Schröders "Agenda 2020"
aus FAZ, 15. 2. 2016
... Unterdessen hat Gerhard Schröder (SPD) eine „Agenda 2020“ zur Bewältigung der Flüchtlingskrise gefor-dert. Im Zentrum des Reformprogramms müsse ein Integrationsgesetz stehen, sagte Schröder den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Von der Frage, wie gut die Flüchtlinge integriert werden, wird abhängen, ob die Gesell-schaft die Flüchtlinge als Belastung oder als Chance wahrnimmt.“ Die SPD-Führung unterstützte Schröders Forderung.
Schröder verteidigte die Entscheidung seiner Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) vom vergangenen September, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. „Ein Fehler jedoch war, diesen Ausnahmezustand zur Normalität zu erklären“, kritisierte er. „Jetzt ist man dabei, diesen Fehler der Vergangenheit nachträglich zu reparieren.“
Ein Integrationsgesetz muss nach Schröders Vorstellung Sprachförderung, Schulausbildung sowie die Bereitstellung von Wohnungen und Arbeitsplätzen regeln. „Auch die Finanzierung der Integration muss geklärt werden, denn Länder und Kommunen dürfen nicht die Hauptlast tragen.“
Der Altkanzler, der in seiner Amtszeit die Reformagenda 2010 für Arbeitsmarkt und Sozialsystem auf den Weg brachte, forderte darüber hinaus „ein neues Zuwanderungsgesetz, um die Migration zu steuern und zu begrenzen“. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dafür bis zur nächsten Legislaturperiode warten wolle, sei „zu spät“. Schröder rief seine Nachfolgerin dazu auf, sich in der Flüchtlingskrise stärker an der proeuropäischen Politik von Altkanzler Helmut Kohl (CDU) zu orientieren. Deutschland müsse sich der Gefahr der Renationalisierung in der EU entgegenstellen: „Dafür brauchen wir wieder eine stärkere deutsch-französische Zusammenarbeit.“ ...
Nota. - Bei einem Integrationsgesetz geht es nicht darum, ob es "scharf" oder "lasch" oder links oder rechts ist, sondern darum, dass eine wachsende Zahl von Zuwanderern - darüber muss man sich einig sein - motiviert und dabei unterstützt wird, in der deutschen Gesellschaft heimisch zu werden. Das sind die beiden Kriterien: deutsche Gesellschaft und heimisch. Die deutsche Gesellschaft - das ist zuerst einmal der öffentliche Raum. Dessen Regeln können nur respektiert werden, wenn sie allenthalben sichtbar sind. Heimisch - das ist die Privatsphäre der Zugewanderten. Da können-dürfen-sollen sie von ihrer heimatlichen Kultur bewahren, was ihnen wert er-scheint.
Das Kernproblem ist allerdings, dass allein in der abendländische Kultur die Scheidung des Daseins in einen öffentlichen und einen privaten Raum paradigmatisch (aber durchaus noch nicht selbstverständlich) geworden ist. Viele Alltagskonflikte zwischen Einheimischen und Zugewanderten entstehen eben daraus, dass namentlich den orientalischen Kulturen diese Scheidung völlig fremd ist. Ehrenmorde sind keine Privatsache, sondern brechen das Recht, und das ist öffentlich. Die Dynamik der letzten hundert Jahre ging im Westen dahin, dass 'das Öffentliche' immer tiefer ins Privatleben der Menschen eingedrungen ist, erst als Verwaltung und Reglementierung, inzwischen digital durchs Internet. Sodass auch die westliche Kultur gar nicht so sicher ist, wo genau die Grenzen verlaufen und wo sie verlaufen sollen. Integration der Neuankömmlinge verlangt daher nicht nur, dass ihnen immer wieder deutlich gemacht wird, worein sie sich integrieren sollen, sondern ebenso sehr, dass die deutsche Gesellschaft sich darüber im Klaren ist; und wo sie's nicht ist, muss sie es werden.
JE
15. Februar 2016
Gartenzwerge gegen Deutschland.
Die Unterscheidung zwischen asylberechtigten politischen und nicht asylberechtigten Wirtschaftsflüchtlingen hat allenfalls die pragmatische Rechtfertigung, in diesem Augenblick die Zahlen wenigstens ein kleines bisschen drücken zu können. Aber auf weite Sicht ist sie unvernünftig und wird sich außerdem als nicht praktikabel erweisen.
Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge überqueren auch nicht aus Fernweh mit ihren Kindern im Schlauchboot das Mittelmeer, sondern weil sie vor dem Elend fliehen. Wenn sie ihr und ihrer Kinder Leben riskieren – glaubt denn einer, dann werden sie sich von ein paar zusätzlichen bürokratischen Schikanen abschrecken lassen? Es werden immer mehr kommen. Das würde sich auch mit einem Ende der Bürgerkriege im Nahen Osten nicht ändern.
Syrien, der Irak und der IS haben die Sache akut gemacht. Aber die Aufgabe ist eine dauernde: ein Einwanderungsland Europa zu schaffen. Das ist das Signal, das Frau Merkel gesetzt hat, und sie hat allen Grund, nicht locker zu lassen und in der Sache nicht einen Fußbreit preiszugeben. Wenn Deutschland nicht in Europa führt, tut es keiner, und Europa zerfällt. Vielleicht sollte Schröder sich gleich nochmal zu Wort melden und dies nachtragen: Wer jetzt der Merkel in den Rücken fällt, stellt sich gegen Europa und gegen Deutschland.
