Sonntag, 31. Mai 2015

Erst der moderne Mensch kann scheitern.


aus beta.nzz.ch, 31. 5. 2015

Die Erfolgsgesellschaft und die Erfolglosigkeit
Scheitern am Scheitern

von Sighard Neckel 

In unserer Gesellschaft scheint Erfolg zur Pflicht geworden zu sein. Und wer scheitert, soll sein Scheitern möglichst erfolgreich bewältigen, um den nächsten Anlauf zu nehmen. Aus den Geisteswissenschaften stammt die Einsicht, dass sich die Bedeutung eines Begriffs nicht aus diesem selbst erschliesst, sondern erst aus dem Verhältnis, das ein Begriff zu anderen hat. Dies trifft auch auf das «Scheitern» zu, das sich grundlegend aus der Unterscheidung erklärt, die Scheitern gegenüber seinem Gegenteil bezeichnet. Die Negativität des Scheiterns, die uns dazu veranlasst, Scheitern zu vermeiden, tritt erst dadurch hervor, dass ihm als Gegenpol der Erfolg gegenübersteht, der im Unterschied zum bedrohlichen Scheitern gewöhnlich von allen angestrebt wird.

Scheitern setzt Handeln voraus, und Handeln strebt nach Erfolg. Erfolg und Scheitern sind daher fest miteinander verbunden. Nur wo gehandelt wurde, kann man auch scheitern, an eigenen Zielen oder Ansprüchen, an widrigen Umständen, am Widerstand anderer Akteure und schliesslich auch an sich selbst. Je nachdem, worin jemand seine Ziele verfehlt, sprechen wir von Misserfolg oder Misslingen, wenn ein Scheitern sich hinsichtlich einer Sache vollzieht; von Niederlagen, wenn das Scheitern den negativen Ausgang eines Wettstreits betrifft; von Versagen, wenn ein Scheitern als selbstverschuldet charakterisiert werden soll.


Wie ein Schiff zerbirst

Gleichwohl hebt sich Scheitern vom einfachen Misslingen gravierend ab. «Scheitern» entstammt der nautischen Welt und geht auf das «Zerscheitern» eines Schiffes zurück, das an einem Felsen zerbirst und in einzelne Holzscheite zerfällt. Das auf diese Weise «gescheiterte» Schiff löst sich in seine Bestandteile auf und ist unwiederbringlich verloren. – Im Unterschied zu blossen Misserfolgen, die demnächst wieder korrigiert werden könnten, steht beim Scheitern infrage, ob es überhaupt weitergeht, nachdem das Schiff des Lebens auf Grund gelaufen ist. Lebenspraktisch nimmt die Dramatik des Scheiterns dabei zumeist unterschiedliche Intensitätsgrade an. Wer bestimmte Handlungsziele verfehlt, wird mit einzelnen Fehlschlägen konfrontiert. Die geplante Karriere dahin, die Ehe zerrüttet, das Eigenheim unter dem Hammer. Scheitern heisst dann, dass in bestimmten Sinnbereichen des Lebens die Handlungsmöglichkeiten enden.


Doch solange überhaupt noch gehandelt werden kann, bleibt Scheitern nur auf einzelne Lebensinhalte bezogen und häufig auch zeitlich begrenzt. Anders jedoch, wenn ein Scheitern das Ende aller Handlungsmöglichkeiten bezeichnet und man in eine Lebenslage gerät, die keine Anschlüsse mehr kennt und jedes Handeln unmöglich macht. Dies geschieht typischerweise, wenn mehrere Fehlschläge zusammenkommen und zu einem persönlichen Niedergang und einer Lebenskrise führen, aus der man alleine und vielleicht selbst mit Hilfe anderer nicht mehr herausfinden kann.


Dieses absolute Scheitern, das nicht limitiert ist durch Kontinuitäten in anderen Lebensbereichen, löst nicht nur alle Handlungspläne in nichts auf, sondern lässt auch die Person des Scheiternden selbst grössten Schaden nehmen. Wer so scheitert, wird in jeder Hinsicht auf null gesetzt. In der Sachdimension des Handelns fehlen alle Mittel und Ressourcen, um noch irgendein eigenes Ziel in Angriff nehmen zu können. In der Zeitdimension ist dem Scheiternden der Handlungshorizont abhandengekommen – alles wird kontingent. In der Sozialdimension führt es zu einer zunehmenden Isolation, und in der Sinndimension des Handelns tritt ein persönlicher Bedeutungsverlust ein, da nichts im eigenen Leben noch die Wertigkeit hat, die ihm einst zugemessen wurde.


Handlungsunfähigkeit, fehlende Anschlüsse und Sinnverlust sind die wichtigsten Merkmale des Scheiterns, wenn es als absoluter Endpunkt eintritt. Es stellt die ganze Identität einer Person infrage und am Ende nicht selten die Person selbst, die psychisch und physisch zunehmend verfällt. Derartiges Scheitern scheint uns eine existenzielle Erfahrung zu sein, die verschiedenste Kulturkreise und geschichtliche Zeiten umfasst. Doch bedarf es gewisser historischer Voraussetzungen, um Scheitern wie heute als Zusammenbruch einer Biografie zu empfinden.


Vor dem Anbruch der Moderne wurde Scheitern kaum als persönliches Versagen oder als Misslingen individueller Handlungspläne begriffen. Die Geschicke des Lebens schienen dem kollektiven Bewusstsein nicht verfügbar zu sein. Wem durch Stand, Glaube oder Geschlecht der Platz im Leben unabänderlich zugewiesen wurde, der vermochte keine Ambitionen zu entwickeln, an denen er oder sie scheitern konnte. Erst in der Moderne entwerfen sich Erwartungen und Pläne in eine noch unbekannte Zukunft hinein, die durch eigenes Tun handelnd erreicht werden soll. Und erst durch diese Öffnung in das Unbekannte entsteht die Gefahr, durch Verfehlen seiner Ziele sich selbst zur Enttäuschung zu werden.


Wettbewerbe und Bilanzen

Auch erlebt niemand sein Scheitern als ein überzeitliches Phänomen oder so, als ob sich die anthropologische Konstante des Misslingens rein zufällig die eigene Person ausgesucht hätte. Anlässe, Folgen und Bewertungen des Scheiterns sind stets von konkreten Umständen geprägt, die keine Universalien sind. Auch der Gegenpol des Scheiterns – das erfolgreiche Handeln, schlichtweg: der Erfolg – ist keine Kategorie von zeitlos gleicher Gültigkeit. In der modernen Gesellschaft hat Erfolg eine allgemeine Kulturbedeutung angenommen, als eine Art Pflicht, will man mit gesellschaftlicher Anerkennung rechnen. Kaum je ist es so alltäglich geworden, sich beruflich oder privat gegenseitig Erfolgsbilanzen zu präsentieren, um die Wertigkeit des eigenen Selbst zu betonen und den persönlichen Vorrang zu unterstreichen.


Doch Erfolg und Scheitern bedingen einander und steigern sich gegenseitig. Je süchtiger eine Gesellschaft nach dem Erfolg greift, umso mehr Konkurrenten wetteifern um ihn, was in der Folge eine zunehmende Anzahl von Akteuren leer ausgehen lässt. Je grossartiger Erfolge aufzutrumpfen versuchen und je bedeutsamer sie für den gesellschaftlichen Status sind, umso deprimierender der Misserfolg, mit dem sich ein persönliches Scheitern ankündigen kann.


Die entscheidende Ursache hierfür liegt in der Herausbildung einer modernen Wettbewerbsgesellschaft. Einander im Modus des Wettbewerbs zu begegnen und andere wie sich selbst im Hinblick auf die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu bewerten, ist mittlerweile zu einer alltäglichen Praxis geworden. Die zeitlichen Abstände, in denen sich Personen beruflichen Wettbewerben ausgesetzt sehen, haben sich erheblich verkürzt. Wer beim erfolgreichen Eintritt in eine berufliche Position bisher eine gewisse Sicherheit erlangt hatte, sieht sich heute nach kurzer Zeit wieder zur Disposition gestellt. Im Wettbewerb erreichte Positionen werden viel seltener dauerhaft, sondern müssen immer wieder aufs Neue erkämpft werden. Im Arbeitsleben schlägt sich der zunehmende Wettbewerbsdruck in engmaschigen Leistungs- und Erfolgskontrollen nieder, die den Einzelnen dem Gefühl ständiger Bewährungsproben aussetzen und damit auch der anhaltenden Gefahr des Scheiterns.


