in einem Archiv in Kairo schlummern.

Der große Berliner Kodex von 210 Seiten hat die gleiche Herkunft wie Ma VI 165: Sie stammen aus der Sammlung des preußischen Konsuls Johann Gottfried Wetzstein, der in den 1850ern in Syrien seiner Leidenschaft für alte Handschriften frönte. Ob seine Erwerbungen auch in diesem Raum entstanden sind, ist ungewiss - hier hofft man auf zukünftige genetische Forschungen an Pergamenten, die ja von Schafen stammen. Heute sind die Handschriften des Konsuls in Tübingen, Leipzig und Berlin, wo Wetzstein im Februar mit einer Konferenz geehrt wird.

Erste naturwissenschaftliche Datierungen in unterschiedlichen Laboren gab es bereits in den vergangenen fünfzehn Jahren, aber "Coranica" ist mit bisher etwa vierzig Proben die erste größere systematische Messkampagne: Die physischen Zeugnisse des Koran standen noch nie im Mittelpunkt der Forschung, obwohl doch die Datierung eine sehr emotionelle Komponente zu enthalten scheint - denn wenn etliche Koranwissenschafter dem muslimischen Narrativ von früher Niederschrift und Sammlung der koranischen Offenbarungen widersprachen, lief das doch irgendwie auf eine Delegitimierung hinaus.

Verschiedene Theorien

Die 1970er-Jahre waren in dieser Beziehung eine extrem kontroverse Zeit, da wurden innerhalb weniger Jahre sehr unterschiedliche Standpunkte publiziert: von John Burton, der fast allein mit der Ansicht dastand, dass der heutige Koran die vom Propheten Muhammad stammende Fassung sei (The Collection of the Qur'an, 1979), bis zu John Wansbrough, der sagte, der Koran sei erst im 9. Jahrhundert erstellt worden (Quranic Studies, 1977).

Dazu gab es etliche andere Theorien, keine folgte dem, was die Muslime glaubten. Und keiner dieser Forscher, so Marx, habe sich die Handschriften angesehen: unvorstellbar in einer Zeit wie heute, wo wiederum gerade die materielle Evidenz eine besondere Faszination auszuüben scheint - und vielleicht Erwartungen weckt, die auch nicht zu erfüllen sind.

Eigentlich, so Marx, komme der jetzige Medienrummel zu früh, erst nächstes Jahr werde es einen Gesamtüberblick über die Untersuchungsreihe geben, inklusive der Unschärfen der Datierungen. Die "Coranica"-Forscher sind sehr vorsichtig - und das Bemühen um eine Absicherung der Ergebnisse lässt sie etwa auch sehnsüchtig nach Wien, zur Wiener Papyrussammlung, blicken. Sie hat frühe Koranfragmente, aber auch bedeutende Papyri, und zwar mit Kolophon, also einer Datierung.

Die Wiener Papyri

Die naturwissenschaftliche Untersuchung von datierten Fragmenten dient dazu, die C14-Methode zu verifizieren. Aber aus Wien hätten sie - so wie etwa auf ein Drittel ihrer zwanzig Anfragen - eine ablehnende Antwort bekommen, erzählt Marx. Immerhin muss man der Handschrift ein Quadratzentimeter großes Stück entnehmen: ein klassischer Konflikt zwischen Forschung und Erhaltung. Aber im Moment gebe es dafür die Hoffnung auf Probeentnahmen von Bibelhandschriftenaus einer vergleichbaren Zeit.

"Beweise" könne das nicht liefern, meint Marx, aber wichtige Indizien dafür, dass der Koran tatsächlich aus der frühislamischen Zeit stammt. Dass es so viele Belege gibt, hängt gewiss auch damit zusammen, dass der Islam schon früh eine politisch erfolgreiche Religion war - ganz im Gegensatz zum Christentum, das erst einmal im Verborgenen existierte. Die Buchform des Neuen Testaments als Kodex kam erst auf, als es Staatsreligion wurde. Und die Muslime, die sind von der Fülle des Koranmaterials aus dem ersten islamischen Jahrhundert eher unbeeindruckt: Sie haben es ja schon immer gewusst.


