Hatte Karl Marx Recht?
Eine plakative Frage – und zwei Bücher: Jonathan Sperbers Biographie und ein Theorie-Sammelband.
von Jörg Später
Im September 2008 beantragte die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz. Die Folge war eine Banken- und Finanzmarktkrise, die bald auch Europa ergriff. Griechenland offenbarte 2009 erstmals, dass die Refinanzierung seines Haushaltsdefizits nicht gedeckt sei. Andere Länder der Europäischen Union folgten. Aus der Bankenkrise war eine Staatsschuldenkrise geworden, die das gesamte Projekt der Europäischen Union und seine Währung zur Disposition gestellt hat.
Mit dieser Krise des Kapitalismus war Karl Marx zurück auf der Bühne. Die konservative Londoner Times – nicht gerade dafür bekannt, das Gespenst des Kommunismus herbeizuwünschen – fragte im Oktober 2008: "Did Karl Marx get it allright?" Dass Marx womöglich am Ende doch Recht behalten könnte, mutmaßt inzwischen auch das deutsche Feuilleton. Doch womit genau soll Marx denn Recht gehabt haben? Mit dem Satz, dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist? Mit dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate? Oder einfach nur mit dem Befund, dass der Kapitalismus voller Irrationalitäten und Widersprüche steckt? Die plakative und unterkomplexe Frage ähnelt Fragen wie "Wozu Philosophie?" oder "Was ist der Sinn des Lebens?". Daraus entwickeln sich dann Debatten, die bei Adam und Eva beginnen und in Belanglosigkeit verenden.
Der US-Historiker Jonathan Sperber hat in seiner neuen Biografie von Karl Marx ebenfalls die Frage nach der Aktualität aufgegriffen. Seinem Buch schickt er voran, dass Marx nicht über die Qualitäten eines Hellsehers verfügt habe, 150 Jahre in die Zukunft schauen zu können. Das Bild von Marx als eines Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen, sei überholt. Marx gehöre zum Zeitalter der Französischen Revolution, der Hegel’schen Philosophie, der Anfänge der Industrialisierung in England. Sperber zeichnet ihn als einen rückwärtsgewandten Menschen, der die Gegebenheiten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Zukunft projizierte.
An die Stelle der Ikonisierung von Marx setzt er eine radikale Historisierung, also die Verortung von Marx in seiner Zeit. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden. Sperber fragt, woher Marx kam, was er tat und was er hinterließ. Er erklärt die Kontexte, in denen sich Marx bewegte und die sein Denken prägten. So erläutert er, was es hieß, in einer sich in Auflösung befindlichen Ständegesellschaft zu leben, und was es bedeutete, als Trierer Jude in einer solchen Transformationsphase zu leben. Diese breiten, gleichwohl zielgerichteten Kontextualisierungen sind sehr erhellend.
Doch Sperbers Provokation, Marx sei rückwärtsgewandt, ist töricht. Sie erinnert an eine Maus auf einem hohen Berg, die feststellt, dass die Elefanten im Tal doch ziemlich winzig seien. Sie ist als Antwort auf den großen, jüngst verstorbenen marxistischen Historiker Eric Hobsbawm zu interpretieren. Der Brite hatte bereits vor der Marx-Renaissance immer wieder auf die prophetische Kraft von Marx’ Analysen hingewiesen: Sie vermittelten die unaufhaltsame globale Dynamik der kapitalistischen ökonomischen Entwicklung, ihre Fähigkeit alle hergebrachten sozialen Gefüge zu zerstören und neue zu setzen, die dem Menschen wie eine zweite Natur gegenüberträten, gleichwohl aber von inneren Widersprüchen durchdrungen seien.
In der Tat fällt Marx’ Leben mit der größten Umwälzung zusammen, die die Menschheit seit dem Neolithikum erlebt hat. Und diese "Great Transformation", wie sie der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi genannt hat, hatte ihren Ursprung in der Wirtschaft. Dafür hatte Marx ein Gespür wie kein anderer Zeitgenosse. Er war es, der die liberale These von der harmonisierenden unsichtbaren Hand der Märkte angriff und die Notwendigkeit von Krisen im Gencode des Kapitalismus, der Warenform, entschlüsselte. Dass Marx’ Denken aufgeladen war mit anderen eher vormodernen ideologischen Lehren wie zum Beispiel der vom Rassenkampf, ändert daran wenig. Das kann aber nur für Marxisten erschütternd sein.
Das größte Missverständnis, das der Frage, ob Marx bis heute Recht hat, zugrunde liegt, ist seine Einordnung als Ökonom. Marx war kein Wirtschaftswissenschaftler, sondern ein Kritiker der politischen Ökonomie und des Wissens über diese Ökonomie. Ob man mit Marx hinreichend die gegenwärtige Krise analysieren kann, ist in der Tat zweifelhaft. Doch generell wirken gegenwärtig Versuche, die Makroökonomie zu erklären, eher wie sachkundiges Raten. Gerade deshalb spricht man ja wieder von Marx.
Seine Relevanz und Aktualität liegen eher in der Sozialphilosophie – das nehmen jedenfalls Rahel Jaeggi und Daniel Loick an, die Herausgeber des umfangreichen Sammelbands "Nach Marx". Sie befinden, aktuell werde Marx weniger durch die Fortdauer der Probleme des Kapitalismus, sondern durch die Relevanz seiner Problemstellungen. Diese hätten sich auf einem Reflexionsniveau bewegt, das überhaupt erst wieder erreicht werden müsse. Dazu muss man allerdings theoretisch ordentlich gesattelt sein: In dem Band geht es um zentrale Begriffe von Marx – wie die der Freiheit, des Eigentums, der Gerechtigkeit; es wird nach Hegels Spuren gesucht oder nach Verbindungen mit anderen sozialphilosophischen Theorien wie der von John Rawls. Wer hier Perlen finden will, muss das Buch studieren, nicht nur lesen.
Auch als Sozialphilosoph gehörte Karl Marx übrigens ins 19. Jahrhundert – wohin auch sonst? Gleichwohl hat er das Denken über die Wirklichkeit in einem Maße verändert wie etwa Kopernikus, Darwin oder Freud. Ob die wohl Recht hatten?
– Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert. C.H. Beck, München 2013. 634 Seiten mit 33 Abbildungen, 29,95 Euro.
– Rahel Jaeggi und Daniel Loick (Hrsg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Suhrkamp, Berlin 2013. 518 Seiten, 22 Euro.
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