von Stefan Rebenich · Im Sommersemester 1872 las Jacob Burckhardt an der Universität Basel zum ersten Mal über die Griechen. Lange hatte er das Kolleg vorbereitet, ausführlich die antiken Quellen exzerpiert und souverän die gelehrte Literatur ignoriert. Rund ein Drittel aller immatrikulierten Studenten sass dem Historiker zu Füssen: Unter den gut fünfzig Hörern fand sich auch Friedrich Nietzsche. Jacob Burckhardt hielt seine Vorlesung bis zum Wintersemester 1885/86 insgesamt siebenmal. 3200 Manuskriptseiten dokumentieren seine kontinuierliche Arbeit an dem Text. Zunächst wollte er nur sein akademisches Auditorium erreichen. Erst später dachte er an eine Publikation und machte sich daran, seine Aufzeichnungen für eine Veröffentlichung vorzubereiten. Bei seinem Tode im Jahre 1897 lag nur ein Teil in revidierter Fassung vor. Burckhardts Neffe Jacob Oeri führte die überarbeiteten Partien und die Vorlesungspapiere zusammen, zog auch Nachschriften von Hörern heran und setzte sich selbstbewusst über Burckhardts letztwillige Verfügung hinweg, das Manuskript nicht zu drucken. Die vierbändige Ausgabe, die durch Oeris Initiative von 1898 bis 1902 in erster Auflage erschien, machte die «Griechische Culturgeschichte» weltberühmt.
Bei den Zeitgenossen stiess das
Werk auf höchst unterschiedliche Aufnahme. Ulrich von
Wilamowitz-Moellendorff, der «princeps philologorum», meinte, das Buch
existiere für die Wissenschaft nicht, weil es die Ergebnisse der
modernen Forschung ignoriere; sein althistorischer Kollege Robert
Pöhlmann hingegen pries das Werk «als ein hochbedeutendes Denkmal der
tiefgreifenden Wandlungen, welche das historische Urteil über die
Griechen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erfahren»
habe. Heute ist unbestritten, dass Burckhardt der Forschung neue Wege
wies, indem er die Polis als paradigmatische Lebensordnung begriff, die
gleichermassen Politik, Kultur und Religion integrierte.
Burckhardt richtete sein Augenmerk
auf das Ganze der griechischen Geschichte und überwand die
traditionelle Beschränkung auf die antiquarische Forschung und
politische Ereignisgeschichte. Er relativierte die klassizistische
Überhöhung der Griechen, akzentuierte die Dialektik von Individualität
und Staatsknechtschaft und skizzierte den Zusammenhang von
Kulturleistung und «agonalem Prinzip». Er schrieb wider die
historistische Relativierung der individuellen Forscherleistung und
blieb auch dann noch ein Meister der historischen Wissenschaft, als
Theodor Mommsen schon längst nur noch Geselle sein mochte.
Doch welchen Text lasen die
Zeitgenossen? Das Werk ist, wie gesagt, in seiner Druckfassung ein
Produkt Jacob Oeris. Burckhardts Neffe straffte hier und kürzte dort, er
erfand Überleitungen und stellte grosszügig um. Erst er schuf einen
lesbaren Text, der - gerade durch die Eingriffe und Glättungen -
erfolgreich war. 1930/31 und 1956/57 erschienen Neuausgaben, die
offenkundige Versehen beseitigten und dann im Taschenbuch und als CD-ROM
weite Verbreitung fanden.