Europa gibt's nicht à la carte.
aus Süddeutsche.de, 21. Januar 2016, 13:05 UhrSchäuble: Europa als Festung wäre eine Schande
Wolfgang Schäuble will eine Koalition der Willigen. Das habe er den anderen Finanzministern Europas auch schon öfter vorgeschlagen: Loslegen, Geld ausgeben, schnell. "Wir werden Milliarden in die Regionen der Flüchtlinge investieren müssen, um den Wanderungsdruck zu reduzieren", sagt der Bundesfinanzminister auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.
Das Wort Marshallplan mag Schäuble dafür eigentlich nicht benutzen. "Aber von mir aus nennen wir es so." Deutschland sei in der Lage, mehr Geld auszugeben. "Wir haben mehr finanziellen Spielraum als die anderen, das ist wahr."
Weil noch immer zu viele Flüchtlinge nach Deutschland kämen, müsse der Druck auf die Außengrenzen der Europäischen Union sinken, so Schäuble. Für syrische Flüchtlinge müsse es deshalb attraktiver werden, beispielsweise in Camps im Libanon zu bleiben. Abschreckung dagegen sei nicht der richtige Weg: "Europa als Festung ist keine Lösung. Das ist eine Schande." Zudem brauche es "Solidarität mit denjenigen Ländern, die Außengrenzen haben".
Europa gebe es nicht "à la carte"
Alexis Tsipras repräsentiert auf dem Podium in Davos die Außengrenze der Europäischen Union. Im vergangenen Sommer stritt seine Regierung vehement mit Deutschland über das weitere Vorgehen in der Euro-Krise. In der Flüchtlingsfrage nähern sich Athen und Berlin nun rhetorisch an. Wie der deutsche Finanzminister spricht auch Tsipras von mehr Solidarität und nennt die gefährliche Flüchtlingsroute über das Mittelmeer eine Schande.
Die EU müsse endlich ein funktionierendes Verteilungssystem für Asylsuchende aufsetzen, sagt Tsipras. Er fordert weniger Egoismus in Europa. Die Länder dürften sich nicht nur darum kümmern, was in ihrem eigenen Hinterhof passiert. Denn Europa gebe es nicht "à la carte".
Nota. - Das hätte ich mir mein' Lebtag nicht träumen lassen, dass ich einmal Propaganda für eine deutsche Regierungschefin und ihren Finanzminister machen würde. Aber das wird nicht das einzige Unvorstellbare sein, das uns durch die Flüchtlingskrise beschert wird. Soviel Anfang war nie.
JE
Reuters, 15. Januar 2016, 07:06
IWF-Chefin: Flüchtlings-Herausforderung "größer, als wir sehen"
Frankfurt (Reuters) - Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, warnt davor, die Folgen der Flüchtlingskrise zu unterschätzen. Die Herausforderung sei "viel größer, als wir sehen und sehen wollen", sagte sie der "Süddeutschen Zeitung" (Freitagausgabe) laut Vorabmeldung.
Im Moment schaue jedes Land nur auf sein eigenes Terrain. "Aber es gibt viel mehr Probleme". Sie erwarte, dass der Zustrom von Flüchtlingen nach Europa 2016 anhalten werde, sagte sie. Wenn die Friedensverhandlungen erfolgreich verliefen, könnte sich die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Pakistan verringern. Sollte das nicht klappen, erwarte sie, dass noch mehr Menschen kommen.
Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos kommende Woche werde sie eine Studie zum Thema Flüchtlinge vorlegen, sagte Lagarde weiter. "Wir haben Ströme, Ursachen, Kosten und Nutzen der Migranten untersucht und welchen Einfluss sie auf die Volkswirtschaften haben".
Nota. - Es ist Sache der Deutschen - wessen denn sonst? -, dafür zu sorgen, dass alle europäische Länder begreifen: Die Zuwanderung aus Asien und Afrika wird anhalten und ist eine bleibende Herausforderung für dasganze Europa. An dem Thema wird Europa wachsen oder zerbrechen.
Dass die anderen, wirtschaftlich schwächeren Länder ersteinmal dazu neigen, sich um sich selbst zu sorgen, ist begreiflich und war vorauszusehen. Doch gerade darum darf eine deutsche Regierung in dieser Sache nicht locker lassen. Wenn jeder sich um sich selber kümmert und die Schotten dicht macht, ist Europa einmal gewesen.
Aber die Flüchtlinge kommen weiter übers Mittelmeer (die, die Glück haben; die andern bleiben dort.)
JE
Jetzt sind wir nicht mehr nur uns selbst ein Rätsel.
aus Süddeutsche.de, 3. Januar 2016, 09:10 Uhr
Die Welt blickt ratlos bis euphorisch auf Deutschland
Von Gustav Seibt
Es passiert nicht oft, dass es die Stadt München in den New Yorker schafft, das Intelligenzblatt der amerikanischen Ostküste. Und wenn, dann muss vom Oktoberfest die Rede sein und gleich Thomas Wolfe zitiert werden, dessen Bericht über das wilde, orgiastische Bierfest von 1928 unvergessen bleibt. So geschah es in diesem Dezember, als der englische Schriftsteller Martin Amis eine Story mit dem schlichten Titel "Oktober" (mit k) im New Yorker publizierte, illustriert mit beschwingten Lederhosen- und Dirndlbeinen. Und doch war alles anders als sonst.
Im Hintergrund der Trachtenfüße erkennt man eine mit Kopftuch bedeckte Frau, die ein Kind im Arm hält. Denn während des Oktoberfests 2015 liefen ja die Flüchtlingsströme von der Balkanroute weiter vorbei an München, teilweise weiter durch München. Und Martin Amis hat diesen historischen Moment in einem ebenso beeindruckenden wie ratlosen Text festgehalten - für die ganze Welt, wie man feststellen muss, wenn man an den Ruhm des Autors und den Rang seines Publikationsorts denkt.
