Montag, 9. September 2013

Neue Theorien für die Nationalökonomie?

 
aus NZZ, 9. 9. 2013                                                                           Marinus van Reymerswalde, Der Geldwechsler und seine Frau, 1540

Die Neoklassik als Kunstwerk
 
Der Verein für Socialpolitik diskutiert über Theorienvielfalt

Mue. Düsseldorf · Unlängst hatte der Wirtschaftsnobelpreisträger Reinhard Selten eingestanden, die Zeit sei noch nicht reif für ein alternatives Theoriegebäude, das die Neoklassik als Fundament in der Volkswirtschaftslehre ablöse. Dieses in dem Artikel «Bounded-Rationality Models: Tasks to Become Intellectually Competitive» zu lesende Bekenntnis hat in der ökonomischen Forschung Gewicht, weil Selten mit seinen Arbeiten über begrenzte Rationalität seit Jahrzehnten an den Fundamenten der Neoklassik rüttelt.

Kritik an Monokultur

Auch bei der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik in Düsseldorf war das Für und Wider der Neoklassik bei der Podiumsdiskussion «Heterodoxie in der Volkswirtschaftslehre» ein Thema. Dabei prangerte Thomas Dürmeier von der Universität Hamburg, der für das «Netzwerk Plurale Ökonomik» sprach, die Monokultur in der Forschung an und sprach sich für einen stärkeren interdisziplinären Ansatz aus. Dürmeier geht es um eine höhere Theorien- und Methodenvielfalt in Forschung und Lehre sowie eine Besetzung von mindestens 20% aller Lehrstühle mit heterodoxen Ökonomen. Zu den vernachlässigten Ansätzen zählt er etwa feministische, marxistische und ökologische Wirtschaftswissenschaften.

In der Theorie mag dieser Vorschlag seinen Reiz haben. Unklar bleibt u. a., wer zu den heterodoxen Volkswirten zu zählen ist. Deren Liste ist lang und heterogen. Sie dürfte vom Marxisten bis hin zu den Anhängern Hayeks reichen. Carl Christian von Weizsäcker vom Bonner Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern verwies auf das in der Lehre bestehende Zeitproblem. Innerhalb eines Bachelor-Studiums hätten die Studenten nur drei Jahre Zeit, in die Grundzüge der Volkswirtschaftslehre eingeführt zu werden.

Die Neoklassik habe den grossen Vorteil, dass sie nicht nur ein in sich konsistentes Theoriegebilde sei, sondern auch auf alle ökonomischen Bereiche anwendbar sei, fügte von Weizsäcker an. Da das Zeitbudget der Lehrenden und Lernenden beschränkt sei, bleibe nur wenig oder kaum Zeit, um sich mit alternativen Ansätzen zu beschäftigen. Er machte der Neoklassik eine Liebeserklärung: Wenn man sie verstanden habe, sei sie ein wahres Kunstwerk. Und die Kritik von Paul Krugman und Joseph E. Stiglitz könne nur verstehen, wer das neoklassische Handwerkszeug beherrsche.

Vielfältiges Programm

Unter dem Strich wirkt die Kritik von Dürmeier und den «pluralen Ökonomen» bemüht. Denn die Schwerpunkte bei den Jahrestagungen des Vereins für Socialpolitik haben sich in den vergangenen Jahren verschoben. So wurden in Düsseldorf etwa Arbeiten über den Einfluss der Familienpolitik auf die Geburtenrate, zur Glücksforschung oder zur Entlöhnung von Frauen präsentiert; solche Themen hatten vor Jahren noch nicht auf dem Programm gestanden. Welche Veränderungen die Volkswirtschaftslehre erfahren hat, zeigen auch die inzwischen vielbeachteten Arbeiten des an der Universität Zürich lehrenden experimentellen Wirtschaftsforschers Ernst Fehr. Vor Jahren wurde er dafür noch mitleidig belächelt.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen