Samstag, 28. September 2013

Wieviel wusste der Landser?



aus derStandard.at, 26. September 2013, 13:59

Wissen um KZs war in der Wehrmacht weit verbreitet

USA und Großbritannien hörten gefangene Wehrmachtsangehörige systematisch ab - Die Protokolle wurden nun vom Wissenschaftsfonds ausgewertet

Wien - Umfassende Abhöraktionen sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts: Um Informationen über Kriegstaktik und Waffentechnologien der Nationalsozialisten zu erlangen und sich Vorteile in der pschologischen Kriegsführung zu verschaffen, hörten der britische und US-amerikanische Nachrichtendienst im Zweiten Weltkrieg systematisch deutsche und österreichische Kriegsgefangene ab. Die Gespräche wurden nun in einem vom Wissenschaftsfonds (FWF) finanzierten Projekt ausgewertet.

"Dabei hat sich unter anderem gezeigt, dass das Wissen um Konzentrationslager und Massenverbrechen weiter verbreitet war, als man bisher annehmen konnte", erklärte Richard Germann vom Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft. Die Ergebnisse im Zuge eines Kolloquiums am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien präsentiert.

Gezielte Zusammenlegungen

Gezielt legten die Alliierten Wehrmachtsoldaten aus gleichen Einheiten und Tätigkeitsbereichen, etwa U-Boot-Techniker oder Waffen-SS-Angehörige, zusammen, um deren Austausch zu fördern und so zu Informationen zu kommen. "Da gab es die unterschiedlichsten Versuchsanordnungen", schilderte Germann. Suchte man eher oberflächliches Wissen, legte man einfache Soldaten und Spezialisten zusammen, wollte man Details wissen, wurden Experten eines Faches zusammen untergebracht. Auch Generäle, Offiziere oder andere hohe Dienstgrade wurden häufig zusammengelegt, um mehr über Kriegspläne und Mechanismen der höheren Militärführung zu erfahren.

Sorgen um Angehörige

Tatsächlich drehten sich die Gespräche der Soldaten meistens um den Krieg, Technik und Waffen. Aber auch Sehnsucht nach der Heimat und Sorgen um Angehörige nahmen größeren Raum ein. "Man sorgte sich etwa aufgrund der Luftangriffe. Das interessierte den britischen Geheimdienst vor allem in Bezug auf die Möglichkeiten der psychologischen Kriegsführung", erklärt der Historiker Germann.

Zu den Themen, die den Abhörspezialisten als kriegsrelevant erschienen, gehörten auch der Austausch über Konzentrationslager und die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung. "Das Wissen war doch breit gefächert", so Germann. "Immer wieder wurden Konzentrationslager als Orte angesprochen, aus denen nur wenige Menschen wieder lebend herauskommen. Die Sache wurde meist direkt beim Namen genannt." Mehrheitlich hätten die Soldaten diese Geschehnisse allerdings negativ gedeutet. Gefunden wurden die rund 20.000 Protokolle aus den Jahren 1940 bis Kriegsende in Archiven in London und Washington.

Schlechte Bewertungen für NS-Prominenz

Aber nicht nur Waffen oder Familie waren häufige Gesprächsgegenstände, auch die eigenen Vorgesetzten sowie die "Prominenz" des nationalsozialistischen Regimes waren Thema. "Tendenziell wurde über die Führungselite des Dritten Reichs eher negativ gesprochen", sagte Germann. "Vor allem einzelne Persönlichkeiten wie etwa Hermann Göring wurden schlecht bewertet." Einige Kriegsgefangene erkannten auch, welche Gefahr Deutschland durch die Entscheidungen Hitlers drohte und sprachen sehr offen darüber.

Österreich kein Thema

Österreich als Staat spielte dagegen in den Gesprächen der Gefangenen kaum eine Rolle. "Eine etwaige Sehnsucht nach Österreich wäre aus Gründen der psychologischen Kriegsführung sicher verschriftlicht worden", zeigt sich Germann überzeugt. So wurden eher das persönliche Schicksal von Kurt Schuschnigg sowie der Moment des "Anschlusses" besprochen.

"In diesem Punkt gab es mitunter deutliche Meinungsunterschiede zwischen deutschen und österreichischen Wehrmachtsangehörigen. Die Österreicher hatten sich die Eingliederung ins Dritte Reich sichtlich anders vorgestellt und wollten den Deutschen einen 'Sieg von 1938' nicht gönnen."

Ängste und Zukunftsvorstellungen

Der Großteil der Protokolle stammt aus 1943/44 - daher spielen auch Zukunftsvorstellungen und Überlegungen zum Ende des Krieges eine Rolle. "Man fürchtete sich vor allem vor Racheaktionen der sowjetischen Streitkräfte an der Familie zuhause. Denn vielfach hatten die Soldaten die deutschen Gräueltaten an der sowjetischen Zivilbevölkerung selbst erlebt", so der Historiker.

Die Zukunft Österreichs war jedoch auch 1944 kein Thema - ab und zu seien Stereotypen wie "alleine wirtschaftlich nicht lebensfähig" kursiert, sagt Germann. "Eine gemeinsame Österreich-Identität gab es aber einfach nicht."

Zugang für Angehörige ehemaliger Kriegsgefangener

Die Wissenschafter bieten Angehörigen und Nachfahren von österreichischen Kriegsgefangenen die Möglichkeit, Kopien von Akten aus dem US-Kriegsgefangenenlager Fort Hunt bei Washington zu erhalten. In dem Lager wurden während des Zweiten Weltkrieges über 3.000 deutsche Wehrmachtssoldaten, darunter knapp 300 aus Österreich, interniert, vernommen und über versteckte Mikrophone heimlich belauscht. (APA/red, derStandard.at, 26.9.2013)


Link

Freitag, 27. September 2013

"Russlands Wirtschaft steht vor dem Kollaps."

aus tagesschau.de, Stand: 27.09.2013 17:11 Uhr                                                          Günter Havlena, pixelio.de

 

Medwedjew sieht Wirtschaft vor Kollaps



Der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedjew hat seine Landsleute mit einem eindringlichen Appell zu Reformen aufgerufen. Andernfalls drohe der Wirtschaft des Landes der Sturz in den Abgrund. Das schrieb der Politiker in einem Gastbeitrag für die Zeitung "Wedomosti".

Medwedjew zeichnete ein düsteres Bild: Ungünstige äußere Bedingungen und ungelöste Probleme im Inland belasteten die Wirtschaft. Die Wachstumserwartung sei "relativ pessimistisch", schrieb Medwedjew. Dieses Jahr werde das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts zweifellos nicht zwei Prozent überschreiten. Es sei das erste Mal seit 2009, dass das Wachstum unter dem globalen Mittelwert liege, so Medwedew. Der weitere Betrieb einiger veralteter Fabriken sei nicht länger rentabel, warnte der Regierungschef. Auch Großprojekte seien wegen der hohen Baukosten momentan nicht sinnvoll.

Derzeit wird die russische Wirtschaft vor allem durch öffentliche Aufträge, Subventionen und Lohnerhöhungen für die Beamten am Laufen gehalten. Dies ist allein aufgrund der hohen staatlichen Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport möglich. Medwedjew warnte vor einem möglichen Einnahmerückgang. Deshalb sei es extrem wichtig, Wachstumsquellen außerhalb des öffentlichen Sektors zu finden.

Hoffnungen auf Reformen enttäuscht

Bei einer Rede auf einem Investorentreffen in Sotschi am Schwarzen Meer bekräftigte Medwedjew seine Aussagen und setzte sich für ein neues Wirtschaftsmodell ein. Der Einfluss des Staates müsse zurückgedrängt werden.

Experten kritisieren seit langem, die Regierung habe es versäumt, die notwendigen Strukturreformen anzugehen. Auch Korruption und Bürokratie lähmen die Wirtschaft und hemmen Kreativität. Während seiner Zeit als Präsident von 2008 bis 2012 hatte Medwedjew mit ähnlichen Reden Hoffnungen auf liberale Reformen nicht nur im Wirtschaftssektor geweckt.
... 