Amis beschreibt sich darin als Autor auf Lesereise, der auch durch München kommt. Er sitzt im Hotel, behütet von Agenten und Übersetzern. Daher kann er sich ganz der Betrachtung überlassen, über das nachsinnen, was sich vor den Fenstern der Hotellobby abspielt. Ähnlich der Schichtentechnik im Landwirtschaftsfest von Flauberts "Madame Bovary" lässt er die Stimmen und Töne der gleichzeitig ablaufenden Vorgänge durcheinanderspielen: Vorne Klavierklang und Telefonierstimmen des Hotels, darüber ein Nachrichtensender auf dem Bildschirm.
Draußen der Strom der aufgebrezelten Trachtenträger, die zum Fest eilen, dazwischen und dahinter die Flüchtlinge mit ihrem Gemisch aus arabischer Frauenmode und internationaler Jugendkluft.
Eine weitere Bedeutungsschicht ist eingetragen, weil der beobachtende Autor sich die Zeit mit der Lektüre von Vera Nabokovs Briefen an ihren Mann Vladimir vertreibt - zwei weltberühmte Flüchtlinge, aus ihrer Heimat verjagt von den Bolschewisten, aus ihrem Exil weitergejagt von den Nazis: Vera Nabokov ist Jüdin, ein Bruder von Vladimir Nabokov kommt in einem deutschen KZ zu Tode. Vera und Vladimir retten sich an jenes atlantische Ufer, an dem der New Yorker und die meisten seiner Leser zu Hause sind. Amis, der all das mit naturalistischer Treue ineinanderklingen lässt, lässig klimpernd auf dem Klavier der Eindrücke, die er zu Akkorden bündelt - er kennt auch Goethe und zitiert dessen berühmten Satz über die Deutschen aus dem Jahr 1813, den englische Leser am leichtesten in Thomas Manns übersetzten Reden finden können. Es ist Goethes entnervtes Wort vom deutschen Volk, das "so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen" sei.
Die Welt blickt ratlos bis euphorisch auf Deutschland
Von Gustav Seibt
Es passiert nicht oft, dass es die Stadt München in den New Yorker schafft, das Intelligenzblatt der amerikanischen Ostküste. Und wenn, dann muss vom Oktoberfest die Rede sein und gleich Thomas Wolfe zitiert werden, dessen Bericht über das wilde, orgiastische Bierfest von 1928 unvergessen bleibt. So geschah es in diesem Dezember, als der englische Schriftsteller Martin Amis eine Story mit dem schlichten Titel "Oktober" (mit k) im New Yorker publizierte, illustriert mit beschwingten Lederhosen- und Dirndlbeinen. Und doch war alles anders als sonst.
Im Hintergrund der Trachtenfüße erkennt man eine mit Kopftuch bedeckte Frau, die ein Kind im Arm hält. Denn während des Oktoberfests 2015 liefen ja die Flüchtlingsströme von der Balkanroute weiter vorbei an München, teilweise weiter durch München. Und Martin Amis hat diesen historischen Moment in einem ebenso beeindruckenden wie ratlosen Text festgehalten - für die ganze Welt, wie man feststellen muss, wenn man an den Ruhm des Autors und den Rang seines Publikationsorts denkt.
Amis beschreibt sich darin als Autor auf Lesereise, der auch durch München kommt. Er sitzt im Hotel, behütet von Agenten und Übersetzern. Daher kann er sich ganz der Betrachtung überlassen, über das nachsinnen, was sich vor den Fenstern der Hotellobby abspielt. Ähnlich der Schichtentechnik im Landwirtschaftsfest von Flauberts "Madame Bovary" lässt er die Stimmen und Töne der gleichzeitig ablaufenden Vorgänge durcheinanderspielen: Vorne Klavierklang und Telefonierstimmen des Hotels, darüber ein Nachrichtensender auf dem Bildschirm.
Draußen der Strom der aufgebrezelten Trachtenträger, die zum Fest eilen, dazwischen und dahinter die Flüchtlinge mit ihrem Gemisch aus arabischer Frauenmode und internationaler Jugendkluft.
Eine weitere Bedeutungsschicht ist eingetragen, weil der beobachtende Autor sich die Zeit mit der Lektüre von Vera Nabokovs Briefen an ihren Mann Vladimir vertreibt - zwei weltberühmte Flüchtlinge, aus ihrer Heimat verjagt von den Bolschewisten, aus ihrem Exil weitergejagt von den Nazis: Vera Nabokov ist Jüdin, ein Bruder von Vladimir Nabokov kommt in einem deutschen KZ zu Tode. Vera und Vladimir retten sich an jenes atlantische Ufer, an dem der New Yorker und die meisten seiner Leser zu Hause sind. Amis, der all das mit naturalistischer Treue ineinanderklingen lässt, lässig klimpernd auf dem Klavier der Eindrücke, die er zu Akkorden bündelt - er kennt auch Goethe und zitiert dessen berühmten Satz über die Deutschen aus dem Jahr 1813, den englische Leser am leichtesten in Thomas Manns übersetzten Reden finden können. Es ist Goethes entnervtes Wort vom deutschen Volk, das "so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen" sei.
Der von dem Emigranten Thomas Mann ins Englische transportierte Goethe-Satz grundiert die Geschichte von Amis mit einer letzten historischen Tiefenschicht: Diese reicht nun durch zwei ganze Jahrhunderte, während draußen sich das Gewühl des Augenblicks vollzieht, der ungeheure Moment der Gegenwart. Beeindruckend ist dieser Text aber vor allem, weil er ein klares Urteil verweigert - Amis verkündet keine Meinung. Ist das, was er sieht, Irrsinn? Ist es ein Moment ergreifender Menschlichkeit, wie die Nabokov-Parallele zu verstehen geben könnte? Sind die im Einzelnen so achtbaren Deutschen wieder einmal kollektiv verrückt geworden? Der Text beantwortet die Frage nicht.