Wettbewerbe sind Ausscheidungskämpfe und daher notwendigerweise damit verbunden, dass sie Verlierer produzieren. Besonders zahlreiche Verlierer werden erzeugt, wenn die Gewinne allein denjenigen zufallen, die sich am erfolgreichsten durchsetzen konnten, während viele vollkommen leer ausgehen. Märkte, auf denen die Gewinner alles bekommen, werden von einer Konkurrenz beherrscht, die geradezu eine grosse Zahl von Verlierern erzwingt. Weil in der heutigen Gesellschaft mehr und mehr allein Marktregeln regieren, werden auch Sozialschichten den Risiken von Wettbewerben ausgesetzt, die sich früher noch vergleichsweise sicher fühlen konnten. Dies ist der Grund für die stetig wachsende Zahl jener, die vom Scheitern bedroht sind oder zumindest fürchten müssen zu scheitern, wenn sie die Bewährungsproben der Märkte nicht sicher bestehen.


Der Fluchtpunkt aller Wettbewerbe ist der Erfolg, das heisst das Sichdurchsetzen gegenüber Konkurrenten, wodurch sich gesellschaftliche Vorteile einstellen sollen. Zur ostentativen Sichtbarkeit von Erfolgen tragen ungewollt die Erfolglosen bei, weil nur im Vergleich mit den Gescheiterten Erfolg eine besonders starke Unterscheidung ausdrückt und triumphale Züge annehmen kann. Nicht verwunderlich ist, dass in einer solchen Kultur des Erfolgs das Scheitern zum Stigma wird und zu einer seelischen Last. Scheitern fällt auf das eigene Selbst zurück, für das in der Wettbewerbsgesellschaft das Prinzip der Eigenverantwortung gilt. Dadurch verbindet sich Scheitern mit dem Gefühl individuellen Versagens und der Scham darüber, nicht gut genug gewesen zu sein, sich überschätzt zu haben, persönliche Defizite aufzuweisen.


Drei Varianten

Die moderne Pflicht zum Erfolg holt daher am Ende noch ihren Gegenpart ein, und so kandidiert heute das Scheitern selber dafür, erfolgreich bewältigt zu werden. Unter den drei Varianten des Scheiterns, die wir gegenwärtig beobachten können, ist mithin jene die auffälligste, die sich als die heroische Version des Scheiterns bezeichnen lässt. Ihre Losung lautet «Scheitern als Chance» oder – wie jüngst ein Coaching-Seminar in Frankfurt ankündigte – «Scheitern als Kraft auf dem Weg zu Wachstum, Aufbruch und Erneuerung».


In seiner heroischen Variante gilt Scheitern «als Voraussetzung für künftige Erfolge», wie dies im Wirtschaftsmagazin «Brand eins» hiess, das dem Scheitern unlängst ein ganzes Heft gewidmet hat. Scheitern, so kann man hier lesen, sei ein «unverzichtbares Momentum für den Erfolg» und wichtiges Element einer «Gründer-Kultur», weil Wagnis und Risiko zur DNA der Marktwirtschaft gehörten. Auch dürfe Scheitern kein Makel sein, weshalb wir eine «Kultur des Scheiterns» brauchten. Damit ist in der Regel allein das unternehmerische Risiko gemeint, das durch die heutigen Insolvenzregeln und betriebliche Rechtsformen vergleichsweise abgesichert ist.


Scheitern nimmt sich hier als Leistungsnachweis aus, als kathartische Etappe auf dem Weg zum Erfolg. Und wenn es am Ende trotzdem nicht klappen sollte, steht das verwandte Sinnmuster des tragischen Scheiterns bereit, das schicksalsträchtig vorgibt, an einer Aufgabe verzweifelt zu sein, die niemand bewältigen könne, und sei es nur eine falsche Regierung. Der Vorsitzende der deutschen FDP, Christian Lindner, hat in einem solchen Format vor einigen Monaten seine sogenannte Wutrede im Düsseldorfer Landtag gehalten, in der er sich zum unternehmerischen Scheitern bekannte. Seine 2001 pleitegegangene Internetfirma hatte 1,4 Millionen Euro von der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau an Förderkrediten erhalten, für deren Verlust freilich der Steuerzahler einstehen musste – so viel zum unternehmerischen Risiko.


Eine weitere Sinnvariante des Scheiterns stellt die ironische Weise dar, mit dem eigenen Schiffbruch umzugehen. Hier lautet die Losung «schöner scheitern», womit die persönliche Erfolglosigkeit zur Lebenskunst weiterentwickelt werden soll. Verstärkt durch eine kulturelle Strömung, die die Kunst des Verlierens entdeckt, nimmt der notorische Pechvogel so etwas wie einen Kultstatus ein. Dessen cineastische Ikone im zeitgenössischen deutschen Film ist etwa der Ostberliner «Wendeverlierer» Jaeckie Zucker, den Dani Levy 2004 in seiner Komödie «Alles auf Zucker!» in Szene gesetzt hat. Eine Kultstätte des ironischen Scheiterns ist bis heute der «Club der polnischen Versager», der in der Berliner Ackerstrasse beheimatet ist.


Der ironische Entwurf des Scheiterns entlastet die eigene Person dadurch von Vorwürfen, dass die Ursache von Fehlschlägen in der Kontingenz des Lebens selbst gesucht wird, die nicht nur jeden treffen kann, sondern auch Abenteuer verspricht. Indem das «schöner scheitern» das gesellschaftliche Erfolgsprogramm gleichsam als eine umgekehrte Sinnvariante zelebriert, legt es aber andererseits Zeugnis davon ab, wie stark es an die Pflicht zum Erfolg doch selber gebunden ist.


«Folgen von Folgen von Folgen»

Die dritte Variante des Scheiterns schliesslich ist jene, von der in der deutschen Gegenwartsliteratur etwa Thomas Melles Roman «3000 Euro» erzählt. Er hat den Absturz eines verschuldeten Ex-Jurastudenten zum Thema, der schliesslich in der Obdachlosigkeit landet. Merkmal dieses profanen Scheiterns ist es, gerade keine Losung vor sich hertragen zu können, ja häufig kaum erzählbar zu sein – es sei denn in einem eindringlichen Roman. In «3000 Euro» berichtet der Protagonist: «Es gibt keine Ereignisse mehr, es gibt nur noch Folgen in meinem Leben, und Folgen von Folgen von Folgen, die das Leben ins Unerträgliche verzinsen.» Was hier zum Ausdruck gebracht wird, ist Scheitern als vollkommenes Fehlen von Anschlussfähigkeit; das frühere Leben findet keine Fortsetzung mehr, weil es von den «Folgen von Folgen von Folgen» restlos aufgezehrt wurde.


In krassem Gegensatz zum Versuch, Scheitern als Innovationsmotor der Wettbewerbsgesellschaft darzustellen und in einen Wertbeweis der Leistungsgesellschaft umzudeuten, ist hier ein absoluter Nullpunkt völliger Handlungsunfähigkeit erreicht. Eine solche Erfahrung eignet sich weder für Heroismus noch für Ironie. Da solches Scheitern zudem häufig schleichend einsetzt, vergleichsweise banale Vorfälle plötzlich bedrohliche Konsequenzen nach sich ziehen, kleine Fehler grosse Auswirkungen haben, gibt das banale Scheitern keinen Stoff für erbauliche oder unterhaltsame Geschichten ab. Gerade die Trivialität der Umstände des Scheiterns lässt den Scheiternden häufig ratlos bei der Frage nach den Ursachen zurück, die ihn am Ende immer nur wieder mit sich selbst und dem eigenen Versagen konfrontiert.