Die neuen Herausgeber der
«Griechischen Culturgeschichte», die über einen Zeitraum von zehn Jahren
im Rahmen der monumentalen Werkausgabe des Basler Historikers
erschienen ist, haben Oeris «editorische Konstruktion eines diskursiven
Textes» gerade in den Teilen, für die nur Burckhardts Vorlesungskonzepte
und Notizen vorliegen, mit philologischer Präzision erfolgreich
dekonstruiert. Gewiss, das Werk ist jetzt nicht mehr so flüssig zu
lesen, wie man es von den wohlfeilen Ausgaben gewohnt war. Und man
vermisst vertraute Wendungen und altbekannte Formulierungen. Doch in der
Neuausgabe wird Burckhardts Arbeit am Text sichtbar, vor allem seine
innovative und originelle Quellenarbeit, die überraschende Perspektiven
auf verschiedene Forschungsgegenstände eröffnet. Zugleich wird das
Skizzenhafte und Vorläufige mancher Schilderung viel deutlicher als in
Oeris harmonisierender Übertragung.
Vier mächtige Bände, 3600 Seiten,
zeugen von der Genauigkeit und Gelehrsamkeit, dem Fleiss und der
Ausdauer der Basler Herausgeber. Die traditionsreichen Verlage Schwabe
in Basel und C. H. Beck in München haben zu diesem Grossprojekt
zusammengefunden. Und der Schweizer Nationalfonds hat es über Jahre
gefördert.
Christian Meier, der Doyen der
Althistoriker, hat, als er unlängst in Basel die herausragende Edition
würdigte, keinen Zweifel daran gelassen, dass dieses Werk aus der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach wie vor unsere Aufmerksamkeit
verdient: Burckhardt fragt nach der historischen Bedeutung der Griechen,
beschreibt das schwierige Verhältnis von freier Individualität und
kollektiver Souveränität und bezeugt Empathie für die Opfer der
Staatsverbrechen und für die Not der Zukurzgekommenen. In seiner
antiklassizistischen Kulturgeschichte hat Burckhardt den duldenden und
den leidenden Menschen in das Zentrum historischen Interesses gerückt.
Die Edition will denn auch ein
breites Publikum erreichen. So sind alle Originalzitate übersetzt und
zahlreiche Erläuterungen beigegeben. Ein umfangreiches Sachregister
erschliesst zuverlässig Burckhardts begriffliches Instrumentarium. Den
Herausgebern ist es in vorbildlicher Weise gelungen, ein vielschichtiges
Textmaterial in eine Form zu bringen, die die Entstehungszusammenhänge
und die Manuskriptentwicklung abbildet. Sie haben mit dieser Edition
nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Jacob-Burckhardt-Forschung und zur
Geschichte der Altertumswissenschaften geleistet, sondern in
methodischer Hinsicht ein «ktema es aiei» geschaffen, einen «Besitz für
alle Zeit», der beispielhaft zeigt, wie ein solch komplexer Text auf der
Grundlage moderner wissenschaftlicher Prinzipien ediert werden muss und
wie man es vermeidet, der naiven Fiktion Jacob Oeris zu verfallen, der
geglaubt hatte, die Autorintention rekonstruieren zu können.
Der neue Text der «Griechischen
Culturgeschichte» verlangt dem Leser einiges ab, aber dessen Mühe wird
reich belohnt: Er kann einen faszinierenden Blick in die Werkstatt des
Basler Gelehrten werfen. Zu bedauern ist allerdings der hohe Preis: Die
vier Bände kosten gut 800 Franken. Viele werden diese mustergültige
Ausgabe deshalb nur in einer Bibliothek benutzen können. - Vielleicht
ist es Zeit, über eine elektronische Publikation nachzudenken?
Jacob Burckhardt: Griechische Culturgeschichte. 4 Bände (Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19-22). Aus dem Nachlass herausgegeben von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz, Alfred Schmid und Jürgen von Ungern-Sternberg. Schwabe, Basel, und C. H. Beck, München 2002-2013. Insgesamt rund 3600 S., Gesamtpreis: € 598.-, Fr. 805.60.
Jacob Burckhardt: Griechische Culturgeschichte. 4 Bände (Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19-22). Aus dem Nachlass herausgegeben von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz, Alfred Schmid und Jürgen von Ungern-Sternberg. Schwabe, Basel, und C. H. Beck, München 2002-2013. Insgesamt rund 3600 S., Gesamtpreis: € 598.-, Fr. 805.60.
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