Dienstag, 31. Mai 2016

Buddhismus für Gottlose?

 aus Tagesspiegel.de, 30. 5. 2016                        The sharing of the relics of the Buddha, Zenyōmitsu-Temple Museum, Tokyo

Buddhismus im Aufwind 
Wiedergeburt ist eine späte Erfindung
Der britische Lehrer und Autor Stephen Batchelor versucht, den Buddhismus zu reformieren – auch für Ungläubige.
 
von Daniel Herbstreit

Katholikentag? Islam-Debatte? Was ist eigentlich mit dem Buddhismus? Auf den ersten Blick scheint er viel besser in die moderne Welt zu passen als etwa das Christentum oder der Islam. Fürs Meditieren muss man nicht an einen allmächtigen Gott glauben, und oberste buddhistische Repräsentanten wie der Dalai Lama arbeiten mit Naturwissenschaftlern zusammen, statt sich hinter antiquierten Dogmen zu verschanzen. Doch dabei übersieht man leicht, dass auch die buddhistische Überlieferung voller Wahrheitsansprüche steckt, die heute kein vernünftiger Mensch mehr hinnehmen will, zum Beispiel die Lehren von Karma und Wiedergeburt. Und nicht nur in Asien, auch in Europa sind viele buddhistische Organisationen ähnlich konservativ und dogmatisch verkrustet wie der Vatikan.

Man muss sich das vor Augen halten, wenn man das Außergewöhnliche von Stephen Batchelor verstehen will. Seit den 90er Jahren treibt der Brite das Projekt eines nichtreligiösen Buddhismus so eloquent und entschieden voran wie kein Zweiter – als einer der prominentesten Lehrer für Achtsamkeits- und Zen-Meditation weltweit, vor allem aber als Autor. „Buddhismus für Ungläubige“ heißt sein erfolgreichstes Buch, in dem er seine säkulare Interpretation des Dharma, also der buddhistischen Lehre, für ein breites Publikum zusammenfasste. Dabei gelang Batchelor, was sich auf christlicher Seite zurzeit offenbar niemand so recht zutraut: ein praktikabler, zugleich intellektuell überzeugender Kompromiss zwischen Religion und Atheismus.

In buddhistischen Kreisen ist Batchelors Haltung naturgemäß umstritten. Respekt genießt er aber auch bei denjenigen, die nicht seiner Meinung sind. Wer ihm persönlich begegnet, erlebt einen englischen Gentleman, dem jede rebellische oder großsprecherische Attitüde vollkommen abgeht. „Der Buddhismus hat sich in den letzten tausend Jahren kaum geändert“, sagt er, „ich denke, eine Art Reformation ist überfällig."

Den historischen Buddha muss man sich als klugen Therapeuten denken

Tatsächlich klingt vieles, was Batchelor sagt und schreibt, sehr protestantisch. Er will die ursprüngliche Lehre Buddhas freilegen, damit seine Leser in direkten Kontakt mit ihr treten können, ohne Vermittlung durch Mönche oder Lamas. „Das ist purer Protestantismus“, sagt er selbst. Und nennt evangelische Theologen wie Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer als Inspirationsquellen für seine Arbeit.

Gautama, den historischen Buddha, muss man sich Batchelor zufolge wie einen klugen Therapeuten vorstellen, der versucht habe, Leiden zu verringern und zu ethischer Selbstverantwortung anzuleiten. Fragen nach dem Ursprung der Welt und dem Schicksal des Menschen nach dem Tod sei Gautama konsequent ausgewichen. Seine Lehre sollte ganz dem diesseitigen Leben dienen. Erst in den Jahrhunderten nach Gautamas Tod, so Batchelor, seien Glaubensinhalte wie Karma und Wiedergeburt übernommen worden.

Nun fällt Batchelors Arbeit in eine Zeit, in der die Achtsamkeitsbewegung weltweite Erfolge feiert. In allen größeren deutschen Städten werden Kurse für buddhistische Meditationstechniken angeboten, losgelöst von ihrem religiösen Kontext und meist unter dem Namen MBSR, der englischen Abkürzung für „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“. Krankenkassen bezuschussen die Kurse, die Auswirkungen auf Wohlbefinden und Gesundheit werden wissenschaftlich untersucht. Große Unternehmen wie Google schulen ihre Mitarbeiter schon seit Jahren in Meditation.

Batchelor berücksichtigt auch die politische Dimension

Manchen Buddhisten ist dieser Boom nicht geheuer. Sie fürchten den Ausverkauf und Missbrauch ihrer Ideale, um Menschen noch leistungsfähiger zu machen für den kapitalistischen Wettbewerb. Batchelor teilt diese Sorge nicht. „Nur weil sich Achtsamkeit, wie alles in unserer Welt, zur Ware machen und verkaufen lässt, entwertet das doch nicht die Sache an sich.“ Er setzt darauf, dass Kursteilnehmer einen inneren Freiraum gewinnen, um sich existenziellen Fragen zu stellen. Seine Bücher versteht er auch als Versuch, diesen nicht-religiös Meditierenden Orientierung zu bieten.

Vor allem gelingt es ihm, seine Interpretation des Dharma in passende literarische Formen zu gießen, bei seinen stark autobiografischen Bekenntnissen eines ungläubigen Buddhisten genauso wie in seinem neuesten Buch, „After Buddhism. Rethinking the Dharma for a Secular Age“. Darin nähert sich Batchelor dem historischen Buddha über einige Figuren aus dessen Umfeld – , nächstes Jahr erscheint der Band auf Deutsch.

Ein neuer Aspekt in „After Buddhism“ ist, dass Batchelor versucht, auch die politische Dimension einer säkularen Lehre zu berücksichtigen. „Der Buddhismus hat nie eine eigenständige politische Ideologie entwickelt“, erklärt er im Gespräch. „Aber es lassen sich Rückschlüsse auf die Haltung des historischen Buddha ziehen.“ Dieser sei Republikaner gewesen, obwohl damals in Indien die Monarchie auf dem Vormarsch war. Die Gemeinschaft seiner Anhänger habe er egalitär gestaltet, ohne Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Laien und Ordinierten.

