Freitag, 6. September 2013

Jacob Burckhardts «Griechische Culturgeschichte».

aus NZZ, 4. 9. 2013

Antiklassizistischer Klassiker
 
Die Neuedition der «Griechischen Culturgeschichte» Jacob Burckhardts ist abgeschlossen

von Stefan Rebenich · Im Sommersemester 1872 las Jacob Burckhardt an der Universität Basel zum ersten Mal über die Griechen. Lange hatte er das Kolleg vorbereitet, ausführlich die antiken Quellen exzerpiert und souverän die gelehrte Literatur ignoriert. Rund ein Drittel aller immatrikulierten Studenten sass dem Historiker zu Füssen: Unter den gut fünfzig Hörern fand sich auch Friedrich Nietzsche. Jacob Burckhardt hielt seine Vorlesung bis zum Wintersemester 1885/86 insgesamt siebenmal. 3200 Manuskriptseiten dokumentieren seine kontinuierliche Arbeit an dem Text. Zunächst wollte er nur sein akademisches Auditorium erreichen. Erst später dachte er an eine Publikation und machte sich daran, seine Aufzeichnungen für eine Veröffentlichung vorzubereiten. Bei seinem Tode im Jahre 1897 lag nur ein Teil in revidierter Fassung vor. Burckhardts Neffe Jacob Oeri führte die überarbeiteten Partien und die Vorlesungspapiere zusammen, zog auch Nachschriften von Hörern heran und setzte sich selbstbewusst über Burckhardts letztwillige Verfügung hinweg, das Manuskript nicht zu drucken. Die vierbändige Ausgabe, die durch Oeris Initiative von 1898 bis 1902 in erster Auflage erschien, machte die «Griechische Culturgeschichte» weltberühmt.

Bei den Zeitgenossen stiess das Werk auf höchst unterschiedliche Aufnahme. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der «princeps philologorum», meinte, das Buch existiere für die Wissenschaft nicht, weil es die Ergebnisse der modernen Forschung ignoriere; sein althistorischer Kollege Robert Pöhlmann hingegen pries das Werk «als ein hochbedeutendes Denkmal der tiefgreifenden Wandlungen, welche das historische Urteil über die Griechen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erfahren» habe. Heute ist unbestritten, dass Burckhardt der Forschung neue Wege wies, indem er die Polis als paradigmatische Lebensordnung begriff, die gleichermassen Politik, Kultur und Religion integrierte.

Burckhardt richtete sein Augenmerk auf das Ganze der griechischen Geschichte und überwand die traditionelle Beschränkung auf die antiquarische Forschung und politische Ereignisgeschichte. Er relativierte die klassizistische Überhöhung der Griechen, akzentuierte die Dialektik von Individualität und Staatsknechtschaft und skizzierte den Zusammenhang von Kulturleistung und «agonalem Prinzip». Er schrieb wider die historistische Relativierung der individuellen Forscherleistung und blieb auch dann noch ein Meister der historischen Wissenschaft, als Theodor Mommsen schon längst nur noch Geselle sein mochte.

Doch welchen Text lasen die Zeitgenossen? Das Werk ist, wie gesagt, in seiner Druckfassung ein Produkt Jacob Oeris. Burckhardts Neffe straffte hier und kürzte dort, er erfand Überleitungen und stellte grosszügig um. Erst er schuf einen lesbaren Text, der - gerade durch die Eingriffe und Glättungen - erfolgreich war. 1930/31 und 1956/57 erschienen Neuausgaben, die offenkundige Versehen beseitigten und dann im Taschenbuch und als CD-ROM weite Verbreitung fanden.

Die neuen Herausgeber der «Griechischen Culturgeschichte», die über einen Zeitraum von zehn Jahren im Rahmen der monumentalen Werkausgabe des Basler Historikers erschienen ist, haben Oeris «editorische Konstruktion eines diskursiven Textes» gerade in den Teilen, für die nur Burckhardts Vorlesungskonzepte und Notizen vorliegen, mit philologischer Präzision erfolgreich dekonstruiert. Gewiss, das Werk ist jetzt nicht mehr so flüssig zu lesen, wie man es von den wohlfeilen Ausgaben gewohnt war. Und man vermisst vertraute Wendungen und altbekannte Formulierungen. Doch in der Neuausgabe wird Burckhardts Arbeit am Text sichtbar, vor allem seine innovative und originelle Quellenarbeit, die überraschende Perspektiven auf verschiedene Forschungsgegenstände eröffnet. Zugleich wird das Skizzenhafte und Vorläufige mancher Schilderung viel deutlicher als in Oeris harmonisierender Übertragung.

Vier mächtige Bände, 3600 Seiten, zeugen von der Genauigkeit und Gelehrsamkeit, dem Fleiss und der Ausdauer der Basler Herausgeber. Die traditionsreichen Verlage Schwabe in Basel und C. H. Beck in München haben zu diesem Grossprojekt zusammengefunden. Und der Schweizer Nationalfonds hat es über Jahre gefördert.

Christian Meier, der Doyen der Althistoriker, hat, als er unlängst in Basel die herausragende Edition würdigte, keinen Zweifel daran gelassen, dass dieses Werk aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach wie vor unsere Aufmerksamkeit verdient: Burckhardt fragt nach der historischen Bedeutung der Griechen, beschreibt das schwierige Verhältnis von freier Individualität und kollektiver Souveränität und bezeugt Empathie für die Opfer der Staatsverbrechen und für die Not der Zukurzgekommenen. In seiner antiklassizistischen Kulturgeschichte hat Burckhardt den duldenden und den leidenden Menschen in das Zentrum historischen Interesses gerückt.

Die Edition will denn auch ein breites Publikum erreichen. So sind alle Originalzitate übersetzt und zahlreiche Erläuterungen beigegeben. Ein umfangreiches Sachregister erschliesst zuverlässig Burckhardts begriffliches Instrumentarium. Den Herausgebern ist es in vorbildlicher Weise gelungen, ein vielschichtiges Textmaterial in eine Form zu bringen, die die Entstehungszusammenhänge und die Manuskriptentwicklung abbildet. Sie haben mit dieser Edition nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Jacob-Burckhardt-Forschung und zur Geschichte der Altertumswissenschaften geleistet, sondern in methodischer Hinsicht ein «ktema es aiei» geschaffen, einen «Besitz für alle Zeit», der beispielhaft zeigt, wie ein solch komplexer Text auf der Grundlage moderner wissenschaftlicher Prinzipien ediert werden muss und wie man es vermeidet, der naiven Fiktion Jacob Oeris zu verfallen, der geglaubt hatte, die Autorintention rekonstruieren zu können.

Der neue Text der «Griechischen Culturgeschichte» verlangt dem Leser einiges ab, aber dessen Mühe wird reich belohnt: Er kann einen faszinierenden Blick in die Werkstatt des Basler Gelehrten werfen. Zu bedauern ist allerdings der hohe Preis: Die vier Bände kosten gut 800 Franken. Viele werden diese mustergültige Ausgabe deshalb nur in einer Bibliothek benutzen können. - Vielleicht ist es Zeit, über eine elektronische Publikation nachzudenken?

Jacob Burckhardt: Griechische Culturgeschichte. 4 Bände (Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19-22). Aus dem Nachlass herausgegeben von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz, Alfred Schmid und Jürgen von Ungern-Sternberg. Schwabe, Basel, und C. H. Beck, München 2002-2013. Insgesamt rund 3600 S., Gesamtpreis: € 598.-, Fr. 805.60.

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