Der Nahe Osten ist in Aufruhr. Ein Vontobel-Heft der deutschen Islamwissenschafterin Katajun Amirpur beleuchtet die historischen und heutigen Konfliktfelder zwischen Schiiten und Sunniten.
von Christian H. Meier
Der Anspruch der Vontobel-Stiftung, mit ihrer Schriftenreihe «aktuelle und grundlegende Themen» aufzugreifen, ist im vorliegenden Band zweifellos gleichermassen erfüllt: Das Heft «Schia gegen Sunna. Sunna gegen Schia» der Islamwissenschafterin Katajun Amirpur erscheint in einer Phase, in der die Spannungen zwischen den beiden grossen islamischen Konfessionen wieder das Niveau eines verdeckten oder sogar offenen Religionskriegs zu erreichen scheinen. In Syrien spielen sunnitische Jihadisten eine zentrale Rolle im Kampf gegen das - zumindest nach oberflächlicher Betrachtung - schiitische Alawitenregime der Asads; in Pakistan wiederum, aber beispielsweise auch in Ägypten sind Schiiten Stimmungsmache und Gewalt ausgesetzt, und auf regionaler Ebene kämpfen die streng antischiitische Wahhabiten-Monarchie Saudiarabien und der revolutionär-schiitische Iran um die Vormachtstellung im Nahen Osten, inklusive verschiedener Stellvertreterkonflikte.
Dass nicht alle diese Konflikte - selbst wenn es so scheinen mag - originär mit der Glaubensrichtung zusammenhängen, schreibt Amirpur selbst: Insbesondere im Falle Iran contra Saudiarabien «lässt sich kaum sagen und auseinanderhalten, was wen oder wer was beeinflusst: Politik oder Religion». Gleichzeitig - und dies zu verdeutlichen, ist das grösste Plus ihrer Abhandlung - hängen entscheidende Differenzen, etwa was Auffassungen von Macht und Autorität betrifft, eben doch auch mit den unterschiedlichen theologischen Wegen zusammen, die Schiiten und Sunniten genommen haben, seit sich in frühislamischer Zeit - bezeichnenderweise aufgrund politischer Streitpunkte - erstmals unterschiedliche Fraktionen bildeten. So spielt der Klerus im schiitischen Islam - dem weltweit schätzungsweise 15 Prozent aller Muslime folgen - eine viel stärkere Rolle als bei den Sunniten, und im Zuge verschiedener Neuinterpretationen ist es iranischen Gelehrten gelungen, diese theologische Bedeutung in politische Ansprüche umzumünzen - in Khomeinys Konzept von der «Herrschaft des Rechtsgelehrten».
Immer wenn die Konsequenzen fundamentaler Differenzen zwischen Sunna und Schia analysiert und jeweils mit historischen Entwicklungen verknüpft werden, ist Amirpurs Darstellung stark: etwa wenn sie die Genese der quietistischen «Jammer-Schia» und der aktivistischen «roten Schia» beschreibt. Die titelgebende Idee, interkonfessionelle Zusammenhänge und Konfrontationen zu beleuchten, hätte jedoch noch konsequenter erfolgen müssen. Die sunnitisch-schiitische Ökumenebewegung des 20. Jahrhunderts etwa wäre ausführlicherer Erwähnung wert gewesen. Auch die Alltagsebene fehlt weitgehend - wie gestaltet sich beispielsweise das Zusammenleben im multikonfessionellen Libanon? Insbesondere in der ersten Hälfte, einem historischen Schnelldurchlauf, überzeugt die Darstellung nicht immer, und insgesamt erfährt der Leser weit mehr über Schiiten als über Sunniten, was an der Spezialisierung der Autorin liegen mag. Rätselhaft bleibt schliesslich auch, warum ein - hochinteressantes - Kapitel über schiitische Minderheiten und gegenwärtige politische Konflikte mit «Sunnitische Vielfalt» überschrieben ist. Letztlich zeigt das Heft vor allem eines: Die Zusammenhänge zwischen Sunna und Schia sind komplex, immer wieder aktuell - und aus diesem Grund auf knapp 80 Seiten bei weitem nicht erschöpfend zu behandeln.
Katajun Amirpur: Schia gegen Sunna. Sunna gegen Schia. Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung, Nr. 2070. Unentgeltlich zu beziehen unter www.vontobel-stiftung.ch oder bei Vontobel-Stiftung, Schriftenreihe, Tödistrasse 17, 8002 Zürich.
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