Donnerstag, 26. September 2013

Geht China den Weg der Sowjetunion?

aus NZZ, 20. 9. 2013                                                                                                                  Xi Jinping

Der falsche Gorbatschew
 

Die Angst vor dem Schicksal der Sowjetunion führt die chinesischen Kommunisten zu einer Rückbesinnung auf die Ideologie

Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping ist im Westen zunächst als «heimlicher Gorbatschew» gesehen worden. Xi selbst warnt seine Parteigenossen vor dem Schicksal der Sowjetunion und startet eine Ideologie-Kampagne zur Stärkung des Systems.

von Markus Ackeret, Peking

Es gibt einen hartnäckigen Mythos im postsozialistischen Russland. Wäre 1985 nicht der von Intellektuellen wegen seines südrussischen Akzents und seiner bäuerlichen Herkunft verachtete Michail Gorbatschew an die Spitze der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gekommen, wäre diese nie untergegangen. Gorbatschews Versuch, das Sowjetsystem durch wirtschaftliche und politische Reformen zu bewahren, habe dem sowjetischen Imperium den Garaus gemacht. Gorbatschew ist bis heute eine Hassfigur für viele Russen.

Schock und Lehrstück

Die reine Symptom-Analyse ist nicht falsch. «Perestroika» (Umbau) und «Glasnost» (Offenheit) haben entscheidend dazu beigetragen, dass die kommunistische Parteiherrschaft ihre Glaubwürdigkeit und damit den Boden unter den Füssen verlor. Die Analyse blendet jedoch die tieferen Ursachen aus. Als Gorbatschew 1986 Glasnost und Perestroika verkündete, war das System schon so marode, dass es nicht gewagt ist anzunehmen, es sei kaum mehr zu retten gewesen.

Für Chinas Kommunisten, einst innerkommunistische ideologische Gegenspieler der Sowjetunion, war deren Zusammenbruch Ende 1991 ein Schock. Es kursieren viele Erzählungen darüber, wie sich die Parteielite seither immer wieder mit dem Scheitern der sowjetischen Genossen auseinandergesetzt hat, um ein vergleichbares Szenario zu verhindern. Die Angst vor dem Schicksal der Sowjetunion sitzt anscheinend bis heute fest in den Köpfen vieler führender Exponenten der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). Das sagt auch etwas aus über die fehlende Selbstgewissheit der Parteiführung und der Staatsmedien, die sich im Sommer erneut des Themas «Lernen von den Fehlern der Sowjetunion» angenommen haben.

Der Staats- und Parteichef Xi Jinping hatte das Schreckgespenst eines sowjetischen Endes der chinesischen Einparteiherrschaft selbst in die Diskussion eingebracht. In einer nie offiziell öffentlich gemachten Rede kurz nach seinem Amtsantritt hatte er Ende vergangenen Jahres vor einem Schicksal, wie es die sowjetischen Genossen erlebt hatten, gewarnt und zugleich an die Geschlossenheit und Tatkraft der KPC appelliert. Die Moskauer Parteifreunde seien nicht Manns genug gewesen, um den Zusammenbruch ihres Systems zu verhindern, bleute er seinen Zuhörern ein. Er will nicht als chinesischer Gorbatschew in die Geschichte eingehen.

Diese mit Verzögerung über informelle Kanäle verbreitete Rede begrub eine Illusion, der zahlreiche westliche Beobachter nachgehangen waren. In den Wochen vor dem 18. Parteitag der KPC im vergangenen November hatte in China und ausserhalb die Diskussion über die Notwendigkeit politischer Reformen im Mittelpunkt gestanden. Über die Ära Hu Jintao und Wen Jiabao urteilten auch chinesische Kommentatoren, es sei eine Dekade der Stagnation und der verpassten Reformschritte gewesen. In die künftige Parteiführung um Xi Jinping und Li Keqiang wurde die Hoffnung auf eine politische Öffnung projiziert. Allein mit wirtschaftlichen Reformen sei China nicht mehr voranzubringen. Xi Jinping als chinesischer Michail Gorbatschew - das klang in den Ohren aussenstehender Interpreten der chinesischen Politik verheissungsvoll.

Xi Jinping hat einen anderen Weg gewählt. Von politischen Reformen ist derzeit nicht die Rede, von Status quo und Stagnation aber auch nicht. Xi geht es um die Erneuerung und Festigung des herrschenden Systems. Lange war in China nicht mehr so viel von der Notwendigkeit gesprochen worden, Marxismus zu studieren und sich Mao Zedong zu Herzen zu nehmen. Xi bediene sich genauso der maoistischen Grundlagen, wie das der gestürzte Funktionär Bo Xilai in Chongqing getan habe, heisst es. Doch Bo trat als ein populistischer Anführer mit manipulativen Mitteln vor die Massen. Xi ruft nicht das Volk in Stadien zusammen und zwingt es nicht zu Massenveranstaltungen, sondern will die Partei von oben «reinigen». Die Parteielite, die sich durch Verschwendung und Bereicherung vom Volk abgehoben hat, soll sich auf wahre Werte besinnen. Deshalb die Kampagne für frugalen Lebensstil - «vier Gerichte und eine Suppe» statt auserlesener Speisen bei Banketten -, deshalb die Anti-Korruptions-Rhetorik - «Tiger» und «Fliegen» sollen gleichermassen bestraft werden.

Verfassungsdebatte abgewürgt

Der ideologische Hintergrund dieser in traditionell kommunistischem Sinne gestalteten Kampagne ist dennoch unverkennbar. In Xibaipo, dem letzten Rückzugs- und Kommandoposten der Kommunisten vor der Machtübernahme 1949, mahnte Xi die Parteimitglieder zur Rückbesinnung auf maoistische Ideale als «beste Nahrung» für einen bescheidenen «Arbeitsstil». Dieser umfasst politische Loyalität, Integrität und Kompetenz der Funktionäre. An diese ist auch eine zentrale Kampagne Xis gerichtet, die sich ebenfalls an Maos Vorbild orientiert: der Gang ins Volk. Mit dem Aufruf zu Bescheidenheit ist das eng verknüpft, denn es soll die durch abgehobenes Verhalten und korrupte Praktiken entfremdeten Parteifunktionäre zurück zu den Massen bringen. Ein Jahr lang sind die Genossen gehalten, sich der Selbstkritik - ebenfalls ein Instrument aus der ideologischen Mottenkiste - zu widmen.

Xi nimmt die Armee nicht davon aus. Im Unterschied zu seinem in den Streitkräften wenig ernst genommenen Vorgänger Hu bezieht er sie in seine Anstrengungen zum Machterhalt ein und gibt ihnen gar ein neues Gewicht. Die Ideologie-Offensive ist widersprüchlich. Der Aufruf zur ideologischen Geschlossenheit, zum Marxismus-Studium - unter anderem für alle Journalisten - und zur Stärkung des Primats der Partei im Staat dient auch der Gleichschaltung. Es ist der Versuch eines Gegenprogramms zu Gorbatschews «Glasnost». In der Bevölkerung haben sich in den vergangenen dreissig Jahren die ideologischen Positionen jedoch diversifiziert. Bestes Beispiel dafür ist die Möglichkeit, im Internet die Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit auszuloten. Heerscharen von Zensoren sind am Werk, aber es dringt, manchmal nur für wenige Stunden, auch Unerwartetes an die Oberfläche. Die Propagandisten der Partei bezeichnen solches als «Gerüchte» und haben jüngst das Vorgehen gegen Internet-Kommentatoren verschärft. Ideologische Verengung und die Notwendigkeit, durch Transparenz korruptes Verhalten aufzudecken, widersprechen sich. Neue Spannungsfelder tun sich auf.

Xi hatte einige der Geister, die seine Propagandisten mit Mühe in die Flasche zurückzustopfen versuchen, selbst geweckt. Die Staatsmacht müsse in den Käfig des Gesetzes gesperrt werden, sagte er kurz nach seiner Amtsübernahme. Demokratisch gesinnte Intellektuelle griffen das auf, um eine langjährige Forderung zu äussern: Die Verfassung soll den obersten Rechtsrahmen geben, auch für die Partei. Derzeit steht die Partei über allem, sie besitzt ihre eigene Verfassung und steht ausserhalb des staatlichen konstitutionellen Rahmens. Deshalb gibt es in China keine unabhängige Justiz und also keinen Rechtsstaat. Die Volksbefreiungsarmee ist der Partei, nicht dem Staat verpflichtet - was der Partei die Möglichkeit gibt, die Macht im äussersten Notfall auch gegen die eigenen Bürger und das Staatswesen zu verteidigen. Diskussionen darüber, das zu ändern, sind innerhalb der Partei unter Xi verstummt. Die als «Konstitutionalismus-Debatte» bezeichnete Diskussion haben die Staatsmedien im August als Angriff auf die Parteiherrschaft diffamiert.