"So achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen" - Goethe über das deutsche Volk
Mit Mühe schafft es der Schriftsteller durch den von Menschenmassen paralysierten Verkehr zum Flughafen und dann weiter nach New York. Dort angekommen, befällt ihn das Gefühl tiefer Erleichterung - auch er hat ein rettendes Ufer erreicht, einen anderen Kontinent, der nicht von Fliehenden überrannt werden kann. "Oktober" muss gleich danach geschrieben worden sein.
Die Bilder aus München sind berührend. Aber es gibt auch viele, denen unwohl ist angesichts der Aufgabe, Hunderttausende Flüchtlinge zu integrieren. Ignoriert man sie, werden die Probleme nur größer.
Erst in vielen Jahren wird man wissen, ob das, was 2015 begann - und was zu beginnen wohl noch lange nicht aufhören wird -, gut oder böse endet. Was man jetzt schon weiß, ist, dass kaum ein anderer Beobachter Deutschlands sich 2015zu einer so heroischen Suspension des Urteils aufraffen konnte. Wenn jetzt viele hierzulande sagen, besorgniserregend sei weniger die Flüchtlingskrise als die Spaltung der Gesellschaft darüber, dann darf man erwidern: Unseren Nachbarn geht es in Bezug auf Deutschland nicht anders. Selten war die Amplitude, der Ausschlag der Urteile so groß wie in diesem Moment.
Das Jahr begann mit der gefeierten Ausstellung "Germany - Memories of a Nation" im Britischen Museum. Als Neil MacGregor, ihr Macher, im Mai den Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung entgegennahm, berichtete er von dem gewaltigen Erfolg. Er zeigte sich nicht nur in Zehntausenden Besuchern, sondern auch in den Hunderttausenden, die die begleitende Radioserie der BBC anhörten und herunterluden. Bewegt hätten ihm in England beheimatete Deutsche geschrieben, zum ersten Mal in ihrem Leben werde positiv über die Geschichte ihres Herkunftslands berichtet.
Damals, im Frühjahr, noch vor dem großen Ansturm, erklärte MacGregor, die eigentliche Entdeckung für die Engländer sei die Geschichte der Vertreibungen aus dem Osten gewesen, der - so wörtlich - "größten Menschenverschiebung der Weltgeschichte".
Die Briten sprechen von "verwirrender Naivität" - und meinen damit, die Deutschen seien durchgedreht
Zu sehen war im Britischen Museum auch ein "Käfer" von Volkswagen (Baujahr1953), mit seiner ambivalenten Bedeutung als Produkt von Hitlers Volksstaat, aber auch als Symbol des Wirtschaftswunders und der deutschen Ingenieurskunst. Diese Symbolkraft für modernes Design und "german engineering" erklärt auch die Wirkung der jüngsten Betrugsaffären von VW in der angelsächsischen Welt. Sie reicht über die Wirtschaftsteile der Zeitungen weit hinaus. Das korrupte Deutschland, das ist spätestens jetzt mit dem VW-Skandal (und mit den Manipulationen und Geldwäschen der Deutschen Bank, den Machenschaften im Fußball) eine etablierte Tatsache.
Flüchtlingshelfer am Münchner Hauptbahnhof
Behaglich wird sie auch im Süden Europas registriert, wo noch im ersten Halbjahr 2015 die deutsche Härte in der Euro-Krise Wutwellen auslöste, die um den Globus gingen. Sie wirkten nach im jüngsten Auftritt des Vorsitzenden der spanischen Podemos-Partei, Pablo Iglesias, der nach seinem Wahlsieg erklärte: Spanien sei eine souveräne Demokratie und gehöre nicht zur "Peripherie Deutschlands" - ein Credo, das kaum variiert zwischen Italien, Griechenland und dem französischen Front National ertönt.
Das "lateinische Europa", das sich in der Euro-Krise vom angeblich protestantischen Ethos der deutschen Austerität so bedrängt fühlte, reagiert auf die Flüchtlingskrise kühl. In Italien verlassen die im Freien übernachtenden Fremden die Plätze und Bahnhöfe, das freut den Bürger. Dass in Berlin geradezu italienische Verwaltungszustände herrschen, erscheint weniger wichtig als die unheimlich effizient vernetzte deutsche Helferszene, zu der es im Süden kaum Parallelen gibt - schickt man italienischen Freunden Links zur Übersichtsseite der Bedarfslisten aller Berliner Notunterkünfte, erntet man ungläubiges Staunen.
Britische Freunde dagegen neigen durchaus dazu, die neue "german fraternity" als bedauerlichen Anfall von verwirrender Naivität (baffling naiveté) zu verstehen - so höflich formuliert man es, wenn man meint: Ihr seid verrückt geworden. Die Gegenrede, es spreche wenig dafür, Angela Merkel sei über Nacht naiv geworden, enthüllt den ganzen Abgrund der Meinungen. Realpolitisch, so lässt sich eine durchaus verbreitete britische Diagnose zusammenfassen, wäre es klüger gewesen, den griechischen Steuersündern etwas mehr entgegenzukommen und die syrischen Flüchtlinge etwas mehr auf Abstand zu halten - um der Raison Europas willen. Es sind unerquickliche Gespräche, die wieder tief zurück in Stereotype auf beiden Seiten führen.
