Die deutsche Biedermeierstube
Deutschland geht es so gut, dass die Parteien im Wahlkampf Mühe hatten, Themen zu finden, über die es sich zu streiten lohnt. Die Kehrseite von so viel Konsens ist intellektuelle Trägheit.
Von Eric Gujer
Jeder Wahlkampf ist eine Reise durch die geistige Landschaft eines Landes. Nach den Strapazen der Wiedervereinigung, der Aufregung um Schröders Agenda 2010 und der Euro-Krise richten sich die Deutschen in einer mentalen Biedermeierstube ein - froh, nur über das Aufregerthema Veggie-Day, die Forderung nach einem fleischlosen Tag in Kantinen, nachdenken zu müssen und nicht über den Zustand der Welt. So viel genügsame Harmonie hat allerdings ihren Preis. Der Bundestagswahlkampf sei sterbenslangweilig, monierten Beobachter. Tatsächlich taten sich die Parteien schwer, kontrovers zu diskutieren, zu ähnlich waren die meisten Positionen. Die Sozialdemokraten unternahmen zwar einmal den müden Versuch, eine Auseinandersetzung zu inszenieren. Sie warfen Kanzlerin Merkel vor, sie habe die SPD beleidigt, indem sie der Partei Unzuverlässigkeit unterstellte. Doch ausser den Berufsempörten mochte sich niemand so richtig über Merkels Sünde aufregen, und bald kehrte wieder Ruhe ein in deutschen Gefilden. Die Entspanntheit ist zunächst ein gutes Zeichen, denn der Hauptzweck eines Wahlkampfes besteht nicht darin, den Wähler mit einer Unterhaltungsshow im Stil von «Wetten, dass . . .?» und «Wünsch Dir was» die Zeit zu vertreiben.
Deutschland geht es so gut, dass die Parteien im Wahlkampf Mühe hatten, Themen zu finden, über die es sich zu streiten lohnt. Die Kehrseite von so viel Konsens ist intellektuelle Trägheit.
Von Eric Gujer
Jeder Wahlkampf ist eine Reise durch die geistige Landschaft eines Landes. Nach den Strapazen der Wiedervereinigung, der Aufregung um Schröders Agenda 2010 und der Euro-Krise richten sich die Deutschen in einer mentalen Biedermeierstube ein - froh, nur über das Aufregerthema Veggie-Day, die Forderung nach einem fleischlosen Tag in Kantinen, nachdenken zu müssen und nicht über den Zustand der Welt. So viel genügsame Harmonie hat allerdings ihren Preis. Der Bundestagswahlkampf sei sterbenslangweilig, monierten Beobachter. Tatsächlich taten sich die Parteien schwer, kontrovers zu diskutieren, zu ähnlich waren die meisten Positionen. Die Sozialdemokraten unternahmen zwar einmal den müden Versuch, eine Auseinandersetzung zu inszenieren. Sie warfen Kanzlerin Merkel vor, sie habe die SPD beleidigt, indem sie der Partei Unzuverlässigkeit unterstellte. Doch ausser den Berufsempörten mochte sich niemand so richtig über Merkels Sünde aufregen, und bald kehrte wieder Ruhe ein in deutschen Gefilden. Die Entspanntheit ist zunächst ein gutes Zeichen, denn der Hauptzweck eines Wahlkampfes besteht nicht darin, den Wähler mit einer Unterhaltungsshow im Stil von «Wetten, dass . . .?» und «Wünsch Dir was» die Zeit zu vertreiben.
Blackout-Politik
Die Absenz grosser Reizthemen ist
ein Indikator dafür, dass es der Bundesrepublik gutgeht. Die Wirtschaft
wächst moderat, die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor tief. Im Vergleich
zu anderen EU-Staaten steht das Land prächtig da. Auch die Regierung
gibt den Wählern Anlass zur Zufriedenheit. Wechselstimmung herrscht
nicht, Angela Merkel hat gute Chancen, ihren Arbeitsplatz im Kanzleramt
zu behalten, ob mit der FDP oder einer anderen Koalition ist für sie
einerlei. In vielen EU-Staaten, in denen seit Ausbruch der Euro-Krise
gewählt wurde, gaben die Bürger ihren Regierungen den Laufpass. Und
diejenigen, die seither ins Amt gelangten, kämpfen mit Problemen.
Präsident Hollande schneidet in Umfragen nicht nur wegen seiner
Wirtschaftspolitik schlecht ab. Premierminister Cameron versagten die
eigenen Abgeordneten die Gefolgschaft in einer Syrien-Abstimmung. Seine
Europapolitik, ein Referendum über einen Austritt abzuhalten, um den
Verbleib des Landes in der EU zu sichern, ist ein Hochseilakt. In zwei
wichtigen EU-Ländern sind die Regierungen geschwächt. Auch hier kann
Deutschland zur Ausnahme werden. Bleibt Merkel Regierungschefin, gewinnt
sie in Brüssel weiter an Statur. Deutschlands Gewicht wird nochmals
wachsen.
