aus derStandard.at, 26. September 2013, 13:59
Wissen um KZs war in der Wehrmacht weit verbreitet
USA und Großbritannien hörten gefangene Wehrmachtsangehörige systematisch ab - Die Protokolle wurden nun vom Wissenschaftsfonds ausgewertet
Wien - Umfassende Abhöraktionen sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts: Um Informationen über Kriegstaktik und Waffentechnologien der Nationalsozialisten zu erlangen und sich Vorteile in der pschologischen Kriegsführung zu verschaffen, hörten der britische und US-amerikanische Nachrichtendienst im Zweiten Weltkrieg systematisch deutsche und österreichische Kriegsgefangene ab. Die Gespräche wurden nun in einem vom Wissenschaftsfonds (FWF) finanzierten Projekt ausgewertet.
"Dabei hat sich unter anderem gezeigt, dass das Wissen um Konzentrationslager und Massenverbrechen weiter verbreitet war, als man bisher annehmen konnte", erklärte Richard Germann vom Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft. Die Ergebnisse im Zuge eines Kolloquiums am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien präsentiert.
Gezielte Zusammenlegungen
Gezielt legten die Alliierten Wehrmachtsoldaten aus gleichen Einheiten und Tätigkeitsbereichen, etwa U-Boot-Techniker oder Waffen-SS-Angehörige, zusammen, um deren Austausch zu fördern und so zu Informationen zu kommen. "Da gab es die unterschiedlichsten Versuchsanordnungen", schilderte Germann. Suchte man eher oberflächliches Wissen, legte man einfache Soldaten und Spezialisten zusammen, wollte man Details wissen, wurden Experten eines Faches zusammen untergebracht. Auch Generäle, Offiziere oder andere hohe Dienstgrade wurden häufig zusammengelegt, um mehr über Kriegspläne und Mechanismen der höheren Militärführung zu erfahren.
Sorgen um Angehörige
Tatsächlich drehten sich die Gespräche der Soldaten meistens um den Krieg, Technik und Waffen. Aber auch Sehnsucht nach der Heimat und Sorgen um Angehörige nahmen größeren Raum ein. "Man sorgte sich etwa aufgrund der Luftangriffe. Das interessierte den britischen Geheimdienst vor allem in Bezug auf die Möglichkeiten der psychologischen Kriegsführung", erklärt der Historiker Germann.
Zu den Themen, die den Abhörspezialisten als kriegsrelevant erschienen, gehörten auch der Austausch über Konzentrationslager und die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung. "Das Wissen war doch breit gefächert", so Germann. "Immer wieder wurden Konzentrationslager als Orte angesprochen, aus denen nur wenige Menschen wieder lebend herauskommen. Die Sache wurde meist direkt beim Namen genannt." Mehrheitlich hätten die Soldaten diese Geschehnisse allerdings negativ gedeutet. Gefunden wurden die rund 20.000 Protokolle aus den Jahren 1940 bis Kriegsende in Archiven in London und Washington.
Schlechte Bewertungen für NS-Prominenz
Aber nicht nur Waffen oder Familie waren häufige Gesprächsgegenstände, auch die eigenen Vorgesetzten sowie die "Prominenz" des nationalsozialistischen Regimes waren Thema. "Tendenziell wurde über die Führungselite des Dritten Reichs eher negativ gesprochen", sagte Germann. "Vor allem einzelne Persönlichkeiten wie etwa Hermann Göring wurden schlecht bewertet." Einige Kriegsgefangene erkannten auch, welche Gefahr Deutschland durch die Entscheidungen Hitlers drohte und sprachen sehr offen darüber.
Österreich kein Thema
Österreich als Staat spielte dagegen in den Gesprächen der Gefangenen kaum eine Rolle. "Eine etwaige Sehnsucht nach Österreich wäre aus Gründen der psychologischen Kriegsführung sicher verschriftlicht worden", zeigt sich Germann überzeugt. So wurden eher das persönliche Schicksal von Kurt Schuschnigg sowie der Moment des "Anschlusses" besprochen.
"In diesem Punkt gab es mitunter deutliche Meinungsunterschiede zwischen deutschen und österreichischen Wehrmachtsangehörigen. Die Österreicher hatten sich die Eingliederung ins Dritte Reich sichtlich anders vorgestellt und wollten den Deutschen einen 'Sieg von 1938' nicht gönnen."
Ängste und Zukunftsvorstellungen
Der Großteil der Protokolle stammt aus 1943/44 - daher spielen auch Zukunftsvorstellungen und Überlegungen zum Ende des Krieges eine Rolle. "Man fürchtete sich vor allem vor Racheaktionen der sowjetischen Streitkräfte an der Familie zuhause. Denn vielfach hatten die Soldaten die deutschen Gräueltaten an der sowjetischen Zivilbevölkerung selbst erlebt", so der Historiker.
Die Zukunft Österreichs war jedoch auch 1944 kein Thema - ab und zu seien Stereotypen wie "alleine wirtschaftlich nicht lebensfähig" kursiert, sagt Germann. "Eine gemeinsame Österreich-Identität gab es aber einfach nicht."
Zugang für Angehörige ehemaliger Kriegsgefangener
Die Wissenschafter bieten Angehörigen und Nachfahren von österreichischen Kriegsgefangenen die Möglichkeit, Kopien von Akten aus dem US-Kriegsgefangenenlager Fort Hunt bei Washington zu erhalten. In dem Lager wurden während des Zweiten Weltkrieges über 3.000 deutsche Wehrmachtssoldaten, darunter knapp 300 aus Österreich, interniert, vernommen und über versteckte Mikrophone heimlich belauscht. (APA/red, derStandard.at, 26.9.2013)
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