Nota. - Der Koran ist nach muslimischer Auffassung - anders als Altes und Neues Testament - GOttes eigenes Wort, nämlich so, wie es von Gabriel dem Propheten auf die Zunge gelegt wurde. Daher kann er, anders als jene, nicht durch menschliche Vernunft ausgelegt werden. - Offenkundig steht dieser Glaubenssatz der historischen Anpassungsfähigkeit dieses Dogmenpakets energischer entgegen als das Eingeständnis menschlicher Überlieferung bei Juden und Christen. 

Bleibt nur die Frage: Wie ursprünglich ist dieses Dogma in der koranischen Überlieferung? Die Mitteilung der koranischen Texte durch Gabriel wird in einer Reihe von Suren selbst bekundet. Von wann aber stammt der Wortlaut dieser Suren? Und wie wörtlich wurden sie ursprünglich verstanden? Gibt es in der Überlieferung der koranischen Texte einen Moment nachträglicher Dogmatisierung (mit der die geistige Stagnation des Islam seit etwa dem 11. Jahrhundert zu korrelieren wäre), oder war der Text exklusiv von Anbeginn? Realhistorisch wenig interessant, aber geistesgeschichtlich schon...
JE 

Freitag, 12. Dezember 2014

Entstanden die Religionen aus dem Überfluss?

aus Die Presse, 12. 12. 2014

Geburt der Religionen aus der Fülle?
Große Glaubenssysteme, die den Menschen Moral und Askese nahelegten, entstanden, als Gesellschaften eine Schwelle des Reichtums überschritten.

Von Jürgen Langenbach

Die uns vertrauten großen Religionen entstammen dem irdischen Mangel, der ein besseres Jenseits imaginiert, so sah es der Philosoph Ludwig Feuerbach. Vor Kurzem wurde er partiell bestätigt, von Carlos Botero, einem Umweltkundler an der North Carolina State University: Der verglich weltweit 389 Gesellschaften und fand heraus, dass jene mit moralisierenden Göttern – die strenge Handlungsvorschriften erlassen und über die Einhaltung wachen – bevorzugt dort entstanden, wo es Landwirtschaft gab und deren Erträge von den Launen der Natur bedroht waren.


Dort muss kooperiert werden, das braucht Regeln, deren Einhaltung wird durch überirdische Autoritäten gesichert. Als zusätzliche Bestätigung seines Befundes führte Botero an, dass in all den Regionen, in denen die Menschen stärker kooperieren müssen, das auch Vögel tun, schon ältere Junge helfen dann bei der Brutpflege (Pnas, 10. 11.). Ob das die Hypothese stärkt, sei dahingestellt, Vögel brauchen zum Kooperieren keine Götter. Und ob die ganze Hypothese stimmt, ist auch nicht ganz klar, Nicola Baumard (Paris) sieht nun als Geburtshelfer der großen Religionen gerade nicht die (drohende) Not, sondern ihr Gegenteil: die Fülle.

Karl Jaspers' „Achsenzeit“

Baumard knüpft an den Philosophen Karl Jaspers bzw. dessen Konzept der „Achsenzeit“: Die brachte von 800 v. Chr. bis 200 v. Chr. in vielen Regionen der Erde so große Fortschritte, dass sie eine „Achse der Weltgeschichte“ gewesen sei, in der sich „der Mensch, wie wir ihn heute sehen“, entwickelte. Und in ihr entstanden große Religionen, die über die Nöte des Alltags hinaussahen, ihre Mitglieder zu Moral und Zurückhaltung beim Materiellen bis hin zur Askese anhielten, Fasten etwa, auch zu Mitgefühl und Barmherzigkeit: In China stand dafür Konfuzius, in Indien Buddha, in den griechischen Stadtstaaten waren es viele Philosophenschulen, etwa die der Stoa.