Batchelor will zurück zu den Quellen

War Buddha also eine Art Proto-Demokrat? Batchelor lehnt die Bezeichnung ab, sie sei zu pauschal. „Klar ist aber, dass Gautama den Begriff ,Guru’ nie verwendet hat. Für die Zeit nach seinem Tod hat er sogar angeordnet, keinen neuen Führer zu bestimmen. Der Dharma allein sollte die Rolle des Lehrers übernehmen.“ Seine Anhänger hielten sich nicht daran. Nach Gautamas Tod übernahmen die erfahrensten Mönche der Gemeinschaft die Führung, etablierten Hierarchien, formulierten Dogmen. „Der Buddhismus, der daraus entstand, ist in vielerlei Hinsicht ein Verrat an den Vorstellungen des Buddha“, meint Batchelor. Mit seinem Projekt eines säkularen Dharma will er zurück zu den Quellen und noch mal von vorne beginnen.

Stephen Batchelor: After Buddhism. Rethinking the Dharma for a Secular Age, Yale University Press, Yale. 400 Seiten, 19, 45 €.

Sonntag, 29. Mai 2016

Nicht die Stagnation des Islam gilt es zu verstehen, sondern den Dynamismus der christlichen Welt.

aus Süddeutsche.de, 27. Mai 2016, 18:56 Uhr

Geschichte der Toleranz
Eine Reformation im Islam ist sinnlos
Der Islam kannte keine Aufklärung, so lautet ein gängiger Vorwurf. Aber er hatte sie auch gar nicht nötig - bis der Westen kam.

Gastbeitrag von Frank Griffel

Wenn im kommenden Jahr Luthers Reformation gefeiert wird, denken viele auch an den Islam. Die Probleme moderner islamischer Gesellschaften werden häufig damit erklärt, dass es im Islam keine Reformation und keine Aufklärung gab. Die Aufklärung gilt dabei als Zurückdrängung der Religion und Stärkung einer davon unabhängigen philosophischen Tradition.

Nach dem Untergang der arabischen Philosophie im Mittelalter fehle dem Islam ein Gegenpol zur Macht des Religiösen, wird oft beklagt. Neue Ansätze in der Islamwissenschaft aber versuchen zu zeigen, dass dem nicht so war, ja, dass es im Islam vor der Konfrontation mit dem Kolonialismus nie eine Situation gab, in der - wie in Europa - Reformation und Aufklärung nötig waren.

Seit ihrer Etablierung im frühen 19. Jahrhundert war die Erforschung der Philosophie im Islam ein Kernthema der westlichen Orientalistik. Hegel hatte noch abwertend über die Philosophie der Araber gesprochen. Aus der Generation nach ihm stammt eine Studie des französischen Religionsphilosophen Ernest Renan ("Averroès et l'averroïsme"), in der dieser die Philosophie des muslimischen Denkers Averroes, arabisch: Ibn Ruschd untersuchte.

Renan prägte darin das westliche Bild der Philosophie im Islam. Er behauptete, dass diese nach den Übersetzungen der griechischen Texte ins Arabische und nach großen Erfolgen in der klassischen Periode des Islam mit Averroes' Tod1198 unterging. "Mit ihm verlor die arabische Philosophie ihren letzten Vertreter," so Renan 1861, "und der Triumph des Korans über das freie Denken war für die nächsten sechshundert Jahre besiegelt."

Ganz im Sinne von Hegels wandelndem Weltgeist ging die Philosophie demnach zuerst von den Griechen zu den Arabern und kam dann mit den lateinischen Übersetzungen der Werke Averroes' im 13. Jahrhundert nach Europa. Wollte sie je nach Arabien und zum Islam zurückkehren, so meinte Ernest Renan, dann nur, wenn sich die Muslime die europäische Denkweise der Aufklärung aneigneten und damit die Herrschaft des Korans durchbrächen.

Politische Entmündigung der islamischen Welt problematisch

Renans Sicht setzte sich im Westen leicht durch. Nicht nur legitimierte sie den Kolonialismus und die politische Entmündigung der islamischen Welt, sie erklärte auch die scheinbar untergeordnete Stellung der islamischen Welt als einer Kultur, die sich selber ihrer Philosophie entledigt hatte und sie nun von Europa wieder erwerben musste. Um - erneut - in das Gefüge der zivilisierten Welt aufgenommen zu werden, muss der Islam sich reformieren und die Werte der Aufklärung annehmen.

1937 aber veröffentlichte der damals 29-jährige Islamwissenschaftler und Philosoph Shlomo Pines in der indischen Zeitschrift Islamic Culture einen Aufsatz, in dem er eine grundsätzliche Abkehr von dieser Darstellung vorschlug. Pines' Artikel hieß "Some Problems of Islamic Philosophy", war seiner Zeit um Jahrzehnte voraus und wird erst heute aufmerksam gelesen. Pines bestritt zuallererst, dass mit Averroes die Geschichte der Philosophie im Islam ihr Ende gefunden hatte.

Und er bot eine neue Sichtweise auf den einflussreichen Religionsgelehrten Mohammed al-Ghasali: Dieser habe nicht, wie oft behauptet, der Philosophie im Islam den Todesstoß versetzt. Im Gegenteil, wie man heute weiß: Dank al-Ghasalis Kritik entstand eine neue Art Philosophie, in der die alte Tradition griechischer Prägung neben einer neuen existierte. Diese neue Tradition der Philosophie im Islam hatte über Jahrhunderte Bestand und wird heute als "nachklassische Philosophie" des Islams eifrig erforscht. In ihr greifen Philosophie und Theologie ineinander. Diese nachklassische Periode reicht etwa von 1100 bis 1800.

Einer der einflussreichsten Theologen dieser Epoche beispielsweise, Fachraddin ar-Razi, war einer der scharfsinnigsten Interpreten des Aristoteles und verfasste sowohl einen wirkungsmächtigen Koran-Kommentar wie auch wichtige philosophische Enzyklopädien.

Im Gegensatz zur europäischen Philosophie zeichnet sich diese Tradition durch ein größeres Maß an Synthese aus. Pines hatte dies schon 1937 erkannt, als er schrieb, dass es den nachklassischen muslimischen Philosophen "in keiner Weise an neuen Ideen mangelte; sie waren oft jedoch damit zufrieden, sie in die alten Systeme einzubauen".

Gleichzeitig, so Shlomo Pines, war diese nachklassische Philosophie im Islam stabiler, weil sie durch Synkretismus bestimmt war, also durch das Ineinanderwirken verschiedener Traditionen, ohne dass sich diese bekämpften. "Die islamische Zivilisation war verschiedenen orientalischen, persischen und indischen Einflüssen ausgesetzt und enthielt schon von vornherein eine größere Anzahl von Elementen unterschiedlicher Herkunft als die europäische. In ihrer weiteren Entwicklung hat sie im Fall eines Konfliktes zwischen zwei philosophischen Systemen in der Regel nicht eines davon eliminiert, sondern sie ließ beide - entweder Seite an Seite oder auf verschiedenen Ebenen - bestehen."