Inmitten einer Kultur des Erfolgs, die noch das Gegenteil des Erfolgs für sich zu verwerten versucht, nimmt der profane, alltägliche, sensationslose Niedergang die paradoxe Gestalt einer erfolglosen Form des Scheiterns an, eines Scheiterns am Scheitern, für das es kaum eine Erzählung, kaum eine Öffentlichkeit, kaum eine Entschuldigung und kaum eine Nachsicht gibt.


Prof. Dr. Sighard Neckel lehrt Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und ist Mitglied des Kollegiums des Instituts für Sozialforschung. Jüngste Buchpublikation, zusammen mit Greta Wagner: «Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Leistungsgesellschaft» (Suhrkamp 2013).


Nota. - Nur weil in "der Moderne" - der Teufel hole sich dieses Wort - Erfolg zum Sinn des Lebens geworden ist, konnte Scheitern ein Existential werden - ist das originell oder trivial?

Das autonome Subjekt der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft ist 'autonom', sofern es selbstbestimmt handelt. Handelt und Handel treibt - agir und trafiquer: Das Feld der Autonomie ist der Kommerz. Das autonome Subjekt ist ein Besitzer verkäuflicher Waren; nützlicher Dinge, die er produziert hat. Es ist Kapitaleigner. Der Lohnarbeiter, dem die Mittel abhanden gekommen, nämlich abgenommen worden sind, selber nützliche Dinge zu produzieren, und darauf beschränkt wurde, mit sich selber zu handeln, ist kein autonomes Subjekt, sondern bloß Proletarier. Er kann gar nicht mehr scheitern; er ist es von vornherein. Es ist die alltägliche condition einer millionenzähligen gesichtslosen Masse; viel zu gewöhnlich, um einen Roman darüber zu schreiben oder eine Filmkomödie zu drehen. Oder ein soziologisches Essay zu schreiben. Wenn dieses Leben einen Sinn hätte, an dem es scheitern könnte, so wäre es der Klassenkampf, und der taugt nur zu Agitprop.

Seit einem Jahrhundert tritt an die Stelle der Proletarier allerorten der Sozialtypus des Angestellten. Der ist durch Kafka, Joyce und Italo Svevo literaturfähig geworden, und auch Sartres Dégoût handelte von ihm. Und tritt an die Stelle der Arbeit (wie der Unternehmeraktivität) die Verwaltung. Die kann, mit Verlaub, nicht scheitern. Sie läuft und läuft und läuft. Es ist ihre gähnende Langeweile, der es nach einem aparten Sinn verlangt. Den kann sie sich wiederum, sofern sonst alles beim Alten bleibt, nur einbilden. Und ja, Sighart Neckel: daran scheitern.
JE


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Samstag, 30. Mai 2015

Unsere innere DDR.



Im Sommer 1990 wuchs zusammen, was zusammengehörte. Sie erkannten sich am Geruch und wollten einander die gemeinsame Identität bewahren. Im wiedervereinigten Öffentlichen Dienst hat sich die Bundesrepublik Deutschland ihre Innere DDR erhalten. 

Es war keine Wiedervereinigung, sondern ein Anschluss? O, da habt ihr mehr Recht, als ihr zugeben mögt. Wir wurden ans Staatsorgan angeschlossen. Die Zeche für die Wiedervereinigung zahlen seit einem Vierteljahr- hundert wir Westler. Der frechste und perfideste Feind von Staat und Gesellschaft ist die Bürokratie.



Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Donnerstag, 28. Mai 2015

Abschließendes über Arbeiterstaat, Neue Klasse und Politische Revolution.



Die Geschichte der revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts war geprägt von der Auseinandersetzung über den Klassencharakter der Sowjetgesellschaft. Das begann schon während des Bürgerkriegs. Für die 1920 aufgekommenen Rätekommunisten war die Sache klar. Für sie – wie zuvor für die Menschewisten – hatten im bäuerlichen Russland ohnehin die Bedingungen für eine proletarische Revolution nicht vorgelegen. Eine bürgerliche Revolution – mehr war nicht drin. Damit war die Frage nach dem Klassencharakter schon entschieden.

Leo Trotzki war nicht nur als Vorsitzenden des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrats und als Haupt des Revolu-tionären Militärkomitees der praktische Organisator, sowie als Kriegskommissar der oberste Verteidiger der Okto-berrevolution gewesen; sondern als Theoretiker der permanenten Revolution auch ihr geistiger Vater. Er hat in den späteren zwanziger Jahren im Sowjetstaat eine bürokratische Konterrevolution beobachtet, gegen die es das Erbe des Oktobers zu verteidigen galt.

Er hat eine Analyse der Sowjetbürokratie erarbeitet und daraus das Programm einer politischen Revolution entwickelt. Den Charakter Sowjetrusslands als eines Arbeiterstaats, den es bedingungslos zu verteidigen galt, hat er bis zu seinem Tod entschieden verteidigt. Unter den vielen Anlässen zur Spaltung der von ihm begründeten Vierten Internationale war das der dauerhafteste und vordringlichste.

Aus seiner Herkunft erhellt schon, dass es sich nicht um ein theoretisches Problem von Soziologen handelt. Als in den dreißiger Jahren immer deutlicher wurde, dass im Sowjetstaat eine Bürokratie eigner Art herangewachsen war, waren die Vorreiter abtrünnige Trotzkisten: James Burnham als Theoretiker der managerial revolution, Bruno Rizzi als Theoretiker der burocratisation du monde. Neue Klasse und Neue Geselleschaft ("bürokratischer Kollektivismus") – auf alle Fälle sollte es sich um neue tragfähige Organisationen gesellschaftlicher Herrschaft handeln. Das Programm einer Politischen Revolution wäre hinfällig geworden.

Die Frage der Neuen Klasse und Neuer kollektivistischer Gesellschaftsordnung entscheidet sich nicht soziologisch durch Auswerten von Statistiken. Sondern sozialhistorisch daran, ob eine dauerhafte neue Weise der Arbeitsteilung entstanden ist: Können die Herrschenden durch Verfolgen ihrer Partikularinteressen dafür sorgen, dass ein gesellschaftliches Mehrprodukt zustande kommt, das erstens akkumuliert und zweitens immer weiter verteilt werden kann?

Ist es so, dann wirkt das neuentstandene soziale Gebilde im Interesse der ganzen Gesellschaft. Sie ist dann keine parasitäre Geschwulst, sondern eine herrschende Klasse. Dass sie den Rest der Gesellschaft ausbeutet, läge in der Natur des Sache: Wie sollte sie anders akkumulieren? Solange sie das tut, ist sie im historischen Sinn gerechtfertigt. Eine Revolution gegen sie bedürfte dann einer ganz eigenen Begründung. Einer subjektiven? Denn eine objektive gäbe es nicht. (Nach der Kritik der Politischen Ökonomie kann die kapitalistische Produktionsweise wegen sinkender Profitrate ein solches Mehrprodukt auf die Dauer nicht erbringen.)

Es ging also in Wahrheit zuerst um die Politische Revolution und erst danach, und erst darum um eine "gesellschaftli-chen Natur…".  Der springende Punkt bei der Politischen Revolution ist aber der: Wie hätte eine Arbeiterbewegung neu entstehen sollen? Nicht allein die Bolschewistische Partei war liquidiert, nicht allein – aber schon durch den Bürgerkrieg – war die revolutionäre Vorhut der Arbeiterklasse in die neuentstandene Sowjetbürokratie absorbiert worden: Die Arbeiterbewegung selbst war zerstört. Sie hätte neu entstehen müssen, um eine "politische Revolution" möglich werden zu lassen.