Woher kam diese Parallelentwicklung? Viele brachten sie mit dem Wachstum der Gesellschaften und der dazu erforderlichen politischen Komplexität in Verbindung, Baumand vermutet nun einen anderen Hintergrund: Diese Religionen entstanden, als ein Schwellenwert beim Reichtum überschritten war, Baumand drückt ihn in Kalorien aus – 20.000 Kilokalorien pro Kopf und Tag –, dabei geht es nicht (nur) ums Essen, da ist alles eingerechnet, etwa auch ein Dach über dem Kopf (Current Biology, 11. 12.).

Dafür spricht, dass sich nur reiche Gesellschaften die Freistellung von Priestern etc. leisten können, dagegen spricht, dass Reiche per se nicht unbedingt zu Askese neigen, den Einwand erhebt Baumand selbst. Dagegen spricht allerdings auch ein eingebautes Vorurteil: Baumand geht davon aus, dass reich ist, wer viel hat: Jäger und Sammler haben nicht viel, deshalb, so Baumand, haben sie auch keine großen Religionen. Aber Jäger und Sammler sehen es umgekehrt: Sie brauchen nicht viel.



Donnerstag, 11. Dezember 2014

Das römische Reich und sein Wasser.

Water’s role in the rise and fall of the Roman Empire

Dr. Bárbara Ferreira 
EGU Executive Office 
European Geosciences Union

Smart agricultural practices and an extensive grain-trade network enabled the Romans to thrive in the water-limited environment of the Mediterranean, a new study shows. But the stable food supply brought about by these measures promoted population growth and urbanisation, pushing the Empire closer to the limits of its food resources. The research, by an international team of hydrologists and Roman historians, is published today in Hydrology and Earth System Sciences, an open access journal of the European Geosciences Union (EGU).

Stretching over three continents and persisting for many centuries, the Roman Empire was home to an estimated 70 million people. In such a vast area ensuring a stable food supply was no easy task, particularly given the variable and arid climate of the Mediterranean region. So how did the Romans maintain reliable food supplies to their cities for centuries under such challenging conditions?

To find out, Brian Dermody, an environmental scientist from Utrecht University, teamed up with hydrologists from the Netherlands and classicists at Stanford University in the US. The researchers wanted to know how the way Romans managed water for agriculture and traded crops contributed to the longevity of their civilisation. They were also curious to find out if these practices played a role in the eventual fall of the Empire.

“We can learn much from investigating how past societies dealt with changes in their environment,” says Dermody. He draws parallels between the Roman civilisation and our own. “For example, the Romans were confronted with managing their water resources in the face of population growth and urbanisation. To ensure the continued growth and stability of their civilisation, they had to guarantee a stable food supply to their cities, many located in water-poor regions.”

In the Hydrology and Earth System Sciences paper, the team focused on determining the water resources required to grow grain, the staple crop of the Roman civilisation, and how these resources were distributed within the Empire. It takes between 1000 and 2000 litres of water to grow one kilo of grain. As Romans traded this crop, they also traded the water needed to produce it – they exchanged virtual water.

The researchers created a virtual water network of the Roman world. “We simulated virtual water trade based on virtual-water-poor regions (urban centres, such as Rome) demanding grain from the nearest virtual-water-rich region (agricultural regions, such as the Nile basin) in the network,” explains Dermody.




The team used a hydrological model to calculate grain yields, which vary depending on factors such as climate and soil type. The authors used reconstructed maps of the Roman landscape and population to estimate where agricultural production and food demand were greatest. They also simulated the trade in grain based on an interactive reconstruction of the Roman transport network, which takes into account the cost of transport depending on factors such as distance and means of transportation.