Damit gilt für die Philosophie in der islamischen Welt gerade nicht, was Hegel als Regel der Philosophiegeschichte überhaupt postuliert hatte: dass sich nämlich im Konflikt zweier Denksysteme ein drittes, neues durchsetzt, das dann die vorherigen "aufhebt". Diese Hegel'sche "Dialektik" hat Generationen von Wissenschaftshistorikern im Westen beeinflusst.

Sie ist zudem ein Bestandteil der These des Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn, nach der sich Phasen der Normalwissenschaft mit kurzen, wirkungsreichen wissenschaftlichen Revolutionen abwechseln. All dies gehört heute zum Selbstverständnis des wissenschaftlichen Fortschritts im Westen, den dieser als Fortschritt der Menschheit überhaupt versteht.

Eine Gesellschaft auf der Suche nach Ausgleich

Im Verlauf des letzten Jahrzehnts entstand in der Islamwissenschaft aber eine Sichtweise, die von einem grundsätzlich anderen Wesen der islamischen Geisteskultur vor ihrer Zerstörung durch den europäischen Kolonialismus ausgeht. So schrieb beispielsweise Wael Hallaq, Professor für islamisches Recht an der Columbia Universität in New York, 2012 in seinem Buch "The Impossible State", dass die klassische islamische Scharia, so wie sie vor 1800 in Ägypten oder Syrien praktiziert wurde, ein auf ihre Gesellschaften abgestimmtes Rechtssystem war.

Was Konfliktlösungsstrategien angeht, sei sie ihrem westlichen Pendant überlegen gewesen. Das Geheimnis ihres Erfolges lag darin, nicht wie im westlichen, vor allem europäisch-kontinentalen Rechtsdenken, eine einzige Lösung für streitende Parteien oder konkurrierende Rechtsprinzipien anzugeben, sondern mehrere. Alle konnten mit gleicher Legitimität abgeleitet werden.

Solche Rechtspraxis spiegelt eine Gesellschaft wider, in der es keine radikalen Verwerfungen wie die kopernikanische oder die französische Revolution gab. Hier gab es keine Aufklärung, keinen Aufruhr gegen die Religion, stattdessen war sie geprägt von Synthesis und der Suche nach Ausgleich. Hier verband sich Religion etwa erfolgreich mit Philosophie, ja, sogar mit Freidenkertum und dem Herumstreunen halb nackter Derwische. Die "Kalandars" beispielsweise waren so etwas wie eine islamische Hippie-Bewegung, die sich den etablierten Normen widersetzten.

Es war dies eine Gesellschaft, in der es keinen Mainstream, sondern vor allem Nischen gab, schwach abgegrenzte Bereiche, in denen die Sufis ebenso ungestört ihre Kreise drehen konnten, wie die Astronomen neue Theorien von Planetenbewegungen ausprobierten- alle im geozentrischen Modell natürlich.

Dies mag sich nicht mit dem westlichen Anspruch nach Fortschritt vertragen. Es führte jedoch zu Gesellschaften, die von Toleranz geprägt waren, in denen die Literatur und die Künste florierten und die eine Vielzahl von Rollenmodellen anboten. Für europäische Beobachter, die an ihnen nicht teilhatten, waren sie aber nichts anderes als rückständig und arm, verdammt dazu, ihre eigenen Werturteile aufzugeben und die des Westens anzunehmen.

Muslimische Gesellschaft passt sich seit Jahrhunderten an

Militärische Siege, vereint mit der Strahlkraft des materiellen Fortschritts westlicher Industrialisierung, führten denn auch zum schnellen Ende dieser Organisationsformen und Denktraditionen. Sie schafften sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts quasi selber ab, ersetzten ihre alten Madrasas mit Polytechniken französischer Prägung, verdrängten die Scharia zugunsten adaptierter Versionen des Code Napoléon sowie schweizerischer Gesetzbücher.

Wer heute fordert, dass sich der Islam reformieren und an den Westen anpassen muss, vergisst, dass das gesamte 19. Jahrhundert und frühe 20. Jahrhundert für muslimische Gesellschaften ein einziger Anpassungsprozess war. Europäische Bildungssysteme, Lehrbücher sowie Verfassungen und Gesetzesbücher wurden übernommen.
 
Manche Länder wie die Türkei übernahmen gar ein europäisches Alphabet und schnitten sich von ihrer Geschichte und Literatur ab, die bald niemand mehr lesen konnte. Alles Islamische galt als hinderlich auf dem Weg in die Moderne. Am Ende dieser Entwicklung standen geistig entwurzelte Gesellschaften, die jedoch - weil sie nach wie vor muslimisch geprägt waren - vom Westen weiterhin nicht als vollwertig anerkannt wurden und werden.

Ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der vormodernen muslimischen Geisteskultur findet sich auch in Thomas Bauers Buch "Die Kultur der Ambiguität" aus dem Jahr 2011. Darin beschreibt er, wie in vormodernen islamischen Literaturen mehrere Lösungs- oder Interpretationsvorschläge nebeneinander bestehen konnten. Der gebildete Korankommentator gab eine Vielzahl von Interpretationen an seine Studenten weiter, ohne eine einzige zu bevorzugen.

Der gelehrte Philosoph konnte alle Argumente für oder gegen eine Position so präsentieren, als seien sie seine eigenen. Ja, was schließlich das "Eigene" ist, also die Problemlösung, der sich ein Korankommentator oder Philosoph anschloss, blieb häufig unbeantwortet. Dabei wurde durchaus abgewogen, und die Fülle der Ansätze wurde verglichen und bewertet. Es musste aber nicht eine einzige Lösung, ein einziges Bekenntnis geben, sondern mehrere konnten nebeneinander bestehen.

Vormoderne muslimische Gesellschaften bieten viele Rollenbilder

Für Bauer leiden unsere modernen westlichen Gesellschaften an mangelnder Ambiguitätstoleranz. Wir sind beispielsweise entweder hetero- oder homosexuell und fragen uns automatisch, ob der Dichter arabischer Verse des15. Jahrhunderts, in denen der Genuss der Liebe sowohl mit Männern wie mit Frauen besungen wird, nun auch das eine oder das andere war. Unser Verständnis von Hetero- oder Homosexualität lässt kaum ein drittes zu.