Feindbild Westen

In diesen Kontext passt ein Papier des Büros des Zentralkomitees der KPC, das ebenfalls nicht für ein breiteres Publikum gedacht war, aber vor wenigen Wochen den Weg in die Medien fand. Das «Dokument Nummer 9» nennt Gefahren für die Macht der Partei, die sich in «falschen Formen des Denkens, der Haltungen und Handlungen» ausdrücken. Mit der Verbreitung der Ideen westlicher konstitutioneller Demokratie sieht der Leitfaden - nicht zu Unrecht - das gegenwärtige Herrschaftsmodell infrage gestellt. Überhaupt richtet sich das Dokument in erster Linie gegen «westliche Werte», als die es Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem, allgemeines Wahlrecht, unabhängige Justiz und eine dem Staat unterstellte Armee sieht. Die Logik ist nachvollziehbar: Allen diesen politischen Vorstellungen steht ein leninistisch organisiertes kommunistisches Regierungssystem («Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken») diametral entgegen. Bereits zuvor war es Universitätsdozenten untersagt worden, diese Themen im Unterricht anzusprechen.

Weil Xi die Reformen Gorbatschews als eine ideologische Verwässerung interpretiert und den Zusammenbruch der Sowjetunion als Folge einer nicht mehr standhaften kommunistischen Führung sieht, scheint für ihn ideologische Rückbesinnung die konsequente Antwort zu sein. Der Versuch, über die Stärkung der Parteiorganisation Antworten auf den Ruf nach politischer Reform zu finden, richtet sich vor allem an die Partei selbst. Der «chinesische Traum» von der Rückkehr Chinas als Grossmacht ist zu einem neuen Schlagwort der Propaganda geworden, seit Xi ihn kurz nach seiner Wahl zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei erstmals zum Thema gemacht hat. Der Begriff ist nicht neu, und er ist durch Xi bis anhin auch nicht eindeutig mit Inhalt gefüllt worden. In allen möglichen Zusammenhängen wird er nun aber von der Propaganda genutzt - wohl auch deshalb, weil er im Unterschied zu den technokratischen Slogans von Xis Vorgängern in der Bevölkerung rasch positive Assoziationen auslöst.

Die Sowjetunion ist nicht an zu wenig Ideologie zugrunde gegangen, sondern unter anderem an der Kluft zwischen ideologischem Anspruch und Realität. «Glasnost» hat diese Wirklichkeit noch offensichtlicher gemacht, als sie sich der Bevölkerung im Alltag ohnehin präsentierte. Die Wahrheit über Ereignisse wie Tschernobyl liess sich nicht länger verbergen und enthüllte die Unzulänglichkeit des Systems. Im Zeitalter der neuen Medien ist es erst recht illusorisch, eine ideologisch getrimmte Einheitsmeinung durchzusetzen. Auch die Abgrenzung vom «westlichen Denken» ist angesichts des in vielerlei Hinsicht an der amerikanischen Gesellschaft orientierten China von heute realitätsfremd. Der sozialistische Anspruch ist zwar noch in den Köpfen der Chinesen. Der Kontrast zur Wirklichkeit ist aber so gross, dass das Festklammern an der Ideologie schon lange anachronistisch ist.

Trotz zunehmenden Protesten gegen Willkür und die Missachtung von Bürgerrechten gibt es keine ernstzunehmenden politischen Gruppierungen im Land, die der KPC die Herrschaft derzeit streitig machen könnten. Doch innerhalb des herrschenden Rahmens stossen sich jene, die in den vergangenen Jahrzehnten zu Wohlstand gekommen sind, öfter an Bevormundung, Rechtsunsicherheit und fehlenden Einflussmöglichkeiten. Sie haben die Hoffnungen auf einen «chinesischen Gorbatschew», auf Perestroika und Glasnost in China, genährt. Xi hat sich für eine Re-Ideologisierung entschieden. Die gesellschaftlichen und politischen Realitäten kann er damit jedoch nicht ausblenden. Auch eine Rückbesinnung auf «rote Werte» ist ein politisches Risiko.

Dienstag, 24. September 2013

Vater der wichtigsten Dinge.

aus scinexx

Krieg als Triebkraft der Kulturen?
Modell simuliert Entwicklung der großen Zivilisationen und enthüllt ihre Triebkräfte

Was treibt die Entwicklung von Kulturen an? Was bringt zerstreute Gruppen von Menschen dazu, Reiche und Imperien zu erschaffen? Diese Frage beschäftigt Geschichtsforscher schon seit Jahrhunderten. Jetzt hat ein internationales Forscherteam die Sache erstmals mit Hilfe einer Modellsimulation ergründet. Ihr ernüchterndes Ergebnis: Die Haupttriebkraft für komplexe Gesellschaften ist der Krieg und die Ausbreitung von immer effektiveren Waffentechniken, so die Forscher im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences".

Ob Ägypten, die Sumerer oder die Maya - immer wieder in der Geschichte haben sich in verschiedensten Regionen der Erde komplexe Hochkulturen gebildet, entstanden ausgedehnte Reiche und Herrschaftsgebiete. Sie alle entstanden irgendwann aus kleinen Gruppen von Bauern und Handwerkern, einige aus sesshaften Vorgängern, andere aus nomadischen Wurzeln. Aber was war der Zündfunke? Was brachte diese Menschen dazu, sich zu größeren, anonymen und komplexen Gesellschaften zusammenzuschließen? Und warum entstanden die großen Reiche zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten?

Simulation bildet Geschichte verblüffend gut ab

Peter Turchin von der University of Connecticut in Storrs und seine Kollegen haben diese Frage nun genauer untersucht - mit Hilfe eines Computermodells. In diesem simulierten sie, wo auf der Eurasisch-Afrikanische Landmasse zwischen 1500 vor und 1500 nach Christus Imperien entstanden. Als Einflussfaktoren wurden Eigenschaften der Lebensräume erfasst, wie beispielsweise, ob es sich um Steppenlandschaften, Grünland oder Bergland handelte und außerdem, wie die Ausgangskulturen beschaffen waren, beispielsweise inwieweit sich bereits Landwirtschaft entwickelt hatte. Die Forscher erfassten aber auch die Entwicklung und Ausbreitung technischer Innovationen und Kriegstechniken und den Einfluss von Kooperation und Konkurrenz.

Das Ergebnis: Die Simulationen erwiesen sich als erstaunlich treffsicher. Obwohl sie nur auf Umweltdaten, Modellen und Gesetzmäßigkeiten beruhten, bildeten sie die tatsächliche historische Entwicklung relativ genau ab. Auch in der Simulation entstanden die ersten Reiche am Nil, in Mesopotamien und in China, dann folgte der Mittelmeerraum und die Indusregion.

Krieg und Kriegstechniken als Triebkraft für Kulturen

Und noch etwas demonstrierte die Simulation: "Die zentrale Annahme des von uns getesteten Modell war, dass kostspielige Institutionen, die große Gruppen funktionieren lassen, beispielsweise Verwaltung und Herrscher, sich als Folge intensiver Konkurrenz zwischen Gesellschaften entwickelten - durch Krieg", erklären die Forscher. Der Zwang, sich gegen andere verteidigen zu müssen, sei es, der die vielen kleineren Gruppen und Siedlungen dazu motivierte, sich zusammenzuschließen und ein übergeordnetes Staatsgebilde zu gründen, so die These von Turchin und seinen Kollegen.

Entwicklung von Zivilisationen von 1500 vor bis 1500 nach Christus. Links die reale Geschichte, rechts die Simulation.

Und tatsächlich erwiesen sich der Krieg und die Ausbreitung von Kriegstechniken im Modell als einer der wichtigsten treibenden Faktoren für die Bildung neuer Reiche. Ließen sie eine Simulation laufen, in der der Effekt der sich ausbreitenden militärischen Technologien herausgelassen wurde, sank die Ähnlichkeit mit der realen Geschichte drastisch: Statt zwei Dritteln Übereinstimmung waren es nur noch 16 Prozent.