In der Verratenen Revolution schrieb Trotzki 1936, die sowjetische Sektion der neuentstehenden Vierten Internatinale sei 'schon heute' die zahlreichste auf der Welt, und er dachte dabei an die mehr als 20 000 "Trotzkisten" in den Lagern… Er muss angenommen haben, sie kämen dort irgendwann lebend wieder raus. Dass sie einfach ermordet würden und Millionen Anderer auch, konnte sich noch keiner vorstellen. Am Ende der Großen Säuberung gab es nirgendwo noch ein Nest des Widerstands. Stillehalten reichte zum Überleben nicht mehr aus. Man musste laut schreiend vorneweg marschieren, und dabei ging der Terror bis zu Stalins Tod immer weiter:

Politische Revolution?!

Die Arbeiterbewegung hatte sich im 19. Jahrhundert gebildet, als die vereinzelten Proletarier ihre Konkurrenz untereinander überwanden, indem sie die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander für sich ausnutzten. So haben sie sich auf den Weg gemacht, sich zur zur Klasse zu bilden…

Die Sowjetbürokratie war unter Stalin ein Monolith. Welche Konkurrenz hätten die einzelnen Proletarier ausnutzen können, um ihre eigene Konkurrenz und gegenseitige Isolierung zu überwinden? Gegen Stalins Partei, die alle gesellschaftlichen Winkel durchdrang, gegen die Sowjetgewerkschaften, die die Arbeiterschaft in militärischem Drill hielten, gegen die GPU, die auch solche umbrachte, die sich nicht einmal verdächtig gemacht hatten? Selbst an einen schlichten Lohnstreik in einem einzelnen Betrieb oder auch nur einer einzelnen Abteilung war nicht zu denken. Masse waren die Arbeiter nur bei sonntäglichen Aufmärschen: totalitär erfasst; im Alltag waren sie atomisiert, wie es in bürgerlichen Gesellschaften nur unterm Nationalsozialismus möglich wäre. Wie sollte da eine dauerhafte Organisation entstehen, ohne die es keine Arbeiterbewegung gibt, wie sollte sich eine geistige Avantgarde ausbilden, ohne die keine Massen in Bewegung geraten? Aber keine Revolution ohne Bildung des Proletariats zu Klasse.

*

Der Ausdruck bürokratisch deformierter Arbeiterstaat war keine Erfindung von Trotzki. Er wurde von Lenin während der Gewerkschaftsdebatte geprägt. Damit bezeichnete er nicht eine drohende Gefahr, vor der er warnte, sondern den Status quo der Sowjetgesellschaft im Jahr 1923. Der Begriff des degenerierten Arbeiterstaats stammt aus den 1930er Jahren* und gehört schon zum Programm der neuen Revolution: Um eine rein 'politische' soll es sich handeln, weil die sozialökonomischen Grundlagen des – degenerierten – Arbeiterstaats nicht geändert würden: Volkseigen-tum und Außenhandelsmonopol; beides Voraussetzungen der Planwirtschaft. Indes, in der Vokabel degeneriert kommt das genus vor, die biologische Gattung. Was degeneriert ist, kann streng genommen der Gattung nicht länger zugerechnet werden. Ein degenerierter Arbeiterstaat hat keine Zukunft, er ist Arbeiterstaat in statu decadendi. Doch die 'politische' Revolution soll den Arbeiterstaat 'lediglich' von seinen bürokratischen Auswüchsen reinigen…

Die von Trotzki favorisierte Metapher vom Krebsgeschwür ist theoretisch ergiebiger, als es den Anschein hat. Das ursprüngliche Geschwür stand dem intakten Gewebe feindlich gegenüber. Im Endstadium hat es sich den ganzen Organismus anverwandelt. Ein chirurgischer Eingriff nützt dann gar nichts mehr.

Der Polemik von In Defense of Marxism fand statt vorm Hintergrund des eben begonnen Weltkriegs: Die Prognose des 'Übergangsprogramms'** war Tagespolitik. Es ging um die Aussichten und um die richtige Taktik hier und heute. Was werden könnte, wenn sich die Voraussagen des Übergangsprogramm nicht erfüllen würden und die Sowjetbü-rokratie aus dem Weltkrieg gestärkt hervorginge, statt darin unterzugehen, war weder Gegenstand des Streits mit Burnham-Shachtman noch des 'Übergangsprogramms'.

Der Begriff des 'degenerierten' Arbeiterstaats und mit ihm der Begriff der 'politischen Revolution' waren terminiert. Ihr Ereignishorizont war der unmittelbar bevorstehen Weltkrieg: Er war ja der Grund für die – unmittelbare – Notwendigkeit einer vierten Internationale, die Frage, ob sie "schon möglich" war, stellte sich gar nicht mehr. Der Weltkrieg würde alle offenen Rechnungen saldieren, diese so wie andern.

Das hat er auch getan, aber der Saldo fiel anders aus als vorhergesehen. Die Sowjetbürokratie war im Krieg nicht auseinandergefallen – "Fraktion Butenko" und "Fraktion Reiss" –, sondern gestärkt aus ihm hervorgeangen, immer noch unter Stalins persönlicher Diktatur. Unter diesen Umständen konnte das Festhalten an der Formel vom degenerierten Arbeiterstaat und der bedingungslosen Verteidigung nur als Apologie der Stalinschen Konterrevolution wirken: "Die Sowjetbürokratie ist endgültig ins Lager des Imperialismus übergegangen". Natalia Trotzki und Grandizo-Munis – "I cannot and will not follow you in this" – waren völlig im Recht, als sie dem Internationalen Zentrum – dem alten Cannon wie dem jungen Mandel – die Gefolgschaft aufkündigten. Wer nicht bereit war, aus dem Verfall des Übergangsprogramms die Notwendigkeit einer neuen Analyse zu folgern, war politisch ohne Zukunft.

Besonders bizarre Blüten trieb die epigonale Dogmatik, als Stalin 1948 dazu überging, in den Ländern des Glacis  sowjetische Zustände einzuführen. Erst wollten die Nachzügler nicht wahrhaben, dass es sich überhaupt um Gesellschaften von derselben Natur wie die Sowjetunion handelte, und fischten nach allerlei "Übergangs"formeln. Schließlich mussten sie sich in das Offenkundige fügen. Aber degeneriert konnte man sie doch nicht nennen, sie waren ja niemals originär gewesen! Also redeten sie stilistisch geglättet einfach von deformierten Arbeiterstaaten, wie Lenin 1923 über das noch junge Sowjetrussland. Und in den internen Diskussionen wurden schließlich ganz einfach die Arbeiterstaaten daraus: Ich kann es bezeugen, denn ich war dabei.

Und als sich schließlich die französische Ligue Communiste Révolutionnaire mit ihrer Tagessezeitung Quotidien Rouge direkt an die breiten Massen wendete, hießen sie auch schonmal schlicht sozialistische Länder, in der theoretischen Umnachtung sind alle Katzen grau. Bürokratische Konterrevolution? Halb so schlimm, besser ein "realexistierender" als gar kein Sozialismus, das meinte Erich Honecker auch. An ihrer lokalen Konkurrenz zur KPF änderte die begriffliche Abrüstung vor dem Stalinismus nichts, es war bloß schon lange keine revolutionäre mehr.

*

Totalitärer Terror ist nicht das normale Lebensmedium der Bürokratie. Ihre spezifische Reproduktionsweise ist das Schema – das bloße Verfahren ohne sachlichen Gehalt und ohne personale Verantwortung. Die repressive Methode, durch die sie herrscht, ist "der bewährte sozialistische Gang", wie er in der DDR sarkastisch genannt wurde: bleierne Normalität und geisttötendes Regelmaß. Die Alltagsherrschaft der Bürokratie ist auf den Schein von gesetzmäßiger Mechanik angewiesen, gelegentliche Exzesse müssen versteckt bleiben.

Furcht und Schrecken, die sich selber als Propaganda dienten, waren nötig als Mittel der bürokratischen Machter- greifung: um die letzten Erbstücke der proletarischen Revolution auszurotten. Auch ihre zäsarische Form – der "Personenkult" - war unumgänglich, da sie sich durch Überlieferung nicht legitimieren konnte: Sie musste als unerhört, unvergleichlich und nie-dagewesen auftreten. "Personenkult" war das Charisma, unter dem sich die neue Bürokratie unkenntlich machte; das von Max Weber unvorhergesehene Kuriosum einer bürokratischen Herrschaft in charismatischem Kostüm.* Aber das ist nicht ihr Dauerzustand. Sie ist Apparat und Routine, ihr Dauerzustand ist das Verdämmern in tödlicher Langeweile.