In den vormodernen muslimischen Gesellschaften hingegen standen mehr Rollenbilder, auch diversifiziertere, zur Verfügung. Moderne westliche Beobachter von vormodernen islamischen Gesellschaften sind schlecht ausgerüstet, sie zu verstehen. Ihre Blütenpracht ist für uns oft nichts weiter als ein Meer

Moderne Muslime sind von dieser Vielfalt und Toleranz genauso abgeschnitten wie wir. Heutige muslimische Gesellschaften, so Hallaq, sind nur ein Abklatsch dessen, was sich als islamische Kultur über Jahrhunderte herausbildete. Wer sie heute mit der Wiedereinführung der Scharia zurück in ideale muslimische Gesellschaften verwandeln will, kann nur scheitern. Ein moderner Staat, der von der Scharia geprägt ist, wird so zu einem Ding der Unmöglichkeit. Er ist Hallaqs "unmöglicher Staat" und muss seine Unzulänglichkeit mit totalitären Mitteln überspielen.

Der fundametalistische Islam ist intolerant

Niemand würde auf die Idee kommen, das Leben unter dem selbsternannten "Islamischen Staat" als geprägt von Toleranz und einer Großzahl von Rollenentwürfen zu bezeichnen. Ganz im Gegenteil. Der fundamentalistischeIslam ist intolerant und lehnt die Vielfalt der vormodernen muslimischen Gesellschaften ab.

Aber es ist eben auch ein Fehler, im islamischen Fundamentalismus eine Rückkehr in die muslimische Vergangenheit zu sehen. Tatsächlich entstand islamischer Fundamentalismus erst im Verlauf des letzten Jahrhunderts aus einer modernen Bewegung, die sich bewusst gegen traditionelle Gesellschaftsentwürfe im Islam richtete. Auch den muslimischen Fundamentalisten gelten die vormodernen islamischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts als rückständig und korrupt.

Sie werden - nicht zu Unrecht - für die militärischen Niederlagen gegen die Europäer verantwortlich gemacht. Ambiguität verträgt sich nicht gut mit militärischer Disziplin einer modernen Armee. Der fundamentalistische Islam al-Qaidas und des IS fordert aber ebenjene militärische Disziplin von seinen Anhängern, wie auch das Bekenntnis zu einer einzigen Art, den Koran zu lesen - ohne andere auch nur zu kennen.

Die oft gehörte Forderung, der Islam müsse sich reformieren und die Werte der Aufklärung übernehmen, ist aus der Kenntnis vormoderner islamischer Gesellschaften heraus sinnlos. Unser Verständnis vom Niedergang muslimischer Gesellschaften nach ihrer angenommenen klassischen Blütezeit - also um 1200 nach Christus - ist verfehlt. Sicher, nachklassische islamische Gesellschaften hatten auch ihre Probleme - autoritäre Strukturen und Mangel an politischer Partizipation etwa -, aber sie waren frei von den Missständen, die in Europa die Reformation und die Aufklärung zur Folge hatten, und damit auch frei von der Gewalt, die diese Umwälzungen erzeugten.

Der nachklassische Islam kennt keine Hexenverbrennungen

"Weder gab es einen organisierten Klerus", schreibt Bauer, "noch eine Unterdrückung von Philosophie und Naturwissenschaften und auch keine Ketzerprozesse gegen Rationalisten." Hier hat die westliche Islamwissenschaft der letzten zwei Jahrhunderte einen falschen Eindruck erweckt: Der nachklassische Islam kennt keine Hexenverbrennungen, keinen Index verbotener Bücher und keine Religionskriege - alles Phänomene, die Europa plagten.

Vielleicht ist dieser neue Blick auf die vom Kolonialismus zerstörten islamischen Gesellschaften nichts als eine andere Art der Verbrämung, im Islam wieder einmal einen Gegenentwurf zu westlichen Gesellschaften zu sehen, diesmal aber einen positiven, in dem die Übel der Moderne vermieden wurden.

Doch selbst, wenn es eine Romantisierung sein mag, geht sie mit einem kritischen Blick auf das Eigene einher. Es scheint, als habe Europa sein Gegenüber auf der anderen Seite des Mittelmeeres lange missverstanden. Da mag selbst ein idealisierender Blick auf dieses andere - sofern er letztlich der Forderung nach einer Aufklärung des Islam ein Ende setzt - eine willkommene Abwechslung sein.

Frank Griffelist Professor für Islamwissenschaften an der Yale-Universität und derzeit Gastprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.


Nota. -  Der Verfasser tut selber, was er bei andern kritisiert: Er wendet eine westliche Kategorie auf eine sehr orientalische Realität an. Er spricht von "Toleranz" so, als habe es im Islam einer Aufklärung nie bedurft, aber das, was er bezeichnet, war nur Indolenz und östliche Schicksalsergebenheit - die allerdings ungeeignet waren, dem Vordringen des dynamischen Okzident Widerstand zu leisten. Nichts anderes behaupten auch die Salafisten. Nein, Eklektizismus und die Schläue, sich überall die Rosinen rauszupicken, sind das Gegenteil von kritischem Geist, der Wissenschaft (und übrigens die Kant'sche Selbstbeschränkung der Philosophie) erst möglich macht.

Es ist, glaube ich, ein Holzweg, nach den Faktoren zu suchen, die den Islam gehindert haben, aus sich heraus eine Entwicklungsdynamik zu entfalten, wie sie der Westen seit Reformation und Aufklärung gekannt hat. Das ist ja gerade Eurozentrismus: die westliche Geschichte als den Normalfall anzusehen, den alle andern verfehlt haben! Der Westen, die bürgerliche Zivilisation, der Kapitalismus waren die Ausnahme, die sich als dem Weiter-so der andern Erdteile überlegen erwiesen hat. Nicht die Gründe für das Zurückbleiben der andern, sondern die Umstände, die Europa (nach ursprünglichem Rückstand!) befähigt haben, den Rest der Welt zu überholen, gilt es zu verstehen; nicht den Konservatismus des Islam, sondern den Dynamismus des Christentums.

Und da haben wir auf der Hardware-Seite ausgerechnet... die Ausbildung eines sakralen Klerikerstandes und seiner Kirche. Nur weil diese als ein Corps konstituiert waren, konnten sie, als die Zeit gekommen war, identifiziert und - aus der weltlichen Herrschaft ausgeschieden werden.

So weit wäre es aber gar nicht erst gekommen ohne die christliche Software: Das Leben des Christen ist eine Pilgerfahrt, auf der er scheitern kann; der Christenmensch (und paradoxer Weise gerade der calvinistische Fatalist!) muss sich vor seinem Gott bewähren, er kann sich nicht in sein Schicksal ergeben wie ein orientalischer Weiser. Er ist selbstverantwortliches Subjekt, und nur so konnte er es werden.

Wenn es auch angesichts von IS und Selbstmörderterrror absurd klingt: Das Christentum ist wesentlich kämpferisch, nicht der Islam; Islam heißt Ergebung. 
JE 

 

Freitag, 27. Mai 2016

Neue Rätsel um Neandertaler.


 Paläoanthropologie
aus scinexx                                  Die 176.000 Jahre alte Konstruktion besteht aus zwei größeren Kreisen und vier kleineren Gebilden.

Rätselhaftes Höhlen-Bauwerk der Neandertaler entdeckt
Ringförmige Tropfstein-Konstruktion ist bereits 176.000 Jahre alt

Sensationelle Entdeckung: In einer Höhle in Südfrankreich haben Archäologen die möglicherweise älteste Konstruktion der Menschheit entdeckt. Es handelt sich um mehrere Kreise aus aufgestellten Tropfsteinstücken, von denen viele Brandspuren tragen. Die rätselhaften Tropfstein-Kreise sind rund 176.000 Jahre alt und können daher nur von Neandertalern errichtet worden sein – wozu, ist bisher unbekannt, wie die Forscher im Fachmagazin "Nature" berichten.In den letzten Jahren haben archäologische Funde gezeigt, dass die Neandertaler in Vielem weit fortschrittlicher waren, als man es ihnen früher zugetraut hätte. So stellten sie bereits effiziente Spezial-Werkzeuge her,schufen Schmuck und frühe Felskunst. Als Baumeister jedoch taten sie sich noch nicht hervor – erste Zeugnisse von baulichen Konstruktionen waren bisher erst aus der Zeit vor rund 20.00 Jahren bekannt.

Doch eine überraschende Entdeckung könnte nun unser Bild des Neandertalers auch in dieser Hinsicht revolutionieren. In der Bruniquel-Höhle im Südwesten Frankreichs haben Jacques Jaubert von der Universität von Bordeaux und seine Kollegen menschengemachte Konstruktionen Konstruktionen gefunden, die nur von den Neandertalern stammen können.

Rätselhafte Tropfstein-Kreise

Es handelt sich dabei um auf mehrere fast kreisförmige Anordnungen von Tropfstein-Stücken in einer großen Kammer rund 336 Meter vom Höhleneingang entfernt. Sie bilden zwei große, fast geschlossene Ringe von sechs und gut zwei Metern Durchmesser, sowie vier kleinere Gebilde, wie die Forscher berichten. Insgesamt 400 Tropfsteinstücke von jeweils durchschnittlich 35 Zentimeter Länge wurden für diese Konstruktionen aufgestellt und teilweise übereinander geschichtet.

"Einige Stalagmiten wurden vertikal gegen die Hauptstruktur gestellt, ähnlich wie Stützen, um die Konstruktion vielleicht zu verstärken", berichten die Wissenschaftler. Die gleichmäßige Größe der Fragmente und ihre Anordnung sprechen ihrer Ansicht nach dafür, dass es sich hier um keine natürliche Formation handelt, sondern um ein absichtlich errichtetes Bauwerk. Ein weiteres Indiz dafür liefern Feuerspuren an den Steinen sowie an einigen in der Nähe entdeckten Tierknochen.

Neandertaler als Baumeister

Doch wer waren die Baumeister dieser rätselhaften Höhlen-Konstruktionen? Eine Datierung mit Hilfe von Isotopenmessungen ergab, dass diese Tropfsteinkreise vor rund 176.000 Jahren errichtet worden sein müssen. "Die einzige menschliche Population, die in dieser Periode in Europa lebte, waren frühe Neandertaler", so Jaubert und seine Kollegen. Ihrer Ansicht müssen diese seltsamen Steinkreise daher von ihnen errichtet worden sein.

"Allerdings: Dass diese Frühmenschen so tief in Karsthöhlen eindrangen, wo es kein Licht mehr gab, ist äußerst ungewöhnlich. "Bisher gab es keine Belege für regelmäßige Exkursionen der Neandertaler in Höhlen, bis auf einige mögliche Fußabdrücke", so die Forscher. Generell waren Konstruktionen innerhalb von Höhlen bisher aus der Altsteinzeit völlig unbekannt.

In zweifacher Hinsicht einzigartig

"Die Entdeckung der Bruniquel-Konstruktionen und ihre Zuordnung zu den Neandertalern ist auf gleich zweifache Weise beispiellos", konstatieren Jaubert und seine Kollegen. Zum einen ist sie der erste Beleg für die Nutzung tiefer Höhlen durch eine prämoderne Menschenart. "Dies stellt einen bedeutenden Schritt für die Modernität des Menschen dar", so die Forscher.

Zum anderen handelt es sich um Konstruktionen, die so noch nie gefunden wurden. "Sie sind erstellt aus hunderten von kalibrierten, zerbrochenen Stalagmiten, die absichtlich bewegt und an ihren jetzigen Platz gebracht wurden", sagen die Wissenschaftler. Diese Kreise sind damit bereits erstaunlich ausgearbeitet und gehören zu den ältesten bekannten Bauwerken der Menschheit.

Ritual-Kreise oder einfach eine Zuflucht?

Die Entdeckung dieser Tropfstein-Kreise bestätigt, dass die Neandertaler schon in ihrer Frühzeit deutlich weiter entwickelt gewesen sein müssen als lange angenommen. Denn sie nutzten nicht nur Feuer und eroberten die Dunkelheit tiefer Höhlen, sie gestalteten auch ihre Umwelt nach ihren Bedürfnissen und errichten dafür Konstruktionen.

Die seltsamen Höhlen-Kreise werden aber auch einige neue Fragen auf: Was war die Funktion dieser Strukturen - so weit vom Höhleneingang entfernt? Warum finden sich die meiste Feuerspuren nicht am Höhlenboden, wo man sie erwarten würde, sondern oben auf der Tropfstein-Konstruktion?