Während die Kanzlerin auf der
europäischen Bühne überlebensgross präsent ist, machte sie sich und ihre
Partei in der Innenpolitik fast unsichtbar. Merkel gab im Lauf ihrer
Amtszeit die meisten ihrer Positionen auf, mit denen sie einmal
angetreten war. Von ihrem Plädoyer für mutige Wirtschaftsreformen blieb
so wenig übrig wie von ihrem Bekenntnis zur Atomkraft. Stattdessen
stürzte sie sich kopfüber in die Energiewende, die Reaktoren schneller
stilllegt, als das notorische Atomgegner je gewagt hätten. Merkel
korrigierte auch nie die Förderung der erneuerbaren Energien, weshalb
die Stromrechnung für Privathaushalte in 15 Jahren um 70 Prozent stieg.
Die Subventionen bringen den Strommarkt so durcheinander, dass die
Energiekonzerne unrentable, aber für die Versorgungssicherheit
notwendige Kohlekraftwerke abschalten wollen. Der drohende Blackout ist
das Symbol einer Konsenspolitik, der alle zustimmen. Obwohl die
Konsequenzen der Energiewende für ein Industrieland gravierend sind,
werden sie im Bundestag kaum erörtert. Schliesslich haben SPD und Grüne
den ökologischen Voodoo-Zauber einst erfunden, weshalb sie heute
allenfalls an Details herummäkeln. Eine ernsthafte Debatte findet nur
ausserhalb des Parlaments statt.
Ob Euro-Rettung, Familienpolitik
oder die Haltung zu Militäreinsätzen im Ausland: Stets herrscht zwischen
den Lagern im Bundestag ein unausgesprochenes Einverständnis. Die
Kehrseite ist allerdings intellektuelle Trägheit, um Alternativen wird
kaum gerungen. Die grosse Koalition ist daher der heimliche Favorit von
Regierenden wie Regierten, auch diesmal ist sie neben der Fortsetzung
von Schwarz-Gelb die wahrscheinlichste Variante. Angepriesen wird sie
als ganz grosse Lösung für ganz schwierige Fragen, doch in Wirklichkeit
ist sie vor allem für deren Protagonisten vorteilhaft. Die Opposition
spielt nur eine untergeordnete Rolle, so lässt sich bequem regieren. Der
Kerngedanke der Demokratie, der Wettbewerb der Ideen, verliert an
Bedeutung. An die Stelle der inhaltlichen Auseinandersetzung tritt das
bürokratische Verfahren, das routinierte Aushandeln von Kompromissen.
Die Politikverdrossenheit, ohnehin der Deutschen politische
Lieblingsvokabel, nimmt so weiter zu. Nicht von ungefähr rätseln alle
Beobachter, ob eine Protestpartei - die Alternative für Deutschland -
bereits wenige Monate nach ihrer Gründung den Sprung ins Parlament
schafft.
Staatsgläubigkeit und Menschheitsbeglückung
Trotz der programmatischen Nähe
der etablierten Parteien liegen CDU und CSU in Umfragen weit vorn. Sie
verdanken dies ihrer Spitzenkandidatin, die gänzlich die Maxime
verinnerlicht hat, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden. Angela
Merkel handelt wie eine sozialdemokratische Kanzlerin, propagiert aber
Umverteilung und Staatsgläubigkeit nicht so penetrant wie die
Konkurrenz. Ein Veggie-Day käme ihr im Gegensatz zu den grünen
Weltverbesserern nie in den Sinn. Sie weiss auch, dass es für Bürger und
Unternehmen eine Grenze der Belastbarkeit gibt. Zwar zog auch Merkel
schon einmal mit der Forderung nach Steuererhöhungen in einen Wahlkampf,
aber mit erkennbar schlechtem Gewissen. Dass hingegen die SPD
ausgerechnet in Zeiten rekordhoher Staatseinnahmen zusätzliche Steuern
geradezu für das Menschenrecht eines jedes Finanzministers hält, bringt
nicht nur die gern geschmähten Besserverdiener ins Grübeln. Die
Sozialdemokraten geben sich als prononciert linke Partei, um Stammwähler
zu mobilisieren. Gleichzeitig schliessen sie ein Bündnis unter
Einschluss der Linkspartei aus. Da es für eine rot-grüne Koalition nicht
reicht, verbaut sich die SPD damit die Aussicht auf eine
Regierungsmehrheit und findet allenfalls als Juniorpartnerin Platz am
Kabinettstisch.
Die Schwäche der Opposition,
Merkels Wendigkeit und der Popularitätsvorsprung gegenüber ihrem
Herausforderer sind die Faktoren, die der Union abermals die Macht
sichern dürften. In einem anderen Land mit mehr Sorgen und einem raueren
politischen Klima wäre dies eine zu bescheidene Bilanz, um dem
Wahlabend gelassen entgegenzublicken. In der Wohlfühl-Republik
Deutschland jedoch kann es genügen.
Nota.
Warum ist das so? Weil alle um dieselbe Wählerschaft buhlen. "Deutsche Wahlen werden in der Mitte entschieden", heißt der Glaubenssatz. Aber er ist kurzsichtig, denn 'die Mitte' schrumpft und zersetzt sich dabei.
J.E.
Nota.
Warum ist das so? Weil alle um dieselbe Wählerschaft buhlen. "Deutsche Wahlen werden in der Mitte entschieden", heißt der Glaubenssatz. Aber er ist kurzsichtig, denn 'die Mitte' schrumpft und zersetzt sich dabei.
J.E.
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