Zuerst ist das totalitäre Zentrum – vertikal und horizontal – in feudale Teilreiche zerfallen (wohl schon unter Malenko, beschleunigt unter Chruschtschow), und nach dem Ende von Chruschschows bäuerlich-charismatischem Personenkult-light setzte sich die Bewegung dann in die Breite und die Tiefe fort. Das Krebsgeschwür streute seine Metastasen in den ganzen Organismus. Am Ende, zu Breschnews Zeit, blieb kein Bereich der Sowjetgesellschaft (nicht einmal die extrasoziale Unterwelt) von der feudalen Zersetzung ausgespart. Das Feudum ist als Privileg bestimmt, und irgendein Privileg hatte am Ende jeder, und wenn's der Wachmann eines staatsorganischen Flachbaus war; die einzigen Ausnahmen waren die Kinder und die Alten. Schließlich war der Unterschied zwischen Privileg und Privateigentum selbst unterm Mikroskop nicht mehr erkennbar. Was hätte eine "bürgerliche Konterrevolution" wohl noch zu besorgen gehabt? Es war ja alles schon getan.

War zur Restauration des Kapitalverhältnisses ein Staatsstreich nötig? Unter den trotzkistichen Epigonen war intern das Wort vom "umgekehrten Reformismus" ein beliebtes Totschlagargument. Der bekannte Theoretiker Pierre Frank hat sich nicht entblödet, es wiederholt öffentlich zu Papier zu bringen. Das Wasser fließt nicht von unten nach oben,**** dazu bedarf es einer äußeren Gewalt; von oben nach unten fließt es ganz allein. Dass sich eine neue, kollektivistische Weise der gesellschaftlichen Arbeitsteilung nur durch einen Zwangsakt, durch Errichtung eines zentralen Machtorgans erschaffen ließ, bedeutet nicht, dass sie sich nicht durch molekulare Privatisierungen schlei-chend von innen wieder zersetzen kann. (So ist aus dem germanischen Gemeindegrund die feudale Grundherrschaft entstanden, stimmt’s?)

Ich habe mich über diesen Schwachsinn damals geärgert, habe es aber für eine rein theoretische Frage gehalten, um die eine zusätzliche Debattierfront zu eröffnen nicht angezeigt war. "Viel Feind, viel Ehr", war mir nachgesagt worden, und ich habe mich ins Bockshorn jagen lassen: Wir hatten auch ohne das genügend Zwist mit der 'Internationale' (und deren Kokurrenten!), und der war praktisch und aktuell. Heute kann ich nur bedauern, dass ich nicht meinem Instinkt gefolgt bin.+

Denn so ist es gekommen, so plötzlich, dass buchstäblich niemand, von welcher politischen Provenienz er auch war, darauf gefasst gewesen ist. Aus dem Machtzentrum der "Diktatur des Proletariats", aus Stalins persönlicher Schreckensherrschaft war ein Paten-Konsortium, ein Ständiger Ausschuss der Wise Guys geworden. Ist nicht die Anzahl der ZK-Mitglieder immer nur weiter gewachsen, damit auch kein Begründeter Anspruch ohne Stimme blieb? Fast wie in der polnischen Adelsrepublik, wo schließlich auch nur noch Stagnation herrschte. Und als die Nachbarn sie unter sich aufgeteilt haben, konnte sie keinen Finger rühren.

An die Stelle des totalitären Terrors war ein System der totalen Korruption getreten. Die sachliche Grundlage der bürokratischen Herrschaft ist die materielle Knappheit. Die hat nicht nur keine Möglichkeit, ein reguläres Mehrprodukt und anhaltende Akkumulation zu gewährleisten. Sie hat nicht einmal ein Interesse daran! Von Natur neigt sie zur Vergeudung, und die derart immer wieder reproduzierte Knappheit stärkt wiederum ihre Herrschaft. Bis das ganze Kartenhaus zusammenfiel. Ein bürgerlicher Staatsstreich ist nicht nötig gewesen; nicht einmal.

*

Von der ehemaligen Vierten Internationale sind tausend Splitter übriggeblieben, die einander mit demselben Eifer bekämpfen wie die frühen christlichen Sekten. Sie werden täglich mehr, aber sie haben immer weniger Gefolgschaft. Aus der Niederschlagung des Generalsputsches durch das Volk von Moskau im August1991 haben die wackersten von ihnen das Schlüsselereignis der bürgerlichen Restauration gemacht: Sie waren wirklich zu direkten Apologeten des Stalinismus geworden, wenn auch erst post mortem.

Mein Interesse an diesen Dingen ist nur noch theoretisch. Es geht um das Verständnis des bedeutendsten historischen Ereignisses des 20. Jahrhunderts – der Epoche der Weltrevolution. Auf das dogmatische Gezänk der verbliebenen trotzkistischen Splitter-Splitter Einfluss zu nehmen, liegt mir fern. Praktisch ist nur der Wunsch, das Lebenswerk von Leo Trotzki in seiner Würde zu wahren. Er selber kann sich nicht dagegen wehren, dass Falsche sich auf ihn berufen - und dabei das Andenken der vielen Trotzkisten besudeln, die für die Sache der Vierten Internationale ihr Leben gelassen haben. Aber ich werde tun, was ich kann.


*) Ich kann momentan nicht herausfinden, wann Trotzki ihn zum ersten Mal benutzt hat.

**) So wird in trotzkistischen Kreisen die Hauptresolution der Gründungskonferenz der Vierten Internationale im Jahre 1938 genannt; nicht weil es sich um ein Übergangsprogramm im Sinn des IV. WK der Kommunistischen Internationale handelte, sondern bloß, weil die Gründungskonferenz zur Verabschiedung einer Programmerklärung keine Zeit mehr hatte: Die Hauptresolution musste 'vorübergehend' ein Programmdokument ersetzen. Die daraus entstandene terminologische Verwirrung gereicht der trotzkistischen Bewegung nicht zum Ruhm.

***) Dies für die Proletarier, die Stalins Schwerindustrie aufbauen sollten. Für das bäuerliche tiefe Russland war der Rückgriff auf zarisch-orthodoxes liturgisches Ritual besser geeignet.

****) Zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution habe ich mich immerhin in fast prophetischen Worten geäußert...


+) Das Kapital kann nicht graduell enteignet werden: Es reproduziert sich immer wieder von selbst. Es bedarf eines terminalen Eingriffs.



Dienstag, 19. Mai 2015

Ganz starke Frauen.


aus beta.nzz.ch, 19.5.2015, 17:20 Uhr

Anthropologie in New York
Die Glamour-Mütter der Upper East Side
Feldforschung in der Nachbarschaft: Eine Anthropologin hat reiche Hausfrauen an der noblen Upper East Side in New York erforscht. Sie befragte über 100 von ihnen – und zog wenig erbauliche Schlüsse. 

Bevor Wednesday Martin im Jahr 2004 mit ihrer Familie aus dem New Yorker West Village an die noble Upper East Side zog, hatte sie sich mit fernen Völkern beschäftigt: Martin hatte Anthropologie studiert und wurde in Yale promoviert. Ihr Forschungsgegenstand waren unter anderem Stämme in Afrika oder im Amazonasgebiet. In der neuen Wohngegend entdeckte sie nun jedoch ein Völkchen, das ihr ebenso interessant erschien: Ehefrauen reicher Männer, die mit ihren Kindern zu Hause blieben.

Newsletter schreiben, Kuchenverkauf organisieren

In einem Beitrag für die «New York Times» schrieb Martin jüngst über diese «Glam Sahms», wie sie die Gattung nennt: «Glamourous Stay-at-Home-Moms» – glamouröse Hausmütterchen. «Mein Kulturschock war unmittelbar und nachhaltig», schrieb sie nach ihrer Entdeckung, und so beschloss sie, diese Frauen genauer zu untersuchen. Im Juni erscheint ihr Buch über diese «Primates of Park Avenue».