"Ausgehend von unserem Wissen über die Höhlennutzung in der späten Altsteinzeit würden wir annehmen, dass diese Gebilde eine Art rituellen oder symbolisches Verhalten repräsentierten", sagen die Forscher. "Aber vielleicht dienten sie ja auch einer bisher unbekannten Alltagsnutzen oder einfach als Zuflucht? Künftige Forschungen müssen nun versuchen, hier Antworten zu finden." (Nature, 2016; doi: 10.1038/nature18291)

(Nature, 26.05.2016 - NPO) 



Eine 3-D-Rekonstruktion der erbauten Strukturen. 
aus nzz.ch,

Versteckte Kultstätte
Neandertaler bauten im Untergrund
In einer über Jahrtausende verschlossenen Höhle ist eines der ältesten «Bauwerke» der Menschheit erhalten geblieben. Es zeigt den Neandertaler als komplex handelndes, soziales Wesen.

von Stephanie Lahrtz

Die Neandertaler haben den Ruf, wenig kultiviert gewesen zu sein, obwohl Wissenschafter schon länger ein anderes Bild zeichnen. Nun gibt es einen weiteren Hinweis, dass diese Frühmenschen über erstaunliche Fähigkeiten verfügten: eine ungefähr 175 000 Jahre alte Konstruktion aus Steinen in einer Höhle in Südwestfrankreich. Das Alter des Bauwerks ist schon eine kleine Sensation. Der Fund liefert ausserdem ein gewichtiges Argument für die Rehabilitation der Neandertaler. Da zu dieser Zeit nach heutiger Kenntnis keine andere Homo-Spezies in Europa lebte, kommen nur sie als Erbauer infrage.

Die Anlage besteht aus zwei Halbkreisen und vier Stapeln, errichtet aus meterlangen Stalagmiten (vom Boden wachsende Tropfsteine). Die «Architekten» müssten sowohl über ausgeprägte kognitive als auch über soziale Fähigkeiten verfügt haben, schreiben Forscher im Journal «Nature», nachdem sie die Anlage während mehr als zwei Jahren analysiert haben. Denn die Konstruktion sei durchaus komplex. Die Halbkreise sind rund 40 Zentimeter hoch und 6,7 Meter beziehungsweise 2,2 Meter lang. Die Haufen sind etwa 2,6 Meter breit. Insgesamt wurden für die Konstruktion 400 Stalagmiten verwendet und bearbeitet.

Eine solche Konstruktion benötigt Zeit, Ausdauer, Kooperation und einen durchdachten Plan. Unklar ist, ob das gesamte Bauwerk erhalten geblieben ist. Die Höhle ist ein absoluter Glücksfall für die Forscher, denn sie wurde vermutlich relativ bald nach der Errichtung der Halbkreise und Stapel durch Geröll versperrt, so dass die Konstruktion über viele Jahrtausende unangetastet blieb.

Wahrscheinlich eine Kultstätte

Den Erbauern war ihre Anlage offenbar sehr wichtig. Denn man muss gut 300 Meter durch ein unterirdisches Gangsystem gehen, bis man zur Höhle gelangt. Die Neandertaler müssen also Feuer als lang anhaltendes Beleuchtungsmittel gut beherrscht haben. Bis heute kennt man keine andere von Frühmenschen errichtete Stätte aus dieser Zeit, die sich derart weit weg von einer natürlichen Lichtquelle befindet. Man hatte lediglich Reste von Übernachtungs- oder winterlichen Rückzugsplätzen bei Höhleneingängen gefunden.

Völlig im Dunklen ist allerdings, welchen Zweck die Anlage einst hatte. Die Forscher fanden einige Brandspuren auf einzelnen Stalagmiten und einen kleinen, ebenfalls angebrannten Knochen. Diese Verbrennungen müssten gemäss der Analyse von Anlage und Höhle an Ort und Stelle stattgefunden haben, schreiben sie.

Da weitere Knochen fehlen, gehen die Experten derzeit nicht von einer Begräbnisstätte aus. Für Christoph Zollikofer, Anthropologe an der Universität Zürich, dürfte es sich um eine Stätte für Kulte oder symbolische Handlungen handeln. Die Lage im Höhlensystem sowie auch die Tatsache, dass keine Reste von Alltagsgegenständen gefunden wurden, ist auch für Philipp Gunz vom Max- Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig ein Argument dafür, dass es sich nicht um einen Wohnort handelt.

Homo sapiens dem Neandertaler nicht überlegen

Die Stätte sei sehr ungewöhnlich und faszinierend, finden Zollikofer und Gunz. Aber es sei nicht überraschend, dass Neandertaler zu solchen Konstruktionen in der Lage gewesen seien. Denn in Europa und Asien gefundene Schädel von Neandertalern wie von Homo sapiens zeigen, dass deren Gehirne ähnlich gross waren. «Es gibt keine Gründe anzunehmen, dass damals eine Menschenart der anderen neurobiologisch überlegen war», betont Zollikofer. Auch die von den beiden Menschenarten vor 200 000 oder 100 000 Jahren verwendeten Werkzeuge seien vergleichbar, was auf ähnliche handwerkliche wie kognitive Fähigkeiten schliessen lasse.

Warum sich der Homo sapiens durchgesetzt hat und der Neandertaler ausgestorben ist, bleibt weiterhin ein grosses Rätsel. Zollikofer vermutet, dass sich aus unbekannten Gründen vor ungefähr 50 000 Jahren die technologische und kulturelle Entwicklung des modernen Menschen massiv beschleunigt hat. Zwar hätten auch Neandertaler diesen Sprung aufgrund ihrer biologischen Voraussetzungen machen können, doch das sei eben nicht passiert, warum auch immer. Genauso wenig könne man heute erklären, warum das Internet plötzlich in Genf erfunden worden sei und das Smartphone in den USA. Als vor schätzungsweise 40 000 Jahren in Europa die Neandertaler und die Auswanderer aus dem Osten aufeinandertrafen, war die eine Gruppe der anderen technologisch überlegen.

Die Forscher bei der Arbeit in der Höhle. 

Mittwoch, 25. Mai 2016

Islam heißt Unterwerfung, integrieren heißt einordnen.

 aus nzz.ch, 25. 5. 2015

Therwiler Schule
Muslime werden zum Handschlag gezwungen
Die Religionsfreiheit lässt die Verweigerung des Händedrucks gegenüber einer Lehrerin nicht zu, zeigen rechtliche Abklärungen. Auch ein Facebook-Eintrag eines Therwiler Schülers hat Folgen 

von Daniel Gerny

Ein Sturm der Entrüstung erfasste den Kanton Basel-Landschaft und den Rest der Schweiz, als im April bekannt wurde, dass ein Brüderpaar muslimischen Glaubens an einer Therwiler Schule ihrer Lehrerin den Handschlag verweigert. Jetzt stellt die Bildungsdirektion des Kantons aufgrund von rechtlichen Abklärungen fest: Das Verweigern des Händedrucks gegenüber weiblichen Lehrpersonen fällt zwar in den Schutzbereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Doch die Pflicht zum Händedruck ist zulässig.