Zwang zu übergeordneten Institutionen und Normen

"Wir argumentieren, dass die Entwicklung und Ausbreitung von Technologien, die intensivere Formen des Krieges ermöglichten, ihrerseits die Gesellschaften dazu zwangen, sich Normen und Institutionen zu geben, die die Kooperation in großen Gruppen möglich machten und regelten", konstatieren die Forscher. So wurde der Kampf innerhalb der entstehenden Staatengebilde verhindert, dafür aber kämpfte man nun mit den Nachbarn.

"Das spannende* an dieser Forschung ist es, dass wir damit allgemeine historischen Muster erstmals auch mit quantitativer Genauigkeit beschreiben können", so Turchin und seine Kollegen. "Solche historischen Entwicklungen zu verstehen hilft uns dabei, die Gegenwart und auch die Zukunft besser verstehen und vorhersagen zu können." (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2013; doi: 10.1073/pnas.1308825110)

(National Institute for Mathematical and Biological Synthesis (NIMBioS), 24.09.2013 - NPO)


*) (Ich frage mich, wie er das auf English ausgedrückt hat; the most spanning vielleicht? J.E.

Sonntag, 22. September 2013

Ausgewuppt.


Das Desaster ist schlimmer als befürchtet. 

Wenn schon keiner mehr weiß, wozu sie gut sein mögen - in den Bundestag wollte die Piratenpartei doch. "Wenn wir eins können, dann Wahlkampf!" Das würden sie schon wuppen, meinte ihre neue Frontfrau auf ihrem letzten (?!) Parteitag.

Ein Parteitag nur für das politische Programm sollte es sein: Darum gab es im Vorfeld heftige Auseinandersetzun- gen, bei denen nebenher ihr personeller SuperGAU gleich miterledigt wurde. Und dann haben sie ihr Wunsch- listenprogramm für jedermann rasch durchgewunken und sich gleich wieder mit dem beschäftigt, was ihnen am nächsten liegt: mit sich selbst.

Schade ist es nicht um die Piratenpartei.
 

Schade ist es jedoch, jammerschade, um die einmalige historische Gelegenheit, die sie sehenden Auges verschludert haben. Das mit dem Abkommen von Jalta und der folgenden Aufteilung der Welt in zwei Blöcke entstandene Parteiensystem in Deutschland ist seit einem Vierteljahrhundert obsolet, jeder spürte es, aber woher sollte ein Neuanfang kommen? Ach, und da war er: Die vor unsern Augen sich vollziehende digitale Revolution wird die menschliche Zivilisation umkrempeln wie zuletzt die Neolithische Revolution mit ihrem Übergang zu Ackerbau und Sesshaftigkeit, und da war eine Partei, die eben dies zu ihrem Kernthema machen wollte!

Aber ach, wenn sie digitale Revolution sagten, meinten sie gerademal deren Benutzeroberfläche - das Internet. Das ist es, wo sie sich physisch wie mental vierundzwanzig Stunden am Tag aufhalten, und alles andere juckt sie nicht. Sondern kitzelt allenfalls ein bisschen, und wie um sich zu kratzen stellen sie, wenn es sich ergibt, tagespolitische Forderungen. Ja doch, bedingungsloses Grundeinkommen - "das wird man ja wohl noch sagen dürfen!" Oder Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Auch Knallkörper in Fußballstadien, und natürlich eine pragmatische Drogenpolitik; was eben so durchgewunken wird auf Parteitagen, die sich mit Statuten und Verfahrensfragen beschäftigen.

Dringend waren sie erwartet worden und wurden lebhaft begrüßt. Nichts stand ihnen im Weg außer ihnen selbst. Denkfaul sind sie und selbstgefällig, und während die Grünen bessere Mensch waren, weil sie Körner fraßen, Fahrrad fuhren und aus Naturwolle Pullover strickten, sind die Nerds die gesellschaftliche Avantgarde und Speerspitze des technischen Fortschritts, weil sie mit ihren Rechnern schlafen. Sie kennen kein Problem, das sich mit der richtigen Software nicht lösen ließe, und verschmähen jeden Gedanken, der länger ist als hundertvierzig Zeichen.

Unter sich wollten sie sein und so bleiben, wie sie sind.

Das wird ihnen nun keiner mehr streitig machen wollen, ich auch nicht.


Samstag, 21. September 2013

Was zur Wahl steht.

 knipseline, pixelio.de

Alles drängt zur Mitte. Dort werden deutsche Wahlen nun einmal entschieden. Es geht allenfalls um Nuancen und ein paar verbale Köder für die eigene Klientel, die zu Haus zu bleiben droht.  

Gibt es gar keine Probleme, die nach Richtungsentscheidungen drängen?

Rechtzeitig zur Wahl wird in der Öffentlichkeit ein Thema angesprochen, an dem ein solches Problem aufscheint, man muss n8ur genauer hinsehen. Passend zu dem unlängst kolportierten Fall eines deutschen Kindes der Generation Praktikum, das sich in London bei einer amerikanische Bank für lau zu Tode gearbeitet hat, kommt die Rede auf die Erosion der Mittelschicht - aber ohne dass da ein Zusammenhang bemerkt würde. Weil der Kausalnexus  nicht erkannt wird.
 

Das wahre Problem der mittleren Schichten in unserer Gesellschaft heißt digitale Revolution. Die klassische Mittelschicht der kleinen Bürger, der Handwerker und Einzelhändler mit etwas eigenem Kapital, ist seit den fünfziger Jahren rapide geschrumpft, aber gerade ihnen bietet die digitale Revolution mit ihrer umfassenden Erübrigung menschlicher Arbeitskraft eine neue Aussicht. Der eigentliche Leidtragende der Digitalisierung dürfte eher das - inzwischen nicht mehr ganz zu Recht so genannte - Bildungsbürgertum sein. 
 
Nicht die Arbeiterschaft wohlbemerkt: Die wird restlos überflüssig. Wer nicht den zweifelhaften Aufstieg in die neuen Formen der Scheinselbständigkeit, ins Neue  Prekariat der digitalen Dienstleistungen schafft, wird gar keine (entlohnte) Arbeit mehr finden. Sie werden zu einem Proletariat wie im alten Rom, vom Staat mit Brot und Spielen ausgehalten und allenfalls, aber nicht zu sehr, zum Zeugen von Nachwuchs brauchbar.
 
Da werden sie sich mit einer großen - der größeren? - Zahl der bisherigen Bildungsbürger treffen. Der Staatsdienst, dessen Tätigkeit, wenn man sie so nennen will, im Verwalten, im bloßen Vermitteln  besteht, wird durch die Rechner ersetzt werden, so wie die Arbeiter durch die robotisierten Maschinen. Noch überflüssiger dürften die Leitenden Beamten werden, die einstweilen noch zwischen den nachdeordneten Vermittlern vermitteln, aber deren Widerstandskaft ist erheblich und reicht ganz weit bis in die Parlamente. Die werden sich in ihren Türmen einmauern, aber unter ihnen wirds ein Hauen und Stechen geben (während man sich bislang mit Tritten gegens Schienbein begnügte).
 
Und die Bildungsbürger im engeren Sinn, die Akademiker? Die werden zur Sauce bolognaise eingekocht, weiterhin ganz gut besoldet zwar, aber in feudale Botmäßigkeit gezwängt, die umso schwerer drückt, als sie anonym und gesichtslos ist. Sie werden die karrierebeflissensten, anpassungsbereitesten und subalternsten Elemente aus den anderen, digital freigesetzen Berufsgruppen aufnehmen müssen, welch ein Gräuel!
 
Die digitale Revolution, die im Prinzip das Gros der Gesellschaft von der Arbeit für fremdbestimmte Zwecke entlasten und für zweckfreie Tätigkeiten um der bloßen Schönheit willen freisetzen könnte, beschwört die Horrovision einer Totalen Bürokratie in einer Brave New World herauf.
 
Natürlich muss es nicht so kommen, dafür sind die Zeichen schon viel zu sichtbar. Und es gab auch schon eine Partei, die die digitale Revolution zu ihrem Kernthema erklärt hat. Und die sogar schon die richtige Fährte aufgenommen hat, in welcher Richtung die Lösung zu suchen ist. Aber hat nichts draus gemacht. Soll man ihr noch eine Chance geben? An diesem Sonntag können Sie darüber abstimmen.  


Gedrängel in der Mitte.

aus NZZ, 21. 9. 2013                                                                                             nach Wolfgang, pixelio.de

Die deutsche Biedermeierstube
 

Deutschland geht es so gut, dass die Parteien im Wahlkampf Mühe hatten, Themen zu finden, über die es sich zu streiten lohnt. Die Kehrseite von so viel Konsens ist intellektuelle Trägheit.  

Von Eric Gujer 

Jeder Wahlkampf ist eine Reise durch die geistige Landschaft eines Landes. Nach den Strapazen der Wiedervereinigung, der Aufregung um Schröders Agenda 2010 und der Euro-Krise richten sich die Deutschen in einer mentalen Biedermeierstube ein - froh, nur über das Aufregerthema Veggie-Day, die Forderung nach einem fleischlosen Tag in Kantinen, nachdenken zu müssen und nicht über den Zustand der Welt. So viel genügsame Harmonie hat allerdings ihren Preis. Der Bundestagswahlkampf sei sterbenslangweilig, monierten Beobachter. Tatsächlich taten sich die Parteien schwer, kontrovers zu diskutieren, zu ähnlich waren die meisten Positionen. Die Sozialdemokraten unternahmen zwar einmal den müden Versuch, eine Auseinandersetzung zu inszenieren. Sie warfen Kanzlerin Merkel vor, sie habe die SPD beleidigt, indem sie der Partei Unzuverlässigkeit unterstellte. Doch ausser den Berufsempörten mochte sich niemand so richtig über Merkels Sünde aufregen, und bald kehrte wieder Ruhe ein in deutschen Gefilden. Die Entspanntheit ist zunächst ein gutes Zeichen, denn der Hauptzweck eines Wahlkampfes besteht nicht darin, den Wähler mit einer Unterhaltungsshow im Stil von «Wetten, dass . . .?» und «Wünsch Dir was» die Zeit zu vertreiben.

Blackout-Politik

Die Absenz grosser Reizthemen ist ein Indikator dafür, dass es der Bundesrepublik gutgeht. Die Wirtschaft wächst moderat, die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor tief. Im Vergleich zu anderen EU-Staaten steht das Land prächtig da. Auch die Regierung gibt den Wählern Anlass zur Zufriedenheit. Wechselstimmung herrscht nicht, Angela Merkel hat gute Chancen, ihren Arbeitsplatz im Kanzleramt zu behalten, ob mit der FDP oder einer anderen Koalition ist für sie einerlei. In vielen EU-Staaten, in denen seit Ausbruch der Euro-Krise gewählt wurde, gaben die Bürger ihren Regierungen den Laufpass. Und diejenigen, die seither ins Amt gelangten, kämpfen mit Problemen. Präsident Hollande schneidet in Umfragen nicht nur wegen seiner Wirtschaftspolitik schlecht ab. Premierminister Cameron versagten die eigenen Abgeordneten die Gefolgschaft in einer Syrien-Abstimmung. Seine Europapolitik, ein Referendum über einen Austritt abzuhalten, um den Verbleib des Landes in der EU zu sichern, ist ein Hochseilakt. In zwei wichtigen EU-Ländern sind die Regierungen geschwächt. Auch hier kann Deutschland zur Ausnahme werden. Bleibt Merkel Regierungschefin, gewinnt sie in Brüssel weiter an Statur. Deutschlands Gewicht wird nochmals wachsen.

Während die Kanzlerin auf der europäischen Bühne überlebensgross präsent ist, machte sie sich und ihre Partei in der Innenpolitik fast unsichtbar. Merkel gab im Lauf ihrer Amtszeit die meisten ihrer Positionen auf, mit denen sie einmal angetreten war. Von ihrem Plädoyer für mutige Wirtschaftsreformen blieb so wenig übrig wie von ihrem Bekenntnis zur Atomkraft. Stattdessen stürzte sie sich kopfüber in die Energiewende, die Reaktoren schneller stilllegt, als das notorische Atomgegner je gewagt hätten. Merkel korrigierte auch nie die Förderung der erneuerbaren Energien, weshalb die Stromrechnung für Privathaushalte in 15 Jahren um 70 Prozent stieg. Die Subventionen bringen den Strommarkt so durcheinander, dass die Energiekonzerne unrentable, aber für die Versorgungssicherheit notwendige Kohlekraftwerke abschalten wollen. Der drohende Blackout ist das Symbol einer Konsenspolitik, der alle zustimmen. Obwohl die Konsequenzen der Energiewende für ein Industrieland gravierend sind, werden sie im Bundestag kaum erörtert. Schliesslich haben SPD und Grüne den ökologischen Voodoo-Zauber einst erfunden, weshalb sie heute allenfalls an Details herummäkeln. Eine ernsthafte Debatte findet nur ausserhalb des Parlaments statt.

Ob Euro-Rettung, Familienpolitik oder die Haltung zu Militäreinsätzen im Ausland: Stets herrscht zwischen den Lagern im Bundestag ein unausgesprochenes Einverständnis. Die Kehrseite ist allerdings intellektuelle Trägheit, um Alternativen wird kaum gerungen. Die grosse Koalition ist daher der heimliche Favorit von Regierenden wie Regierten, auch diesmal ist sie neben der Fortsetzung von Schwarz-Gelb die wahrscheinlichste Variante. Angepriesen wird sie als ganz grosse Lösung für ganz schwierige Fragen, doch in Wirklichkeit ist sie vor allem für deren Protagonisten vorteilhaft. Die Opposition spielt nur eine untergeordnete Rolle, so lässt sich bequem regieren. Der Kerngedanke der Demokratie, der Wettbewerb der Ideen, verliert an Bedeutung. An die Stelle der inhaltlichen Auseinandersetzung tritt das bürokratische Verfahren, das routinierte Aushandeln von Kompromissen. Die Politikverdrossenheit, ohnehin der Deutschen politische Lieblingsvokabel, nimmt so weiter zu. Nicht von ungefähr rätseln alle Beobachter, ob eine Protestpartei - die Alternative für Deutschland - bereits wenige Monate nach ihrer Gründung den Sprung ins Parlament schafft.

Staatsgläubigkeit und Menschheitsbeglückung

Trotz der programmatischen Nähe der etablierten Parteien liegen CDU und CSU in Umfragen weit vorn. Sie verdanken dies ihrer Spitzenkandidatin, die gänzlich die Maxime verinnerlicht hat, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden. Angela Merkel handelt wie eine sozialdemokratische Kanzlerin, propagiert aber Umverteilung und Staatsgläubigkeit nicht so penetrant wie die Konkurrenz. Ein Veggie-Day käme ihr im Gegensatz zu den grünen Weltverbesserern nie in den Sinn. Sie weiss auch, dass es für Bürger und Unternehmen eine Grenze der Belastbarkeit gibt. Zwar zog auch Merkel schon einmal mit der Forderung nach Steuererhöhungen in einen Wahlkampf, aber mit erkennbar schlechtem Gewissen. Dass hingegen die SPD ausgerechnet in Zeiten rekordhoher Staatseinnahmen zusätzliche Steuern geradezu für das Menschenrecht eines jedes Finanzministers hält, bringt nicht nur die gern geschmähten Besserverdiener ins Grübeln. Die Sozialdemokraten geben sich als prononciert linke Partei, um Stammwähler zu mobilisieren. Gleichzeitig schliessen sie ein Bündnis unter Einschluss der Linkspartei aus. Da es für eine rot-grüne Koalition nicht reicht, verbaut sich die SPD damit die Aussicht auf eine Regierungsmehrheit und findet allenfalls als Juniorpartnerin Platz am Kabinettstisch.

Die Schwäche der Opposition, Merkels Wendigkeit und der Popularitätsvorsprung gegenüber ihrem Herausforderer sind die Faktoren, die der Union abermals die Macht sichern dürften. In einem anderen Land mit mehr Sorgen und einem raueren politischen Klima wäre dies eine zu bescheidene Bilanz, um dem Wahlabend gelassen entgegenzublicken. In der Wohlfühl-Republik Deutschland jedoch kann es genügen.


Nota.

Warum ist das so? Weil alle um dieselbe Wählerschaft buhlen. "Deutsche Wahlen werden in der Mitte entschieden", heißt der Glaubenssatz. Aber er ist kurzsichtig, denn 'die Mitte' schrumpft und zersetzt sich dabei.
J.E.

Freitag, 20. September 2013

Das war die Epoche der Weltrevolution.


"Revolution ist heute ein seltsam farbloser Begriff geworden. Die Emphase, mit der dieser Begriff einmal verbunden war, ist verschwunden. Die Revolution steht nicht mehr auf der Tagesordnung - weder in der Theorie noch in der Politik noch in der Kunst." So sprach Konrad Paul Liessmann auf dem NZZ-Podium Revolution während des diesjährigen Lucerne-Festivals, und  illustrierte gleich, wie das kam - durch inflationären, konturlosen Gebrauch des Wortes, das längst aufgehört hat, ein Begriff zu sein.

Unter Revolutionen verstand das 18. Jahrhundert vornehmlich die Umdrehungen der Gestirne, bis das Wort 1789 eine politisch-weltanschauliche Bedeutung annahm, die ihm zwei Jahrhunderte lang erhalten blieb, und von ihr konnte man nicht nüchtern abwägend sprechen, sondern nur mit Leidenschaft. Das ist vorbei, Liessmann beweist es.

Zunächst hatte das Wort noch einen guten Klang; nicht bei den Vertretern des Ancien Régime, aber wohl in den Ohren der aufstrebenden neuen herrschenden Klasse, der Bourgeoisie. Doch damit war schlagartig Schluss am Tag der Pariser Juniinsurrektion 1848. Von nun an kam die Revolution nur noch als die soziale, die rote in Frage. Als proletarische Weltrevolution, wie es im Kommunistischen Manifest hieß. Sie warf ihren Schatten auf alles, was seither auf Erden geschah. Und alle revolutionären Nebenströmungen in Kunst, Wissenschaft, Architektur und Lebensführung verdankten ihr Für und Wider ihrer jeweiligen Stellung zu ihr. Wo nicht seit der Pariser Commune, so spätestens seit dem Oktober 1917.

Das frühe zwanzigste Jahrhundert war die Epoche der Weltrevolution. Der Kriegsausbruch 1914 formalisierte nur, was sich seit 1905 angebahnt hatte: Der Weltmarkt, der unter britischer Hegemonie entstanden war, geriet aus dem Gleichgewicht. Ob der Neuankömmling Deutschland nun den ersten Schuss abgab oder nicht - er war der Störenfried, er war schuld an der Existenzkrise. 

Wäre die Weltrevolution möglich gewesen? Das ist eine Frage, die aus dem Begriffsistrumentarium der Marx'schen Theorie stammt, und nur in ihrem Rahmen ist sie diskutierbar. Wer das anders sieht, sollte nicht weiterlesen.

Die Geschichte ist keine nomothetische, keine Gesetzeswissenschaft. Wer sollte da Gesetze erlassen haben? Kein intelligenter Designer hat für uns ein Stufenmodell entworfen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Die Menschen machen ihre Geschichte wenn schon nicht unter frei gewählten Voraussetzungen, so doch letzten Endes selbst. Dass etwas nicht geworden ist, beweist nicht, dass es nicht werden konnte. Möglich, notwendig und unmöglich sind keine Kategorien der Wirklichkeit, sondern der reflektierenden Logik. In der Wirklichkeit kommt es auf den Versuch an.

Ist der Versuch gemacht worden? Im Oktober 1917 in Russland, im Januar 1919 in Deutschland und dann in den folgenden Monaten und Jahren immer wieder mal hier mal da. Denn der Krieg hatte ein neues Gleichgewicht auf dem Weltmarkt nicht geschaffen. Deutschland lag darnieder, aber England war den Amerikanern in die Schulden- falle gelaufen, Geld musste her. Aus dem ausgebluteten Deutschland? Darauf konnte ein neues Gleichgewicht nicht gegründet werden, und am Pazifik zeichnete sich schon der Konflikt zwischen dem japanische Tigerstaat und den Vereinigten Staaten ab. Nicht zu reden von der unaufhaltsamen Revolution in den Kolonien...

Mindestens vom Anfang des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war die Revolution aktuell. Den Auftakt zum Zweiten gab die Revolution in Spanien, und wem bis dahin die stalinistische Leitung der Kommunistischen Internationale lediglich als ein Bremsklotz und Hindernis der Revolution vorkam, musste nun zusehen, wie sie zur aktiven Vorhut der Konterrevolution geworden war. "Die Sowjet- bürokratie ist endgültig ins Lager der Konterrevolution übergelaufen", hatte Trotzki vorhergesagt.

Und nach dem Zweiten Weltkrieg? Ja, wann war er eigentlich zu Ende? War der Korea-Krieg nur ein Nachwehen des Zweiten oder schon der Vorläufer des Dritten Weltkriegs? War ein neues Gleichgewicht auf dem Weltmarkt geschaffen? Osteuropa war herausgefallen und auch das riesige China, in den Kolonien nahm die Unruhe noch zu, und Europa lag in Trümmern.

Es war gerade das Ungleichgewicht auf dem Weltmarkt und die unermesslichen Kriegsschäden, die den langan- haltenden Boom im Westen möglich machten; und den unvorhergesehenen Wiederaufstieg Westdeutschlands, den der neue Hegemon Amerika nie geduldet, geschweige denn gefördert hätte ohne den inzwischen eingetretenen Kalten Krieg! Der Kalte Krieg war der Garant des internationalen Status quo, der die Wiederherstellung des Weltmarkts überhaupt erst möglich gemacht hat, und die Amerikaner respektierten ihn gewissenhaft, wie im Juni 1953, im Oktober 1956 und noch im August 1968 augenfällig wurde. Nur Chruschtschows Abenteuer in Kuba war ein Ausreißer, und er hat es nicht lange überlebt.

Welchen Sinn hätte es, darüber zu streiten, an welchem Tag die Epoche der Weltrevolution abgeschlossen wurde? Zur Jahreswende 1989/90 war sie es gewiss. Hat sie im Mai 1968 oder während der Nelkenrevolution in Portugal 1974 nochmal kurz ein Chance gehabt? 

Das hätte man damals theoretisch diskutieren können, aber nur, um es praktisch zu erproben. Da es heute nichts mehr praktisch zu erproben gibt, ist auch für theoretische Retroflexion kein Anlass. Umso weniger, als im Verlauf der digitalen Revolution sich das Proletariat rein physisch auflösen wird, nachdem die Arbeiterbewegung politisch längst im Reich der Schatten versunken ist.

Mit der Folge, dass beim Wort Revolution keiner mehr eine Gänsehaut kriegt und sein Bedeutungsfeld bis ins Reich der Nachtwäsche ausgeweitet werden kann.


Donnerstag, 19. September 2013

Das IPCC korrigiert sich.

aus Die Presse, Wien, 19. 9. 2013


Globale Erwärmung

Viel heiße Luft wird abgelassen 

Kurz vor der Veröffentlichung seines nächsten Sachstandsberichts rudert der UN-Klimabeirat IPCC zurück und revidiert die Grundannahme, auf der die gesamten bisherigen Szenarien der Erderwärmung aufgebaut waren.

von JÜRGEN LANGENBACH
 
Auch beim Klimawandel wird nicht so heiß gegessen, wie gekocht wird, das zeigt sich etwa beim Blick von Nasa-Satelliten auf das Eis der Arktis: Vor einem Jahr war die eisbedeckte Fläche dort so klein wie nie, nämlich 3,41 Millionen Quadratkilometer. Klimabesorgte fürchteten das Ärgste, Klimagewinnler machten Schiffe flott, auf dass sie Amerika, Europa und Asien auf den kurzen Wegen durch die Arktis verbinden, statt die weiten um Afrika herum oder durch den Suezkanal nehmen zu müssen.

Aber die Wege blieben zu: Schiffe froren ein oder mussten umdrehen. Das arktische Eis hat sich gegen alle Erwartungen nicht weiter ausgedünnt, ganz im Gegenteil: Am 21. August bedeckte es 5,12 Millionen Quadratkilometer, über die Hälfte mehr als im Vorjahr.

Das will nicht viel besagen, im Vorjahr kamen zur Erwärmung üble Winde hinzu, heuer blieben sie aus, und Schwankungen von Jahr zu Jahr in einer Region der Erde erlauben kein Urteil darüber, wie es weitergeht mit der globalen Erwärmung. Und ob es überhaupt weitergeht mit ihr: Seit 15 Jahren steht sie still, die offizielle Klimaforschung – die des UN-Klimabeirats IPCC (Intergovernmental Panel On Climate Change) – hat es lange ignoriert, nun nimmt sie es zur Kenntnis.