Wäre es wirklich möglich und für Deutschland klug gewesen, im Herbst 2015auf dem Balkan einen Rückstau von 700 000 Flüchtlingen zuzulassen, mit all den humanitären Katastrophen, die sich damit verbunden hätten? Diese Frage hat soeben Herfried Münkler in einem Interview gestellt. Zum Jahresende hat Roger Cohen, der legendäre, überaus kritische Deutschland-Experte der New York Times einen geradezu hymnischen Leitartikel über unser Land verfasst: "Germany, Refugee Nation".
Mit bitterem Seitenblick auf Amerikas Ängste und seine fehlende Bereitschaft, Verantwortung für ein miterzeugtes Chaos zu übernehmen, prophezeit Cohen: "Im Ergebnis wird Deutschland in der nächsten Generation ein stärkeres, vitaleres, dynamischeres Land werden." Ein Wunsch, den wir gern mitnehmen.
4. Januar 2016
Die Sozialdemokraten und ihre nationale Frage.
Aus leider allzu triftigem Grund weist die heutige FAZ darauf hin, dass Angela Merkels Politik in der Flüchtlings-frage die Sozialdemokratie in eine viel tiefere Zerreißprobe* treiben wird als ihren eigenen KanzlerInnenwahlverein.
"SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi warf Merkel vor, keine ausreichende Antwort auf die Herausforderungen der Krise zu haben. 'Angela Merkel steht nicht dafür, dass sie ausgereifte Gesellschaftskonzepte auf den Tisch legt, sondern dafür, kurzfristig zu agieren und auf Sicht zu fahren'" – womit sie, sei hinzugefügt, sich von der SPD nicht unterscheidet.
"Mit Blick auf die CSU-Position und die Willkommensgeste der Kanzlerin sagte Fahimi, die Union erzeuge 'eine politische Bipolarität, wie sie extremer kaum sein könnte', sie sei innerlich zerrissen. Die Stimmung im Land werde umschlagen, wenn die Kommunen den Alltag nicht mehr bewältigen könnten, so Fahimi weiter. 'Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Wohnverhältnisse vor Ort schwieriger werden, dass das Schwimmbad oder die Turn-halle für Flüchtlinge genutzt werden, die Schulen aber nicht saniert werden können oder zu wenig Lehrer für unsere Kinder da sind, weil die Kommunen das Geld für die Unterbringung oder Integrationskurse brauchen', warnte Fahimi."
Erkennen Sie, in welches Dilemma die SPD schliddert? Seit dem Abgang Schröders wieder ganz zurückgeführt auf Lippendienst am Gutmenschentum, Bedürftigenkümmerei und politisch korrekter Minderheitenpflege, aber nie, wenn's hart auf hart geht - ist sie urplötzlich von der eisernen Kanzlerin überrollt und weiß nicht einmal mehr, was sie sagen soll. Und in ihrer Verlegenheit plaudert Frau Fahimi aus, was ach so viele von diesen Gerechten im Herzen schon immer dachten: Klar wolln wir helfen, jederzeit; es darf uns bloß nix kosten.
Natürlich werden die Wohnverhältnisse "vor Ort" schwieriger werden, natürlich werden die Kommunen Geld, das (unter anderm) für Infrastrukturarbeiten vorgesehen war, für die Flüchtlingshilfe umlenken müssen. Ja wie soll es denn anders gehen? Da sind sie auf dem falschen Fuß erwischt: Ihre Wohltaten waren ja immer für die eigne Klien-tel gedacht; dass der nun selber Unbequemlichkeiten aufgebürdet werden sollen, war nicht vorgesehen. Da dauert's nicht mehr lange, dann hören wir auch von dieser Seite: Unsere Menschen sind noch nicht so weit!
Denn die energische und an dieser Stelle einzig angemessene Antwort steht ihnen ja nicht zu Gebot: dass es sich um eine nationale Aufgabe handelt. Dass wir als Nation herausgefordert sind, zum ersten Mal wieder, und wir können von Glück reden, dass uns das an einer Stelle passiert, wo wir sogar noch Bella figura machen.
Dass der erzkonservative Kardinal Woelki aus Nächstenliebe mitmachen will, ist sein christlicher Job und völlig in Ordnung. Aber die allein würde wahrlich nicht ausreichen, um die Politik einer Bundesregierung zu begründen. Deren Grund ist vielmehr ein historischer: Europa muss sich vereinigen, sonst wird es in der Welt untergehen. In Europa ist aber der Punkt erreicht, wo nur noch ein Land einen unmittelbaren Vorteil davon hat, die Vereinigung voranzutreiben, und das ist naturgemäß das stärkste; während alle andern gern noch das eine oder andere Sonder-recht mit hinüberretten wollen, und die treten auf die Bremse. Es ist nicht so, dass Großdeutschland die eigenen Interessen gegen die Interessen rivalisierender Prätendenten durchsetzen müsste. Es ist so, dass niemand in Europa die Führung übernehmen wird, wenn Deutschland es nicht tut. Aber so unfertig, wie Europa noch ist, hält es nicht lange. Mit andern Worten, wenn Deutschland vor seiner Führungsaufgabe kneift, zerfällt Europa.
Es ist eine nationale Aufgabe, und da muss man unsern Menschen auch schon mal was zumuten. Dem Wutbürger ist sowieso alles zuviel. In Dresden krakeelen sie schon auf der Straße um ihre ungestörte Ruhe auf der Datsche im stillen Winkel, wenn ihnen das einer nehmen will, werden sie rabiat. Das ist der DunkelDeutsche Rest, sie wünschen sich Deutschland warm und eng wie einen Kuhstall.