Dies, weil «der muslimische Glauben nicht in seinen zentralen Teilen berührt» werde, wenn der Handschlag verlangt werde. Die Therwiler Schule wird gestützt auf die rechtliche Abklärung den Händedruck nun wieder einfordern, heisst es in einer Medienmitteilung. Nach dem Eklat infolge des verweigerten Handschlages hatte die Schule eine vorübergehende Kompromisslösung gefunden und die Schüler generell vom Händeschütteln befreit, um so den Geschlechter diskriminierenden Charakter der religiös begründeten Zurückweisung zu begegnen.

Begründet wird das Obligatorium zum Handschlag auch mit dem wachsenden öffentlichen Interesse an der Integration der zunehmenden Zahl von Muslimen: «Dies gilt sicherlich noch vermehrt aufgrund der jüngsten Terrorereignisse in Europa. Integration verlangt, dass die Stellung der Frau in der hiesigen Gesellschaft anerkannt wird.» Weigern sich die beiden Schüler – Söhne eines den Basler Behörden bekannten Muslims mit radikalen Ansichten – weiterhin, ihrer Lehrerin die Hand zu schütteln, müssen sie mit saftigen Sanktionen rechnen.

Die Baselbieter Bildungsdirektorin Monica Gschwind hat den Leiterinnen und Leiter der kantonalen Volksschulen mitgeteilt, dass in diesem Falle die Sanktionsmöglichkeiten des Bildungsgesetzes zur Anwendung kommen. Neben Ermahnungen der Eltern und disziplinarischen Massnahmen der Schüler sieht es Busse bis zu einer Höhe von 5000 Franken vor. ... 


Nota. - In besagter Therwiler Schule herrscht der freundliche Brauch, dass der Lehrer jedem Schüler des Morgens vor Unterrichtsbeginn die Hand schüttelt. Und eben auch die Lehrerin. Die beiden muslimischen Jungen sagten, das verböte ihnen ihre Religion, einer Frau die Hand zu geben. Die Bildungsdirektion von Baselbiet eiert. Es ist weder ihre Sache, zu erwägen, ob diese Auslegung der islamischen Lehren richtig ist, noch, ob sie gegebenenfalls deren "zentralen Teile berührt". Sie müsste schon etwas gründlicher nachdenken.

Das ist aber nicht der Grund, weshalb ich die Sache hier wiedergebe. Sondern weil ich mich frage: Was würde in einem solchen Fall in Deutschland geschehen, wenn es sich um Flüchtlinge handelte? Ich sage Ihnen, was meiner Meinung nach geschehen sollte: Man sollte den beiden Jungen und ihrer Familie sagen, wenn sie in keinem Land leben mögen, wo Schüler ihrer Lehrerin die Hand geben müssen, dann hätten sie nicht in ein solches flüchten sollen; sondern, sagen wir, bei Erdogan unterkommen.

Ach, das brächte aber Multikulti und die Willkommenskultur in Verlegenheit. Hexen verbrennen und Ehebrecherinnen steinigen sind doch schönes altes Volksbrauchtum, sollten wir da nicht tollerant mit umgehen? 

Ich sagte es schon: Es war sehr schädlich, das Thema, wie sich Europa auf die kommenden Völkerwanderungen vorbereiten soll, mit gutmenschelndem Gesinnungskitsch zu vermengen. Europa wird ihnen nur gewachsen sein, wenn es integer bleibt - wie sollen sich die Neuankömmlinge denn sonst integrieren können? Sie hätten die alte Heimat verlassen und keine neue gefunden.

*

Es ist aber nicht in Deutschland passiert und es handelt sich offenbar nicht um Migranten, sondern um Ansässige. Da würde sich generell zunächst einmal die Frage stellen: Hat der Islam Anspruch auf dieselben Privilegien wie die einheimischen Kirchen? Ja, das ist ein weites Feld. Deren Privilegien sind das Erbe von zweitausend Jahren. Die Frage ist, was davon nicht inzwischen anachronistisch geworden ist und ersatzlos gestrichen werden kann; aber bestimmt nicht, was davon auf neu Hinzugekommene auszudehnen wäre!
JE

Dienstag, 24. Mai 2016

Wie kam die Moral in die Welt?

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Wie kam die Moral in die Welt? 
Vorträge von Philip Pettit

Bernd Frye 
Public Relations und Kommunikation
Goethe-Universität Frankfurt am Main  

20.05.2016 11:35 

Bei der Veranstaltung der Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata“ in Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität spricht der politische Philosoph am 30. und 31. Mai 2016 über „How Language Gives Birth to Ethics“.

FRANKFURT. Wenn sich einer der meistdiskutierten politischen Philosophen der Gegenwart einem ebenso zeitlosen wie grundlegenden Thema auf neue Art und Weise widmet, darf man schon gespannt sein. Philip Pettit, gebürtiger Ire mit Professuren in Princeton, USA, und an der Australian National University in Canberra, fragt, wie die Moral in die Welt gekommen sei. Wie entstanden allgemeine Vorstellungen von Richtig und Falsch, Gut und Böse, und wann kann man jemanden wirklich für sein Handeln verantwortlich machen?

„How Language Gives Birth to Ethics“ heißt die zweiteilige Vorlesung an der Goethe-Universität, in der Pettit diesen Fragen nachgehen wird. Er entwickelt seinen Gegenstand in aufeinander aufbauenden Vorträgen. Sie beginnen jeweils um 18.15 Uhr im Hörsaalzentrum (Raum HZ 3) auf dem Campus Westend. Am 30. Mai geht es um „Reports, avowals and pledges“, und am 31. Mai stehen „Desirability and responsibility“ im Mittelpunkt. Veranstaltet werden die Vorlesungen – sie finden in englischer Sprache statt – von der Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata“ in Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Der Eintritt ist frei, die interessierte Öffentlichkeit herzlich willkommen.

Für Philip Pettit ging die Entwicklung moralischer Vorstellungen Hand in Hand mit einer Ausdifferenzierung des Sprachgebrauchs. Mögen Menschen in frühen Phasen der Zivilisationsgeschichte vor allen Dingen einfache Mitteilungen („reports“) über Sachverhalte des Alltags ausgetauscht haben, war ihre Kommunikation in der Folgezeit auch zunehmend davon geprägt, Wünsche und Hoffnungen auszudrücken, sich selbst anderen gegenüber zu erklären und Versprechungen abzugeben. Mit diesem Wandel der Gewohnheiten schlug auch die Geburtsstunde der Moral.