Their virtual water network indicates that the Romans’ ability to link the different environments of the Mediterranean through trade allowed their civilisation to thrive. “If grain yields were low in a certain region, they could import grain from a different part of the Mediterranean that experienced a surplus. That made them highly resilient to short-term climate variability,” says Dermody.

But the Romans’ innovative water-management practices may also have contributed to their downfall. With trade and irrigation ensuring a stable food supply to cities, populations grew and urbanisation intensified. With more mouths to feed in urban centres, the Romans became even more dependent on trade whilst at the same time the Empire was pushed closer to the limits of their easily accessible food resources. In the long term, these factors eroded their resilience to poor grain yields arising from climate variability.

“We’re confronted with a very similar scenario today. Virtual water trade has enabled rapid population growth and urbanisation since the beginning of the industrial revolution. However, as we move closer to the limits of the planet’s resources, our vulnerability to poor yields arising from climate change increases,” concludes Dermody.

(http://www.hydrology-and-earth-system-sciences.net/).

*More information*

This research is presented in the paper ‘A virtual water network of the Roman world’ to appear in the EGU open access journal Hydrology and Earth System Sciences on 11 December 2014.

The scientific article is available online, free of charge, from the publication date onward, athttp://www.hydrol-earth-syst-sci.net/recent_papers.html. *A pre-print version of the paper (embargoed until 11 December, 2pm) is available for download at: http://www.egu.eu/news/133/waters-role-in-the-rise-and-fall-of-the-roman-empire/.*


Citation: TBA



*Contact*

Brian Dermody
Department of Environmental Sciences
Utrecht University
Utrecht, the Netherlands
Tel: +31 (0) 64 253 7720
Email: brianjdermody@gmail.com

Bárbara Ferreira

EGU Media and Communications Manager
Munich, Germany
Tel: +49 (0) 89 2180 6703
Email: media@egu.eu

more information: 
http://www.egu.eu/news/133/waters-role-in-the-rise-and-fall-of-the-roman-empire/
http://www.hydrology-and-earth-system-sciences.net/

Nota. - Originell und vielleicht fruchtbar ist der Einfall, den Getreidehandel als einen virtuellen Handel mit Wasserressourcen aufzufassen. 

Rätselhaft ist stets geblieben, wie dieses heterogene, aus tausend disparaten Teilen zusammengeflickte Reich so lange bestehen konnte - trotz einer endlosen Geschichte von Militärputschen und Bürgerkriegen. Die marxistische Antwort war: Das Mittelmeer war ein gewaltiger Getreidemarkt, und das Römische Reich war seine Polizeiorganisation. An deren Erhalt waren auf Dauer alle interessiert. Dass es sich bei dem Getreide "in Wahrheit" um Wasser handelte, macht deutlich, dass der Erhalt dieses Marktes für alle Anrainer nicht nur "nützlich", sondern sondern lebensnotwendig war.

Doch der schließliche, Jahrhunderte währende Zerfall ist damit nicht erklärt. Hatte er wirtschaftliche, gar ökologische Gründe und reichte das Wasser auf Dauer nicht für die wachsende Population? Oder hatte er polizeiliche Gründe, das Mittelmeer war nicht mehr sicher?

Ach, ich weiß schon: Von allem ein bisschen...
JE

Abstract. The Romans were perhaps the most impressive exponents of water resource management in preindustrial times with irrigation and virtual water trade facilitating unprecedented urbanization and socioeconomic stability for hundreds of years in a region of highly variable climate. To understand Roman water resource management in response to urbanization and climate variability, a Virtual Water Network of the Roman World was developed. Using this network we find that irrigation and virtual water trade increased Roman resilience to interannual climate variability. However, urbanization arising from virtual water trade likely pushed the Empire closer to the boundary of its water resources, led to an increase in import costs, and eroded its resilience to climate variability in the long term. In addition to improving our understanding of Roman water resource management, our cost–distance-based analysis illuminates how increases in import costs arising from climatic and population pressures are likely to be distributed in the future global virtual water network.