Ob sich die Sozialdemokraten wirklich nicht entscheiden können, auf welcher Seite sie mitmachen?
*) Magdeburgs sozialdemokratischer Oberbürgermeister Lutz ist heute wegen der parteioffiziellen Flüchtlingspolitik aus der SPD ausgetreten, und die eben erst bestallte Frau Wagenknecht pustet auch schon in dies Horn.
Donnerstag, 15. Oktober 2015
National.
dieter klössing
Heute lebt die dritte Generation von Deutschen, die das Wort 'national' aus schlechtem und allzu gewichtigen Grund nicht mehr aussprechen durften.
Dies ist ein Epochenwechsel: Wir stehen jetzt vor einer nationalen Aufgabe, vor der wir uns nicht drücken können. Wer in Europa müsste sich noch aufgefordert fühlen, wenn wir kneifen wollten?
Die Frage, ob wir das schaffen, stellt sich doch gar nicht. Es bleibt uns ja nichts anderes übrig. Wenn wir uns in der Sache nicht bewähren, steht es uns gar nicht zu, in Europa oder sonstwo eine führende Rolle zu spielen.
Die Bremser und Bedenkenträger, so laut sie unken, sind antinationale Blindschleichen. Sie wollen Deutschland kleinhalten.
8. Oktober 2015
Wessen Boot ist voll?
Géricault, Das Floß der MedusaUnter der Überschrift Deutschlands moralische Selbstüberschätzung brachte die FAZ unlängst einen Beitrag des Histo-rikers Heinrich August Winkler zum Flüchtlingsthema.
Er ist für einen Historiker ungewöhnlich kleingeistig. Ein Journalist, der gelesen, ein Politiker, der gewählt werden will, kann und muss es sich wohl erlauben, das Ding zum Gegenstand deutscher Nabelschau zu machen. Da sagen die einen: Was wird das Ausland denken! Und andre sagen, wir müssen aufhören, immer daran zu denken, was das Ausland denkt.
Das ist doch nicht der Horizont des Historikers. Der Historiker muss die Anzeichen bemerkt haben, dass uns eine neue Epoche von Völkerwanderungen bevorsteht, und dann stellt sich das Problem ganz anders. Es ist keine Frage mehr, was wir Deutschen anders oder nicht anders machen sollen als die andern (Europäer), sondern die Frage ist, was Europa nicht anders zu tun übrigbleiben wird. Er könnte – das ist ja die erste und die ernsteste der Fragen – erörtern, ob die Zeichen vielleicht fehlgedeutet werden.
Aber damit sollte er warten, bis die Fachleute sich festzulegen wagen; denn es wäre nicht mehr eine Sache von Gutmenschen, politisch Korrekten und Bigotten, und es wäre nicht mehr die Zeit, zu unterscheiden zwischen willkommenen Kriegs- und Tyranneiflüchtlingen und unwillkommenen Elendsflüchtlingen. Sondern man müsste erwägen, was Europa tun muss, um sich zu wappnen. Und wer ist am ehesten gefordert und auch am ehesten berechtigt, auf diese Erwägung zu drängen, als der, der nach menschlichem Ermessen selbst den größten Beitrag wird leisten müssen, weil er es kann?
Dann werden alle, die meinen, Europa müsse die Schotten dicht machen und alle Fremden, Gerechte wie Unge-rechte, ins Meer zurücktreiben, genau das sagen müssen, und nicht irgendeinen Brei. Dem wird die FAZ ihre Spal-ten dann aber hoffentlich nicht öffnen. Nicht weil es unkorrekt wäre, sondern schlichter unrealistischer Schwach-sinn ist: Das geht nicht. Wenn Europa das versuchte: Daran würde es zerbrechen. Zu Recht übrigens.
3. Oktober 2015
Die neue Deutsche Frage.
munzeo
aus nzz.ch, 28.9.2015, 06:00 Uhr
Europa auf dem Prüfstand
Deutschlands Janusgesicht, 1989–2015
von Harold Holmes
Steht Europa ein Vierteljahrhundert nach dem Aufbruch von 1989 vor dem Kollaps? Der britische Historiker Harold James analysiert die Diskussion, in der die ambivalente Wahrnehmung Deutschlands eine prominente Rolle spielt.
2015 ist eine bizarre Wiederholung von 1989. 1989 war ein Frühling der Völker, 2015 ist das Ende – der graue Herbst – der Illusionen jenes Frühlings. Im August 1989 lösten die über die ungarisch-österreichische Grenze strömenden Flüchtlinge aus Ostdeutschland eine scheinbar unaufhaltsame Dynamik aus, die zur friedlichen Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik, zum Fall des Eisernen Vorhangs, zum Ende der DDR und zum Zerfall der Sowjetunion führte. Im August und September 2015 unterminieren das Leid und die unaufhaltsame Dynamik der an die Grenzen Europas und insbesondere an die ungarisch-österreichische Grenze brandenden Flüchtlingsströme die Legitimität der EU. Könnten die Migrationsströme von 2015 die EU genauso zerstören, wie jene von 1989 das sowjetische System zerstörten?
Was ist Europa?
Die hitzige Flüchtlingsdebatte in Osteuropa dreht sich auch um das Erbe von 1989. Die damalige Revolution war eine klare Absage an die Diktatur des Kommunismus, aber sie war ambivalent im Blick auf das, was folgen sollte. Stärkte sie die nationale Vision eines wiederbelebten polnischen, tschechischen oder ungarischen Staats – oder stand sie vielmehr im Zeichen eines kollektiven europäischen Gedankens und einer grenzübergreifenden Identität? Diese Dichotomie ist aber nur Schein, denn faktisch gehen Europa und die Wiederbelebung des Nationalgedankens Hand in Hand. Der Irrtum, der jener alten Diskussion zugrunde lag, affiziert nun ganz Europa, vor allem, weil die Interpretation dessen, was Europa ist und bedeutet, sich zunehmend auf die Verhandlung der «deutschen Frage» fokussiert.