Martin traf diese «Glam Sahms» auf Spielplätzen, in Spielgruppen oder Kindergärten. Mit mehr als 100 habe sie gesprochen, schreibt sie, viele hätten einen Abschluss einer angesehenen Universität oder Business School. Was Martin überraschte, war, dass diese Frauen ihre beruflichen Möglichkeiten nicht ausschöpften; stattdessen schrieben sie Newsletter oder organisierten die Bücherei oder einen Kuchenverkauf. Ihre Ehemänner verdienten dagegen als Hedge-Fund-Manager Millionen.

Martin beobachtete den Alltag dieser Frauen: Intensiv widmeten sie sich ihren Kindern und dem Sport. In ihrer Freizeit verabredeten sie sich ohne Männer: zum Kaffee oder Mittagessen, zu Cocktail-Abenden oder zu Ausflügen mit dem Flugzeug, auf denen alle Frauen Kleidung in derselben Farbe trügen. Einige, schreibt Martin, hätten Ende des Jahres von ihren Ehemännern sogar einen Bonus von 10'000 Dollar erhalten, der sich an ihren Leistungen bemessen habe: an der Haushaltsführung oder den Schulleistungen der Kinder.

Zwar hätten es viele Frauen als Privileg und freie Entscheidung beschrieben, nicht zu arbeiten; Martin zog jedoch wenig erbauliche Schlüsse aus diesem partnerschaftlichen Arrangement – mithilfe der Anthropologie. Frauen der Hadza, einer Volksgruppe aus Tansania, oder der Agta auf den Philippinen gingen ebenso häufig wie die Männer zur Jagd, erklärte Martin, und dies wirke sich auch auf ihre Stellung in der Gesellschaft aus: «Frauen, die zum Wohl der Familie oder der Gruppe beitragen, haben im Vergleich zu Frauen anderer Gesellschaften, wo dies nicht der Fall ist, mehr Macht», schreibt Martin. «Wenn du keine Knollen und Wurzeln nach Hause bringst, schrumpft deine Macht in der Ehe und in der Welt.» Für Martin haben diese reichen Hausfrauen viel Ähnlichkeit mit einer Geliebten – abhängig und relativ machtlos. Für ihr Luxusleben zahlen die «Glam Sahms» offenbar einen hohen Preis.



Montag, 18. Mai 2015

Putin ist doch kein Stalin.


aus beta.nzz.ch, 15.5.2015, 05:30 Uhr

Gastkommentar zu Russland
Putin ist kein Stalin
Ohne Russlands Aggressionen verharmlosen zu wollen: Es gibt auch das andere, demokratische Russland. 

Von Andreas Kappeler 

Nicht zum ersten Mal veröffentlicht Jörg Himmelreich in dieser Zeitung einen Text, in dem er das Putinsche Russland aus der Tiefe der russischen Geschichte heraus zu erklären sucht. Solche Essays können erhellend sein. Wir Historiker neigen dazu, Kontinuitäten zu betonen, sie aber auch überzustrapazieren. Dabei laufen wir Gefahr, die Geschichte als zwangsläufigen Ablauf von Gesetzmässigkeiten zu verstehen, als Einbahnstrasse ohne Alternativvarianten zu deuten.

Verzerrtes Bild

Einigen Thesen Himmelreichs kann man zustimmen, so der Dominanz patrimonialer Herrschaft und der fehlenden Autonomie der orthodoxen Kirche in Russland.

Manche geben aber ein verzerrtes Bild oder sind schlicht falsch. An den Haaren herbeigezogen ist die Ver- längerung der «Herrschaftspsychologie» zurück bis zu den Normannen/Warägern und dem ersten Herrschafts- verband der alten Rus. Das ist so plausibel, wie wenn wir Angela Merkel im Rückgriff auf Karl den Grossen zu erklären suchten.

Die mittelalterliche Rus war ein loses Konglomerat von Einzelherrschaften, die Fürsten hatten beschränkte Befugnisse, es gab Volksversammlungen und in Nowgorod eine Stadtrepublik ähnlich wie in Italien. Die Fürsten waren nicht «Eigentümer von Grund und Boden und der Bevölkerung», sondern die Mehrheit der Bauern blieb – im Gegensatz zu Mittel- und Westeuropa – bis in die frühe Neuzeit persönlich frei.

Die Geschichte Russlands seit dem 16. Jahrhundert kann man als ständige Ausweitung der Herrschermacht verstehen, der Gesellschaft und Kirche wenig entgegenzusetzen hatten. Allerdings muss auch diese Interpre- tation differenziert werden. Adel und Bauern hatten durchaus Freiräume. Seit dem späten 18. Jahrhundert führten Zarinnen und Zaren Reformen durch, die Russland tiefgreifend veränderten, so dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Weg war zum Rechts- und Verfassungsstaat und zur Marktwirtschaft nach westlichem Muster – und im Februar 1917 die bürgerliche Revolution nachholte.

Dass die Bolschewiki diese Entwicklung gewaltsam abblockten, steht auf einem anderen Blatt, ist aber sicher nicht primär auf die Tradition der Moskauer Autokratie zurückzuführen. Geradezu grotesk ist, wenn Himmelreich die Linie bis zur Gegenwart fortführt und von der «altrussischen Konzentration der Macht» und dem «altrussischen Expansionismus» Putins schreibt.

Die «koloniale Expansion» war keine Besonderheit Russlands, sondern folgte dem Muster anderer europäischer Staaten. Es ging zunächst um Landesausbau und die Eroberung dünnbesiedelter Gebiete im Osten, während die westeuropäischen Seemächte die halbe Welt unterwarfen. Als Russland im 18. Jahrhundert nach Westen expandierte, geschah dies im Rahmen der europäischen Kabinettspolitik: Russland war nur eine der drei Mächte, die Polen unter sich aufteilten.

Wenn man sozialpsychologische Erklärungen schätzt, kann man von einer «Bedrohungsneurose» Russlands sprechen. Diese war indes nicht ganz unbegründet. Abgesehen von der Unterwerfung und Zerstörung durch die Mongolen war Russland mehrfach durch Angriffe aus dem Westen existenziell bedroht. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts besetzten polnische Truppen Moskau und setzten einen polnischen Zaren ein, im Jahr 1812 war es Napoleon, der Russland unterwerfen wollte, im 20. Jahrhundert folgte Hitlers Vernichtungskrieg. Russlands Geschichte war nicht nur eine der Expansion, sondern auch eine der Abwehr äusserer Aggressionen.

Ausdruck der inneren Schwäche

Mir liegt es fern, Putins repressives Herrschaftssystem und seine militärische Aggression gegen die Ukraine zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen. Allerdings ist der Vergleich, den Himmelreich mit Stalins Expansionspolitik zieht, überzogen. Putin ist kein Stalin, und die Annexion der Krim hat eine andere Qualität als die Annexion Ostpolens und des Baltikums in den Jahren 1939/40 und die am Ende des Zweiten Weltkriegs folgende Unterwerfung Osteuropas.

Die jetzige militärische Aggression ist Ausdruck der inneren Schwäche. «Ein kleiner siegreicher Krieg», der nach dem Muster des «Grossen Vaterländischen Krieges» gegen «die Faschisten» inszeniert wird und einen Hurrapatriotismus auslöst, soll von den inneren Problemen ablenken. Hier stimme ich Himmelreich zu: Putin geht es nicht primär um die Ukraine und die Eindämmung westlicher Ostexpansion, sondern um den Machterhalt in Russland, den er durch eine erfolgreiche, demokratische und westorientierte Ukraine, die der russischen Gesellschaft als Vorbild dienen könnte, bedroht sieht.