Die Entstehung der Moral, wie sie Pettit rekonstruiert, ist ganz wesentlich mit dem Wunsch der Menschen verbunden, als verlässliche und glaubwürdige Gesprächspartner ernst genommen zu werden. Um dies zu erreichen, legen sie ihre Überzeugungen und Wünsche offen und gehen damit Verpflichtungen ein, an denen sie gemessen werden können. Durch derartige  Praktiken – nicht nur von Individuen, sondern auch von größeren Gruppen – bilden sich Muster des Erwünschten und Wünschenswerten, die uns in die Lage versetzen, Handlungen zu beurteilen und Akteure verantwortlich zu machen.

Philip Pettit ist Laurance S. Rockefeller University Professor of Politics and Human Values an der Princeton University und Distinguished University Professor of Philosophy an der Australian National University. Er gilt als einer der bedeutendsten politischen Philosophen der Gegenwart, dessen Breitenwirkung auf die philosophische und politiktheoretische Diskussion der letzten Jahre kaum zu unterschätzen ist. Als politischer Berater war er unter anderem für die spanische Regierung unter José Luis Zapatero tätig.

Neben zahlreichen wichtigen Beiträgen zur Metaphysik und der Philosophie des Geistes, zur Sozialontologie und Philosophie der Sozialwissenschaften sowie zur Moralphilosophie hat er mit seinem Buch „Republicanism: A Theory of Freedom and Government“ (1997) maßgeblich zu einer Wiederbelebung republikanischen politischen Denkens beigetragen. Eine seiner jüngsten Publikationen ist im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienen: „Gerechte Freiheit – Ein moralischer Kompass für eine gerechte Welt“. Hier plädiert Pettit für das Ideal der Freiheit als Nichtbeherrschung in ihrer ursprünglichen republikanischen Form.

Justitia Amplificata („Erweiterte Gerechtigkeit - konkret und global“) ist eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Kolleg-Forschergruppe an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und an der Freien Universität Berlin. Die Forschergruppe und den Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität verbinden zahlreiche Kooperationen.

Gastwissenschaftler beider Institutionen arbeiten am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität in Bad Homburg. Dort forscht Philip Pettit in diesen Wochen als Senior Fellow von Justitia Amplificata. Im Wintersemester 2011/2012 hielt der Philosoph zwei vielbeachtete Vorträge zum Thema „Republican Justice and Democracy“ im Rahmen der Frankfurt Lectures des Exzellenzclusters.

Philip Pettit: How Language Gives Birth to Ethics
Montag, 30. Mai 2016, Lecture I: Reports, avowals and pledges
Dienstag, 31. Mai 2016, Lecture II: Desirability and responsibility

Jeweils18.15 Uhr, Campus Westend, Hörsaalzentrum HZ 3
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Theodor-W.-Adorno-Platz 5, 60323 Frankfurt am Main

Vorträge in englischer Sprache.
Der Eintritt ist frei, die interessierte Öffentlichkeit herzlich willkommen.

Kontakt:
Koordinationsbüro der Kollegforschergruppe „Justitia Amplificata“, Valérie Bignon, Tel.: 069/798-36524, Mail: bignon@em.uni-frankfurt.de,
http://www.justitia-amplificata.de, http://www.normativeorders.net/de

Weitere Informationen: http://www.normativeorders.net/de/component/content/article/69-veranstaltungen/4... - Weitere Details zu den Vorträgen
Nota. - Es verschlägt einem doch jedesmal wieder die Spucke, welche jämmerlichen Platitüden es in den Vereinigten Staaten zu akademischer Prominenz bringen - und danach auch noch uns Europäer zu verblöden heischen! Da haben sie in wirklich jedem Fach eine Handvoll Koriphäen, die Weltspitze sind; aber danach kommt erst mal über eine endlose Durststrecke nichts. Der durchschnittliche amerikanische Hochschulabsolvent ist so dumm, dass es einem die Tränen in die Augen treibt. Dort entfalten sich dann rhetorische Talente, deren Breitenwirkung auf die philosophische und politiktheoretische Diskussion der kommenden Jahre kaum zu unter(!)schätzen ist.
Diesmal Philip Pettit also. Er tischt uns eine kindische Robinsonade auf, wo lauter isolierte Individuen den Wunsch entwickeln (nach der wievielten Generation?), "Gesprächspartner" zu finden, von denen sie 'ernstgenommen' werden; und so entwickelt sich die Sprache, in der sie ihre Wünsche und Privatmeinungen austauschen, und da ein Wort das andere gibt, bilden sich allmählich werthaltige Redeweisen aus, die schließlich einen moralischen Kompass für die ganze Welt bieten. 
Der unbedarfte gesunden Menschenverstand wird vermuten, das Recht sei entstanden, indem nach und nach alle ihre persönlichen Moralvorstellungen auf den Tisch gepackt und schließlich eine Quersumme daraus gezogen haben. Und so erwartet er, dass das positive Recht sich die Moral, aus der es stamme, zum aktuellen Maßstab nimmt.
Der historisch informierte und mit kritischem Auge bewehrte Denker könnte ihm entgegenhalten, die Menschen hätten bei der Reproduktion ihres materiellen Lebens von allem Anfang kooperiert, so hätten sich, gemeinsam mit der Sprache, soziale Umgangsformen ausgebildet, die die Individuen im Laufe vieler Generationen verinnerlicht haben und nun als ihre persönliche Moral auffassen.
Der ununterschätzbar breitenwirkende Prof. Pettit scheint einen Unterschied zwischen Recht und Moral gar nicht erst zu kennen. Nimmt auch er selbstverständlich und unausgesprochen an, das Recht habe sich aus den individuellen Moralen summiert, und wenn beide in Gegensatz gerieten, müsse immer die Moral das letzte Wort behalten? 
Einer der bedeutendsten politischen Philosophen der Gegenwart wäre sich allerdings bewusst, dass das Problem - denk mal an, da ist eins! - mit historischen Reminiszenzen nicht zu erledigen ist. Wie immer die historische Filiation verlaufen sein mag: Jetzt gibt es die zwei Reiche erstens von Recht und Politik und zweitens von persönlicher Moral, und es findet sich faktisch (und lässt sich philosophisch reflektieren), dass beide nicht auf einander reduzierbar sind. JE