Die Debatte über das Erbe von 1989 dreht sich ganz besonders um die Erfahrung Deutschlands. In kritischen Momenten der Wendezeit von 1989/90 versuchten führende deutsche Politiker, die Entwicklungen in ihrem Land in einen weiteren europäischen Rahmen einzupassen. Hans-Dietrich Genscher und andere wurden nicht müde, die Formulierung Thomas Manns zu zitieren, dass sie ein europäisches Deutschland anstrebten und nicht ein deutsches Europa. Aber sie machten kaum je deutlich, auf welche Art und Weise Deutschland europäischer werden sollte, und die Empfehlungen, die sie abgaben, waren letztlich sehr deutsch. Aber was ist überhaupt Europa? Und sind Politiker fähig, eine Vision auszuformulieren, die über den Nationalstaat hinausgeht?
Früher sahen manche Europa als metaphysisches Konzept, in dem sich die Probleme der Vergangenheit auflösten und lösten: als Hort der Vergebung und des Heils. Charles de Gaulle dagegen betrachtete Europa im Zeichen eines französisch-deutschen Psychodramas: Er beschrieb die Beziehung der beiden Länder als endlose Geschichte von Verrat und Dekadenz. Das Szenario von Deutschlands Triumph und Frankreichs selbstverschuldeter Unterlegenheit, das de Gaulle 1940 beschwor, feiert derzeit in Europa wieder Urständ. Aber worin liegt die Beziehung zwischen jener grossen Vision von Europa und dem faktischen, aus Reformunfähigkeit und dem Eigennutz der Eliten resultierenden wirtschaftlichen Drama, das Europa in eine bittere Vergangenheit zurückzudrängen droht?
Deutschlands wirtschaftliche Übermacht warf ihren Schlagschatten auf jede Debatte – schon lange vor 1989. Deutschland gerierte sich auch als Vorbild für Europa. 1976, als infolge der Ölkrise die Weltwirtschaft erstmals nach Kriegsende in Schockzustand verfallen war, sprach Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner Wahlkampagne vom «Modell Deutschland». Dieser exemplarische Charakter ist heute ausgeprägter denn je – er zeigt sich in Deutschlands Arbeitsmarktreform, den Beziehungen zwischen den Tarifpartnern, dem Ausbildungssystem für Lehrlinge, dem Augenmerk auf Währungsstabilität und Budgetdisziplin («Schuldenbremse» ist, wie «Angst», «Kindergarten» und «Schadenfreude», ein Begriff, der über die deutschen Sprachgrenzen hinaus Verbreitung gefunden hat). Die damit bewusst oder implizit vermittelte Botschaft heisst: Andere Europäer sollten deutscher werden – aber Deutschland wird immer noch definieren, was recht und billig ist. Und alle werden davon profitieren, aber die Deutschen mehr als die andern.
Verschwörungstheorien
So spitzt sich die Debatte auf die Frage zu, ob die Währungsunion faktisch eine Umsetzung deutscher – und nicht in erster Linie europäischer – Interessen war.
Weil der Vertrag von Maastricht nach massiven geopolitischen Verwerfungen ausgehandelt wurde, steht sein Resultat im Licht zweier äusserst wirkungsmächtiger, aber völlig verkehrter theoretischer Sichtweisen. Diese dominieren die gegenwärtige Diskussion über das Wie und Warum beim Beschluss der Einheitswährung; sie befeuern politische Leidenschaften, ohne auch nur das Geringste zu einer Lösung beizutragen. Beide sind nachgerade obsessiv auf die Rolle Deutschlands bei der Durchsetzung der Währungsunion fixiert, und sie stehen einander spiegelbildlich gegenüber: Die eine zeigt Deutschland als durch und durch tugendhaft, die andere lässt es rein bösartig erscheinen.
In der ersteren Variante ist die Währungsunion ein von hohem Geist getragenes europapolitisches Projekt, bei dem man über die ökonomischen Realitäten hinwegsah. Es war nötig, um den Teufelskreis der deutsch-französischen Kriege zu durchbrechen.
Die zweite Variante dagegen portiert die Verschwörungstheorie eines verborgenen deutschen Masterplans: Da Deutschland eine niedrigere Lohninflation als Frankreich und eine wesentlich niedrigere als die Mittelmeerländer hatte, würde eine Einheitswährung mit fixem Kurs dem Land wachsende Importüberschüsse garantieren, für die andere den Preis bezahlen mussten. Im Auge der Kritiker verfolgte Deutschland eine merkantilistische Strategie, die dem Land dauerhafte Kontrolle über die Ressourcen sichern sollte und deren Resultat eine erneute Vormachtstellung Deutschlands in Europa sein würde.
Dass die europäische Elite eine Art fallweises Krisenmanagement betreibt, lässt den Anschein entstehen, die grösseren Zusammenhänge würden bewusst aus dem Blick gerückt; das wiederum ruft den Verdacht hervor, dass die Krisen instrumentalisiert werden.