Putins Russland ist nicht mein Russland, das Russland Tolstois, Sacharows und Nemzows. Trotz Repressionen, Verhaftungen und Propagandakrieg ist dieses demokratische Russland bis heute lebendig, wie die Grossdemonstrationen von 2011 und 2012 oder die gegen den Ukraine-Krieg auftretenden Soldatenmütter gezeigt haben. Auch dieses Russland hat Vorläufer in der Geschichte.
Himmelreichs undifferenzierter Artikel fördert eine pauschale Russophobie, die ebenfalls tiefe historische Wurzeln hat. Stattdessen ginge es darum, nicht nur die Ukraine, sondern auch dieses «andere Russland» zu unterstützen. Denn Russland ist nicht zur Despotie verdammt.

Andreas Kappeler ist em. Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.


Nota. - Stalin war nicht zuerst eine Figur der russischen Geschichte, ein roter Zar, in dem sich lediglich die lokale Tradition des Selbstherrschertums fortsetzte. Stalin war eine Figur der Weltgeschichte, der Weltre- volution - indem er zu deren Totengräber wurde. Dass nach der Zerschlagung der Bolschewistischen Partei und nach der Vernichtung aller Reste der revolutionären Arbeiterbewegung die Restauration (gar nicht so) alter autokratischer Traditionen das angezeigte Mittel war, die bürokratische Konterrevolution ideologisch zu verbrämen, ist eine Folge und keine Ursache. 

Stalins totalitäres Terrorsystem war unter den Breschnews und Andropows zu einem feudalbürokratischen Vergeudungs- und Verknappungsregime mit mafiösen Zügen verlottert, das nackten Terror nicht mehr brauchen und auch gar nicht mehr leisten konnte; ein Universum der durchgängigen Korruption auf allen Etagen der Gesellschaft, dem gegenüber die Restauration eines ordentlichen produktiven und dynamischen Kapitalismus das kleinere Übel war: hätte sein können, wenn sie gelungen wäre. Davon konnte in Jelzins abenteuerlichen Wildost aber nicht die Rede sein, Glücksritter und kriminelle Paten warfen sich zu einer Oligarchie auf, die sich die feudalisierten Überreste des pp. Volkseigentums unkontrolliert unter den Nagel riss.

Jelzins Nachfolger konnte eine irgendwie geartete öffentliche Ordnung nur herstellen, wenn er die an die Leine legte. Da rechtsstaatliche Strukturen und demokratische Verfahren nicht gegeben waren, konnte es nur mit unrechtsstaatlichen Mitteln auf undemokratischen Wegen geschehen, und wenn sich Putin immerhin eines rechtsstaatlichen und demokratischen Scheins befleißigte, kann man das fast schon als einen Gewinn ansehen. Aber es ist ein Wurschteln von der Hand in den Mund, ohne Putins persönliches Regiment wäre womöglich nicht einmal die sprichwörtliche Stagnation der Breschnew-Ära wiederzuhaben, geschweige denn ein gesellschaftlicher Aufbruch zu bewerkstelligen. Dass er links und rechts verzweifelt nach jedem erdenklichen Gadget greift, das den Laden für die nächsten paar Wochen zusammenhält und vielleicht an der einen oder andern Stelle sogar ein bisschen Elan mobilisiert, ist ihm nicht zu verdenken, es bleibt ihm ja nichts anderes übrig.

Ich bin ein Putin-Versteher, ja, ich verstehe, dass die Position, in die er sich freiwillig begeben hat, ihn zu einem hochgefährlichen Mann macht, und wenn, wie in der letzten Zeit immer wieder zu hören ist, sein persönlicher Charakter - an Intelligenz fehlt es ihm wohl nicht -  nicht zu den saubersten zählt, können einem ganz schön die Knie zittern, und man muss wünschen, man habe jederzeit ein gutes Sortiment tüchtiger Knüppel zur Hand für den Fall, dass man sie braucht.

Und das wird man mit ziemlicher Sicherheit, denn im Innern Russlands ist einstweilen keine Kraft abzusehen, die etwas Besseres machen könnte als Putin.
JE



Samstag, 2. Mai 2015

Geschichte der Russlanddeutschen.

Clara Zetkin besucht 1923 Marxstadt, Hauptstadt der Wolgarepublik                                                                                                                                              aus nzz.ch 15.4.2015, 05:30 Uhr

György Dalos über die Russlanddeutschen
Fleissige Minderheit in einem grossen Imperium

von Cord Aschenbrenner

Die Geschichte der Russlanddeutschen ist so gut wie beendet. In Deutschland ist sie mittlerweile fast unbekannt, Jüngere hören von ihr vielleicht zum ersten Mal, wenn sie für die in der sibirischen Stadt Krasnojarsk geborene Schlagersängerin Helene Fischer schwärmen. Da ist es gut, dass sich ein Schriftsteller und, wie sich bei der Lektüre herausstellt, belesener Kenner der Historie dieser Minderheit und ihres Schicksals annimmt. Durchaus bemerkenswert ist, dass er aus einem dritten Land kommt, einem, das seine eigene Geschichte mit Russland hat. György Dalos ist Ungar, lebt aber in Berlin, er hat einfühlsame Romane und preisgekrönte historische Bücher geschrieben, deren Thema auch Russland und die Sowjetunion sind.

Dalos kennt beide aus eigener Anschauung, er hat in den 1960er Jahren Geschichte in Moskau studiert. Und er bleibt auch in seinem neuen Buch dem Imperium treu, gewissermassen – jedoch ist die Perspektive eine ganz andere. Naturgemäss, denn die Russlanddeutschen hatten einen anderen Blick auf das Land, das sie Mitte des 18. Jahrhunderts auf Einladung der Zarin Katharina II. betraten, als dieses umgekehrt auf sich selbst. Das gewaltige Reich brauchte Kolonisten – mit Ausnahme der Juden allerdings, wie es in dem Manifest der Zarin von 1763 hiess –, und arbeitsame deutsche Bauern und Handwerker sollten es vorzugsweise sein. Sie, so erhoffte man es sich, würden kommen, weil ihr vom Siebenjährigen Krieg schwer mitgenommenes Vaterland vielen weder Brot noch Zukunft bot. Sie kamen, brachten ihre Konfession mit – überwiegend waren die Siedler Protestanten –, sie brachten ihre Mundarten mit und die Namen, die sie ihren neuen Heimatorten verliehen: Es waren die der alten Heimat wie Darmstadt, Schaffhausen oder Mannheim.


Katharinas Proklamation

Ihrer Geschichte den Rücken gekehrt

Dalos macht darauf aufmerksam, dass die ausgewanderten Deutschen «ihrer Geschichte den Rücken kehrten» und Teil eines anderen historischen Prozesses wurden. Nicht mehr die Gründung des Deutschen Zollvereins 1829, nicht die Frankfurter Nationalversammlung 1848 hatte Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Ansichten, sondern der Dekabristenaufstand 1825, die Befreiung der russischen Leibeigenen 1861. Als Deutsche betrachteten sie sich dennoch weiter – und wurden von den Russen auch so angesehen, nämlich als fleissige, gut ausgebildete und gut organisierte, ihnen selbst in vielen Belangen überlegene Menschen, die Schlüsselpositionen in St. Petersburg einnahmen – «Deutsche, überall zum Trotze nichts als Deutsche», wie der Publizist Alexander Herzen verzweifelt spottete. Seine Worte galten der deutschen Stadtbevölkerung, die anders als die Kolonisten gut integriert war – zu gut, weil sie nämlich die Russen überflügelte, wie nicht nur der mit deutschen Wurzeln versehene Herzen fand.

György Dalos zeichnet den Weg der Deutschen in Russland von den friedlichen Anfängen über das einigermassen gedeihliche Miteinander im späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, als nur noch eine kleine liberale Elite einen Unterschied machte zwischen dem Kriegsgegner Deutschland und «unseren Deutschen». Diesen widerfuhr weithin, wie Dalos schreibt, «offene Diskriminierung und öffentliche Verunglimpfung» – was aber noch nichts war verglichen mit dem, was ihnen unter Stalin bevorstand. Im bolschewistischen Russland, aus dem bald die Sowjetunion wurde, war den Deutschen ihre eigene Republik an der Wolga überlassen worden, eine Tatsache, die heute allenfalls noch nebulös bekannt ist. Zutreffend betitelt Dalos das Kapitel über die Entstehung dieses autonomen Gebiets «Die Geburtswehen einer Republik» – es waren, wie überall in Russland zu dieser Zeit, schmerzliche, erbarmungslose Jahre des Hungers, der Verdächtigung und Verfolgung, des gewaltsamen Todes. Und immer noch sprachen längst nicht alle der Kolonisten Russisch. Ebenso blieben viele tief religiös. Nicht wenige verliessen Russland auch.