Das ist einer der Punkte, der nach dem Ritual bekannt wurde, das alle fünf, sechs Jahre die Welt in Erwärmungsatem hält: Dann publiziert das IPCC seine Sachstandsberichte, hunderte Seiten Wissenschaft. Und dann publiziert das IPCC auch das Entscheidende: Eine 31-seitige Zusammenfassung für die politischen Entscheider. Publiziert wird nächste Woche in Stockholm, aber, auch das gehört zum Ritual: Entwürfe des Kerndokuments gelangen im Vorfeld an die Öffentlichkeit.

Was diesmal durchdrang, hat es in sich: Da wird die Erwärmungspause bestätigt (Erklärung gibt es nicht); da wird konzediert, dass es im Mittelalter warm war wie heute (bei viel weniger CO2); unerwähnt hingegen bleiben die Hurrikans, die im letzten Bericht noch viel Raum einnahmen (die heurige Saison ist noch nicht vorbei, bisher war sie eine der schwächsten).

Aber all das sind Peanuts: In der Hauptsache wird das Fundament des ganzen Klimawandelgebäudes umgebaut. Das heißt equilibrium climate sensitivity (ECS), es gibt an, um wie viel die Temperaturen sich erhöhen, wenn die CO2-Gehalte der Atmosphäre sich verdoppeln. Den Wert kennt niemand, man kann ihn auch nicht experimentell erheben, man kann ihn nur abschätzen, über Paläodaten etwa. So kursieren alle erdenklichen Vorschläge, von null Grad Celsius bis zehn Grad.

Prognosen lagen extrem falsch

Das IPCC legte sich im letzten Sachstandsbericht (2007) auf „über zwei Grad Celsius“ fest, die seien „likely“, aber am wahrscheinlichsten seien drei Grad. Nun wurde das „likely“ auf 1,5 Grad herabgestuft (und einen wahrscheinlichsten Wert gibt es nicht). Dieses halbe Grad ist viel, aber irgendwann muss das IPCC seine Prognosen den gemessenen Daten annähern. Denn den Prognosen wurde gerade ein übles Zeugnis ausgestellt: Von 117 standen nur drei halbwegs im Einklang mit der Erwärmung der letzten 20 Jahre. 114 waren falsch, und wie: Die gemessene Erwärmung war halb so hoch wie die prognostizierte: „Die gegenwärtige Generation von Klimamodellen reproduziert nicht die beobachtete Erwärmung der letzten 20 Jahre“, resümierten die Forscher um John Fyfe (Canadian Center for Climate Modelling), die den Befund erhoben (Nature Climate Change, 3.9.).

Ob die Selbstkorrektur des IPCC genügt, die von Fehlern und Skandalen zerrüttete Glaubwürdigkeit der Institution zu beleben, sei dahingestellt. Myles Allison (Oxford) etwa plädiert dafür, das IPCC (ein Mischwesen aus Wissenschaft, Behörde und Politik) möge sich stärker verwissenschaftlichen statt weiter „Dokumente fast biblischer Unfehlbarkeit“ produzieren zu wollen.


Mittwoch, 18. September 2013

Und alle wollen ihr Bestes.

aus Badische Zeitung, 18. 9. 2013                                                                       Rauf oder runter?

Ist die Mittelschicht so begehrt, dass sie zerrieben wird?  

Die gesellschaftliche Mitte – Mittelstand und Mittelschicht – fühlt sich bedroht. Hat sie in der Politik noch Verbündete? 

Eine Analyse von BZ-Redakteur Alexander Dick.  

Bezeichnenderweise war der Mann ein Epikureer: einer, der, wie es sein Vorbild Epikur lehrte, nach Glückseligkeit strebte – nach Vermeidung von Unlust und Gewinn von Lust. Und so suchte der römische Philosoph Lukrez in seinem Hauptwerk "De rerum natura" (Über die Natur der Dinge") vor rund 2000 Jahren das Streben nach der Mitte als Fiktion, als "Wahn" zu enthüllen: "Doch selbst gäb’ es die Mitte, warum denn sollte man glauben,/ Dass nun grad’ in die Mitte sich irgendein Körperchen drängte." 

Phantom Mitte?

Sicher nicht. Doch lebte Lukrez heute, womöglich würde er seine Zweifel an der Mitte, freilich der gesellschaftlichen, umkehren. In der Form, dass sich nun grad’ in die Mitte ganz viele Körperchen drängten… Oder, wie es nicht wenige formulieren – diese bedrängen. Anders gesagt: Sie ist begehrt, die gesellschaftliche Mitte. Von allen Seiten. Denn noch immer weiß man, welches Gewicht hinter ihr steckt. Welche soziologische, wirtschaftliche, demokratietragende Potenz. Und sie ist bedroht, fühlt sich bedroht. Denn Potenz weckt Begehrlichkeiten, erst recht in Zeiten des Wahlkampfes.



Aber auch darüber hinaus. Denn wo viele kleine Vermögen zu finden sind und das Gros derer, die zum Bruttosozialprodukt beitragen, lässt sich immer noch etwas herauspressen. Vor allen Dingen leichter als bei jenen ganz Saturierten, deren Vermögen oft außer Reichweite für die Staatsmacht liegen. Was in der jüngeren Vergangenheit immer mehr Unmut und Widerstand geweckt hat. "Unten ist nichts mehr zu holen, und oben sind es wenige", umreißt der Journalist Marc Beise die These seines Buchs "Die Ausplünderung der Mittelschicht. Alternativen zur aktuellen Politik" (München 2009). "Also muss mal wieder die Mittelschicht ran. Unter den stetig wachsenden Belastungen wird sie immer mehr zerrieben." Ein Gefühl, das viele beschleicht, wenn sie auf die Abzüge auf ihren Gehaltszetteln blicken und gleichzeitig immer wieder hören müssen, was dem Staat die Rettung jener Banken wert ist – sein muss –, die auch mit den Vermögen aus der Mitte ihre Geschäfte mach(t)en.

Eine Zäsur tut not. 


Wenn hier pauschal von der Mitte die Rede ist, dann erstens, weil der Begriff etwas Diffuses meint, was sich schwer konkretisieren lässt. Die Abgrenzungen nach oben und unten sind äußerst fließend, fransen aus, eine Definition existiert nicht. Zweitens entsteht immer wieder Begriffsverwirrung um die Termini "Mittelstand" und "Mittelschicht". Nach heutigem Gebrauch meint der erste die Unternehmen und Handwerksbetriebe unterhalb der Großindustrie. Aber immer auch noch – soziologisch – das, was unter dem zweiten, jüngeren Begriff subsumiert ist: die Mittelschicht, jene Bevölkerungsgruppen, "die in der sozialen Schichtung der Gesellschaft eine Mittellage einnehmen", wie es ein Politiklexikon noch in den 1970ern formulierte. In jener Zeit also, die heute vielen als die Blütezeit von Mittelstand und Mittelschicht gilt. Weil sich die wirtschaftliche und soziale Lage auch bei Arbeitern und Angestellten dank gezielter Mittelstandspolitik so verbesserte, dass eine ideologische Begründung der einzelnen Positionen immer mehr obsolet wurde: Die angestrebte goldene Mitte zwischen Proletariat und den ganz Reichen war auch durch staatliche Unterstützung gefestigt, die Ränder schrumpften. Womit das alte Selbstverständnis des Mittelstandes von einer tragenden Rolle für das Gemeinwesen unterstrichen wurde: widergespiegelt in Ralf Dahrendorfs Schichtenmodell, der berühmten "Zwiebel", die mit ihrer gewaltigen Mitte und den beiden Spitzen oben und unten zum Sinnbild für den gesellschaftlichen Proporz der alten Bundesrepublik wurde.

Das ist fast 50 Jahre her. 


