Das Ende der Mitte?
Cornelia Koppetsch diagnostiziert die Wiederkehr der Klassengesellschaft
von Urs Hafner · Die Zeitdiagnose ist unter manchen Wissenschaftern und Experten ein beliebtes Geschäft. Sie verspricht den grossen Durchblick, indem sie die vielgestaltige, in ihrem steten Wandel kaum fassbare Gegenwart auf einen Nenner bringen will. Zum Risiko der Nivellierung kommt jenes des schnellen Verfalls der Diagnosen dazu: Was eben noch einleuchtend erschien, sieht plötzlich ziemlich alt aus. So ist es der «Erlebnisgesellschaft» (Gerhard Schulze) oder der «Individualisierung» (Ulrich Beck) ergangen. Dass der Einzelne sich fast nach Belieben aus seinen traditionellen Bindungen herauslösen und sich eine Wunschbiografie basteln könne, davon ist heute kaum mehr die Rede.
Cornelia Koppetsch diagnostiziert die Wiederkehr der Klassengesellschaft
von Urs Hafner · Die Zeitdiagnose ist unter manchen Wissenschaftern und Experten ein beliebtes Geschäft. Sie verspricht den grossen Durchblick, indem sie die vielgestaltige, in ihrem steten Wandel kaum fassbare Gegenwart auf einen Nenner bringen will. Zum Risiko der Nivellierung kommt jenes des schnellen Verfalls der Diagnosen dazu: Was eben noch einleuchtend erschien, sieht plötzlich ziemlich alt aus. So ist es der «Erlebnisgesellschaft» (Gerhard Schulze) oder der «Individualisierung» (Ulrich Beck) ergangen. Dass der Einzelne sich fast nach Belieben aus seinen traditionellen Bindungen herauslösen und sich eine Wunschbiografie basteln könne, davon ist heute kaum mehr die Rede.
Der Riss
Die Soziologin Cornelia Koppetsch
spricht mit Blick auf Deutschland gar von der Umkehr des
Individualisierungsprozesses und der Rückkehr der Klassengesellschaft.
Das mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats aufgekommene Versprechen der
«nivellierten Mittelstandsgesellschaft» (Helmut Schelsky) erweise sich
nun als leer. Bis vor kurzem noch hätten sich die Mittelschichten
einerseits den aufstiegswilligen Unterschichten geöffnet und
andererseits auch den Eliten ihre Werte der Mässigung, der Toleranz und
der Verantwortung fürs Ganze vermitteln können. Nun hätten sie ihre
integrative Funktion verloren.
Heute gehe ein tiefer Riss durch
die Mittelschichten. In ihrer Mitte dominiere die Angst vor dem Abstieg.
Die Kleinbürger versuchten verbissen, sich dem schnellen Wandel
anzupassen, um ihre Position nicht zu verlieren, und die «neuen
Kreativen» forcierten die Selbstausbeutung. Am unteren Rand grenzten
sich die Facharbeiter von den Tieferstehenden ab. Ihr bevorzugtes
Feindbild seien die Ausländer und die Arbeitslosen.
Auch die oberen Ränder der
Mittelschichten schlössen sich ab. Die ehemals linksalternative Bohème -
Lehrer, Dozenten und Kulturbeamte - schotte sich, ohne sich rassistisch
zu äussern, in ihren privilegierten Wohngegenden ab, wo keine Ausländer
wohnten, und kümmere sich um ihre private Altersvorsorge. Zugleich
blicke sie nach ganz oben, wo die schmale Elite reich und selbstbewusst
wie nie auftrete. Indem die wohlhabenden Mittelschichtsangehörigen ihr
Geld in Fonds und Aktien investierten, statt es aufs Sparbuch zu legen,
setzten sie die Firmen unter Druck, die Rendite zu erhöhen - also
Arbeitsplätze abzubauen und Löhne zu kürzen. Die Bürger, die den
«Neoliberalismus» beklagten, der die Mitte aushöhle, beteiligten sich
selbst an der Unterminierung.
Die Spaltung der Mittelschichten
tangiert laut Koppetsch die gesamte Gesellschaft. Nicht nur gehe deren
mässigende Mitte verloren. Die Spaltung werde von einem prägenden
Mentalitätswandel begleitet: Viele gäben das öffentliche Engagement auf
und wendeten sich dem Privaten zu. Die bürgerliche Familie, die
Familientradition und die Religion stünden wieder hoch im Kurs, angesagt
sei Konformität. Sie sei die Bewältigungsstrategie der Jungen: Wie sich
durchschlagen und behaupten in einer Welt, in der das Ökonomische das
Politische verdrängt? Mit der Globalisierung kappten die grossen
Unternehmen, die eben noch den Wohlfahrtsstaat finanziert hätten, ihre
Bindungen zum Nationalstaat, der die sozialen Leistungen zurückfahre.
Stimmt's?
Stimmt Koppetschs Zeitdiagnose?
Manches glaubt man selbst bemerkt oder schon einmal gelesen zu haben,
einiges regt zum Nachdenken an. Doch die Diagnose kommt, wie es dem
Genre eigen ist, zu grossspurig daher: Man kann nicht das weite Feld der
sozialen Realität unter einer Formel zusammenfassen - schon gar nicht,
wenn man sie nicht empirisch untersucht. Es bleibt der Eindruck einiger
treffender Beobachtungen, die sich freilich an der Oberfläche bewegen,
weil Widersprüche ausgeschlossen sind. Würde Koppetsch tiefer bohren,
zerfiele die Einheitlichkeit ihres Bilds.
Cornelia Koppetsch: Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte. Campus, Frankfurt am Main 2013. 200 S., Fr. 29.90.
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