Oskar Aul, Auf dem Weg nach Russland

Die jüngste Zeitenwende

Die Nachkommen dieser Menschen kamen nach der Zeitenwende 1989 vermehrt nach Deutschland, nach dem vergeblichen Versuch, die Wolgarepublik wiederherzustellen. Sie kamen vielfach aus Sibirien, wohin Stalin die «unzuverlässigen», als Kollaborateure verdächtigten Deutschen 1941 hatte deportieren lassen. Im Land ihrer Vorfahren trafen sie auf wenig bis gar kein Verständnis. Ihre Muttersprache wurde längst anders gesprochen, als sie es taten, auch ihr Wunsch nach der Pflege ihrer «altmodischen» religiösen Bräuche und ihres Deutschtums traf bei den Deutschen vielfach auf Unverständnis. Die Jungen, die kamen, sehnten sich nach dem goldenen Westen, der jedoch keineswegs auf sie gewartet hatte. Dalos schreibt vom beiderseitigen Gefühl einer Fremdheit.

György Dalos, als ungarischer Jude selbst Angehöriger einer Minderheit, schildert die Geschichte dieser Menschen lakonisch und detailliert, er zeichnet sie erkennbar zugewandt, aber nicht distanzlos. Viele Dokumente, Briefe, Akten, aus denen Dalos zitiert, zeigen das Bild einer unglücklichen, vielfach zerrissenen Minderheit, die letztlich dem Imperium unterlag, das sie einst in anderer Gestalt gerufen hatte. Und das selbst auch, «doktrinär und lebensfremd», wie Dalos betont, am Umgang mit der nationalen Frage scheiterte – auch gegenüber den Russlanddeutschen.

György Dalos: Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Grossen bis zur Gegenwart. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. C. H. Beck, München 2014. 330 S., Fr. 35.90.


Freitag, 1. Mai 2015

Schrumpft der öffentliche Raum?


aus Tagesspiegel.de, 29.04.2015 17:20 Uhr

Renner, Peymann, Dercon und der Streit ums Theater
Bühne ohne Volk
Der öffentliche Raum schrumpft – und damit die Bedeutung des Theaters. Die Leute hören stattdessen nur noch Musik. Ein Kommentar

von 

Seit jeher versammelt das Theater die Menschen, um ihre Themen zu verhandeln. Es lebt davon, dass es gemeinschaftliche Erfahrungen gibt, mit denen es spielen kann. Die gibt es heute immer weniger. Das liegt nicht an den Nackten, an Castorf, Peymann oder der Auswahl für das Theatertreffen, sondern am Wandel der Öffentlichkeit. Das Theater, sagt Dercon, ist „ein symbolischer und ein realer Ort zugleich“. Das war es. Heute ist es nur noch ein realer Ort.

Heute kann man leichter alleine leben als je zuvor

Schon vor fast 40 Jahren hat der Soziologe Richard Sennett vom „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ geschrieben, von der Erosion des öffentlichen Raumes und der sozialen Interaktion. Jene Orte, die traditionell Gemeinschaft schufen, haben diese Funktion verloren: Es gibt Schulen ohne Klopapier und Schulen, wo Fünfjährige Chinesisch lernen; die einen fahren Zug, die anderen billig mit Langstreckenbussen; und zur Bundeswehr geht nur noch, wer das will – oder nichts anderes hat. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft macht den Raum, den alle gemeinsam haben, kleiner. Selbst das Einkaufen findet nicht mehr auf dem Markt, sondern im Internet statt – ohne soziale Interaktion.

„Die Athener“, schreibt Christian Meier in seinem Buch über die Tragödie und das Politische, „waren weit mehr aufeinander als auf sich selbst angewiesen.“ Das ist heute anders. Heute kann man leichter alleine leben als je zuvor, und deshalb schrumpft die Sphäre des Öffentlichen. Das klassische Bild vom Theatrum mundi zielte noch auf die Verbindung von Ästhetik und sozialer Realität. Doch dieser Welt gehen die Schauspieler verloren. Die Gesellschaft ist kein Theater mehr, sie hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen; umgekehrt ersetzt das Theater die Gemeinschaft nicht mehr.

„Der Renner muss weg“

Dass es Tim Renner war, ein Musikproduzent und ehemaliger Chef des Labels Universal, der die Volksbühne neu ausgerichtet hat, ist kein Zufall. Renner hat Acts wie Tocotronic, Sportfreunde Stiller und Rammstein gefördert und ist ein Sieger des kulturellen Wandels. Sein Genre profitiert nicht nur von diesem Wandel, es treibt ihn voran: Der Erfolg von Unternehmen wie Apple wäre ohne den Markt für digitalisierte Musik nicht denkbar. Musik ist heute mobil und individualisierbar – beides sind Wettbewerbsvorteile gegenüber dem Theater. In Zeiten, in denen der Wille zur Gemeinschaft abnimmt, ist die Musik aus dem iPhone die zeitgemäße Kulturform. Dabei trifft man schließlich nicht immer andere.

„Der Renner muss weg“, forderte Claus Peymann. Als ob dann wieder alles wäre wie früher. Als ob das Theater ohne Renner, Dercon und die Jungs von Tocotronic wieder jene gesellschaftliche Bedeutung hätte, die es auch nach der Antike immer mal wieder gehabt hat. Das Theater ist im Einzelfall noch immer anregend und eindrucksvoll – es ist aber infolge des gesellschaftlichen Wandels im Kern nicht mehr politisch. Das Theater ist nicht mehr die Bühne, auf der die Dinge heute verhandelt werden. Diese zu finden, ist schwieriger als einen neuen Theaterdirektor.


Nota. - Zu meinen Leidenschaften gehört das Theater nicht. Als ich in dem Alter war, wo man normalerweise theatersüchtig wird, brach grade das Regietheater aus, und wenn mich was hätte interessieren können, war es das Drama selbst oder der Künstler, der es spielt; Regisseure interessieren mich bis heute nicht.

Darum als gebe ich Ihnen den obigen Text nicht wieder, sondern wegen seiner These, dass der öffentliche Raum schrumpft. Damit wird ja nicht gesagt, dass dem Theater die Zuschauer fortliefen; sondern dass das, was heute auf den Bühnen passiert, für alle andern völlig unerheblich geworden ist. Und das muss ich bestätigen, weil ich mir sonst über die Jahre meine Haltung völliger Indifferenz ja nicht hätte leisten können.

Zugleich aber ist mit dem Internet die Öffentlichkeit weiter und tiefer in die Gesellschaft gedrungen, als es gestern noch möglich schien. Ist das Bühnenpublikum 'zu  klein', um heute noch öffentlich ins Gewicht zu fallen? Aber die Öffentlichkeit des www. ist nur eine virtuelle und müsste sich immer erst nachträglich in der Wirklichkeit re-realisieren, das Theaterfoyer dagegen ist real, warum strahlt es nicht mehr aus?

Ein gebildetes Bürgertum, für das die Theatergänger repräsentativ sein könnten, gibt es nicht mehr, das ist amtlich. Jedenfalls nicht mehr als Kommunikationsgemeinschaft; der Salon ist ausgestorben.

Aber daran allein kann es nicht liegen. Es müssen die Themen sein, die das Theater öffentlich uninteressant werden lassen. Und das mag daran liegen, dass nicht mehr Dichter vorgeben, was auf der Bühne gespielt wird, sondern Leute, denen zum Selberdichten die Kraft fehlt, die aber gern so tun, als ob.
JE