In der Zwischenzeit finanzierte die Mittelschicht einen nicht geringen Teil der Wiedervereinigung, überstand die Wirtschaftskrisen des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts ebenso wie die (notwendigen) Reformen der Agenda 2010 und sieht sich seither mit einer Finanzkrise konfrontiert, deren Kosten noch immer nicht abschätzbar sind, ebenso wenig wie die Konsequenzen für den gesellschaftlichen Wohlstand. Und obwohl dieser laut vielen Studien in weiten Teilen der Gesellschaft so groß ist wie noch nie in der Geschichte dieses Landes, bleibt dieses Unbehagen. "Sparen fürs Alter", schreibt Beise, "nachhaltig vorsorgen, uns und den Kindern etwas aufbauen – all das, was für Menschen wie uns einst normal war und die Gesellschaft stabilisierte, das können wir nicht mehr." Den gefühlten Schrumpfungsprozess unterstreichen Zahlen. Das mittlere Bruttovermögen im Land ist im vergangenen Jahr um ein Viertel eingebrochen, im internationalen Vergleich rangiert die deutsche Mittelschicht mit 42 000 Dollar pro Kopf nur noch auf Platz 23. Hinter Spanien, Italien, Frankreich. Zum Vergleich: Beim Klassenprimus Australien schlagen 193 000 Dollar zu Buche.

Den großen Parteien sollte das Unbehagen von Mittelstand und Mittelschicht selbst ein solches im Wahlkampf bereiten. Und tatsächlich machen sie der Mitte ihre Aufwartung, aber es wirkt oft genug seltsam indifferent, hilflos. Wenig überraschend konstatiert die SPD in ihrem Wahlprogramm die Krise der Mittelschicht als Konsequenz der immer weiter auseinander gehenden Schere zwischen Arm und Reich: "Nicht nur Besitz und Einkommen sind immer ungleicher verteilt, sondern auch Zugänge zu Bildung, Gesundheit, Mobilität und Kultur. Die Armut wächst ebenso wie der Reichtum – die Mittelschicht kommt unter Druck." Die CDU bekräftigt ebenso naturgemäß das Bekenntnis zu ihrer Klientel, zum Mittelstand als "Rückgrat unserer Wirtschaft und einer der Garanten für unseren Wohlstand". Und setzt auf ein Rezept, mit dem Schwarz-Gelb in dieser Legislaturperiode an der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat scheiterte: "Leistung muss sich lohnen. Wir wollen deshalb die Leistungsträger in der Mitte unserer Gesellschaft weiter entlasten. Dazu wollen wir die sogenannte kalte Progression abbauen." Also das Missverhältnis zwischen Preissteigerungen und Einkommenssteuersätzen. Die FDP fordert eine Steuerentlastung des Mittelstandes, Fernziel: Abschaffung der Gewerbesteuer.

In einer schwierigen Position befinden sich die Grünen, weil sich in ihrem Verhältnis zur Mittelschicht der alte Konflikt zwischen Fundis und Realos widerspiegelt. Für die einen ist der Bürger der aufgeblasene, feiste Bourgeois. Für die anderen der aufgeklärte Citoyen. Erwiesen ist, dass es ein bürgerliches Lager war, das der Partei zum Wahlsieg in Baden-Württemberg verhalf. Umstrittener dagegen ist die Frage, ob das Bürgertum zunehmend grün wird. Der Soziologe Manfred Güllner, Mitbegründer des Forsa-Meinungsforschungsinstituts, bestreitet dies nachvollziehbar und unterstellt den Medien, mit der "grünen Brille" zu agieren. Auffallend ist gleichwohl das Schielen in manchen Teilen der Partei in Richtung Mitte. Co-Spitzenkandidat Jürgen Trittin gab früh im Wahljahr die Devise aus, man wolle den Citoyen nicht allein dem konservativen Lager überlassen.

Das Schielen der Parteien in Richtung Mitte erfolgt also unter unterschiedlichen Vorzeichen. Und mit einer spürbaren Tendenz ins Unkonkrete. Offensichtlich lässt sich Mitte weit weniger klar umreißen wie noch vor wenigen Jahrzehnten– auch im Hinblick auf die politisch-soziale Gesinnung und die Bindungen an Parteien. Nicht selten formieren sich starke Protestbewegungen aus der Mitte heraus – nicht von unten: Zum Beispiel Stuttgart 21, Freie Wähler in Bayern, "Alternative für Deutschland", die indes am rechten Rand kontaminiert ist.

Es ist vor allem das Gespenst des Wutbürgers, das Politikern Sorgen bereitet. Da ist etwas unberechenbar geworden, was als Fundament eines funktionierenden Gemeinwesens galt. Was würde in Deutschland passieren, wenn die wirtschaftliche Situation sich jener in den südeuropäischen Staaten annäherte, Ländern, wo der Mittelstand weniger ausgeprägt, weniger mächtig ist? Neigt die Mitte hierzulande zur Explosion oder zur Implosion, wenn es um die Sicherung ihrer Existenz geht? Und was bedeutet das für die Zukunft des Bürgerstaats Deutschland, in dessen östlichem Teil schon mal vier Jahrzehnte konsequente Entmachtung des Bürgertums praktiziert wurde? Viele Fragen, Ängste. Sicher ist: Sie lassen sich nicht allein durch eine florierende Wirtschaft entkräften. Dazu bedarf es eines moralischen Unterbaus, der dem Gesellschaftsvertrag neuen Antrieb gibt. Wenn die Politik es zulässt, dass die Entwicklung immer mehr zu den Rändern strebt, wird sie eine andere Natur der Dinge in Kauf nehmen müssen. 



Nota.

Das wahre Problem der mittleren Schichten in unserer Gesellschaft heißt digitale Revolution. Die klassische Mittelschicht der kleinen Bürger, der Handwerker und Einzelhändler mit etwas eigenem Kapital, ist seit den fünfziger Jahren rapide geschrumpft, aber gerade ihnen bietet die digitale Revolution mit ihrer umfassenden Erübrigung menschlicher Arbeitskraft eine neue Aussicht. Der eigentliche Leidtragende der Digitalisierung dürfte eher das - inzwischen nicht mehr ganz zu Recht so genannte - Bildungsbürgertum sein. 

Nicht die Arbeiterschaft wohlbemerkt: Die wird restlos überflüssig. Wer nicht den zweifelhaften Aufstieg in die neuen Formen der Scheinselbständigkeit, ins Neue  Prekariat der digitalen Dienstleistungen schafft, wird gar keine (entlohnte) Arbeit mehr finden. Sie werden zu einem Proletariat wie im alten Rom, vom Staat mit Brot und Spielen ausgehalten und allenfalls, aber nicht zu sehr, zum Zeugen von Nachwuchs brauchbar.

Da werden sie sich mit einer großen - der größeren? - Zahl der bisherigen Bildungsbürger treffen. Der Staatsdienst, dessen Tätigkeit, wenn man sie so nennen will, im Verwalten, im bloßen Vermitteln  besteht, wird durch die Rechner ersetzt werden, so wie die Arbeiter durch die robotisierten Maschinen. Noch überflüssiger dürften die Leitenden Beamten werden, die einstweilen noch zwischen den nachdeordneten Vermittlern vermitteln, aber deren Widerstandskaft ist erheblich und reicht ganz weit bis in die Parlamente. Die werden sich in ihren Türmen einmauern, aber unter ihnen wirds ein Hauen und Stechen geben (während man sich bislang mit Tritten gegens Schienbein begnügte).

Und die Bildungsbürger im engeren Sinn, die Akademiker? Die werden zur Sauce bolognaise eingekocht, weiterhin ganz gut besoldet zwar, aber in feudale Botmäßigkeit gezwängt, die umso schwerer drückt, als sie anonym und gesichtslos ist. Sie werden die karrierebeflissensten, anpassungsbereitesten und subalternsten Elemente aus den andern digital freigesetzen Berufsgruppen aufnehmen müssen, welch ein Gräuel!

Die digitale Revolution, die im Prinzip das Gros der Gesellschaft von der Arbeit für fremdbestimmte Zwecke entlasten und für zweckfreie Tätigkeiten um der bloßen Schönheit willen freisetzen könnte, beschwört die Horrovision einer Totalen Bürokratie in einer Brave New World herauf.

Natürlich muss es nicht so kommen, dafür sind die Zeichen schon viel zu sichtbar. Und es gab auch schon eine Partei, die die digitale Revolution zu ihrem Kernthema erklärt hat. Und die sogar schon die richtige Fährte gefunden hat, in welcher Richtung die Lösung zu suchen ist. Aber hat nichts draus gemacht. Soll man ihr noch eine Chance geben? Am kommenden Sonntag können Sie darüber abstimmen.
J.E.