Die heftigen Gefühle, die im Lauf der nicht enden wollenden europäischen Schuldenkrise aufkamen, schwappen nun über in andere Diskussionen.Deutschlands Reaktion auf die Flüchtlingskrise polarisiert, genauso wie zuvor die Schuldendebatte. Für Kritiker wie etwa den ungarischen Staatschef Viktor Orban hat Deutschland die Krise verschuldet: Seine wirtschaftliche Stärke und seine grosszügige Sozialpolitik entfalteten eine gewaltige Sogwirkung. Marine Le Pen ist der Ansicht, dass Deutschland moderne Arbeitssklaven importiert: Sie nannte Angela Merkel eine «Kaiserin», die dem restlichen Europa ihren Willen aufzwinge – zuvörderst dem glücklosen französischen Präsidenten. In anderen Augen – natürlich denen der syrischen Flüchtlinge, aber auch denjenigen einstiger Kritiker im In- und Ausland (sogar Yannis Varoufakis liess sich die Gelegenheit zu einer Stellungnahme nicht entgehen) – ist Angela Merkel eine Heldin, und ihr zorniger Bescheid an die CSU eine Art neuer Nationalhymne: «Dann ist das nicht mein Land.»
Das neue Deutschland wird genauso hochgejubelt – und dämonisiert – wie einst das alte. Seit 1989 sieht sich Deutschland selbst als weltoffener und flexibler, aber auch vermehrt als moralische Instanz. Doch dieser Moralismus, diese deutsche Überheblichkeit, macht es nicht einfacher, Antworten auf globale Probleme zu finden.
Keine gemeinsame Stimme
Am einfachsten ist es, die Schuld jemand anderem – und zwar ausserhalb Europas – zuzuschieben. Und bis zu einem gewissen Grad ist das auch zulässig: ganz offensichtlich etwa bei Krisen, die ihren Ursprung anderswo haben, wie die amerikanische Hypothekenkrise, die politischen Ausfälle Putins, der Arabische Frühling und der Aufstand gegen Asad. Aber diese Erschütterungen und ihr politisches Fallout riefen in Europa unterschiedliche Reaktionen hervor, und die einzelnen Länder formulierten ihre Politik entlang ganz unterschiedlicher Linien. Die Euro-Krise kann als Konflikt zwischen den wirtschaftspolitischen Visionen Frankreichs und Deutschlands oder zwischen Europas Norden und Süden angesehen werden. Die baltischen Staaten und Polen fühlen sich von Russland in ihrer Sicherheit akut bedroht, Südosteuropa dagegen betrachtet einen möglichen Bruch mit Russland mit Sorge. Osteuropa und Grossbritannien gehen mit der Flüchtlingskrise völlig anders um als Deutschland oder Frankreich.
Als das geeinte Europa im Zenit seines Selbstvertrauens stand, war eine seiner stolzesten Behauptungen, dass es einen stabilen Ankerpunkt für den Rest der Welt bieten würde. Mittlerweile aber wirkt das europäische Modell arg gezaust, und das hat auch negative Implikationen für die Stabilität in anderen kritischen Regionen, etwa in Ostasien oder dem Nahen Osten. Dazu kommen Probleme, die eindeutig hausgemacht sind: die Fehlkonzeptionen oder Strukturdefekte der Währungsunion, die Überalterung in vielen Teilen Europas, die Wachstumsschwäche.
Im modernen Europa gibt es keine schlüssige Möglichkeit, die grundsätzlichen Interessen der Europäer zu artikulieren und in die Politik einzubringen. Doch wäre ein Mechanismus vonnöten, der es erlaubt, diese grösseren Zusammenhänge zu erfassen – eine Art Zoom, der sich von der Fixierung aufs Nationale losreisst und stattdessen Europa als Ganzes ins Bild rückt. Aber wie vermittelt man den Europäern dieses grössere Bild, wie bringt man sie dazu, die Welt nicht mehr primär im Licht nationaler Interessen und eines nationalen Egoismus zu sehen?
In Deutschland wurde die sich wandelnde Dynamik zumindest auf Verfassungsebene wahrgenommen. Nach der Wende von 1990 wurde Artikel 23 des Grundgesetzes, in dem die Wiedervereinigung mit den ostdeutschen Bundesländern präfiguriert war, in einer Weise modifiziert, die Deutschland auf die Mitwirkung bei Aufbau und Entwicklung der Europäischen Union verpflichtet. Mächtige und respektierte Institutionen wie das deutsche Verfassungsgericht und die Bundesbank anerkennen diesen Passus als Einschränkung ihrer Deutungshoheit; sie sind nicht gewillt, um der problematischen nationalen Tradition willen eine europäische Krise zu riskieren.
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und die derzeitige Katastrophe im humanitären Bereich setzen Europa einer harten Belastungsprobe aus. 1989 war ein unvorhersehbarer Schock gewesen; 2015 wissen wir, dass mit zahlreichen weiteren Schocks zu rechnen ist. 1989 lehrte uns, dass der Nationalstaat eine Art psychischer Rückversicherung in unruhigen Zeiten sein kann; 2015 realisieren wir, dass ein weit grösseres Versicherungssystem vonnöten ist. Wie jede Versicherung muss es mit Bedacht aufgebaut und gegen Missbrauch geschützt werden. Aber ohne einen solchen Schutzmechanismus dürfte auch der psychologische Rückhalt, den ein Nationalstaat schaffen kann, nicht mehr genügend tragfähig sein.
Harold James lehrt Geschichte an der Princeton University. Deutschland und europäische Wirtschaftsgeschichte sind Schwerpunkte seiner Studien. – Aus dem Englischen von as.
Nota. -Dass Deutschland doch wieder ein politischer und nicht bloß ein geographischer Begriff geworden ist, ist erst anderthalb Jahrhunderte her. Und weil es so spät kam, als andere den Kuchen schon aufgeteilt hatten, konnte es nur ein problematischer Begriff werden, denn es kam als Störenfried. Man muss ja nur auf die Landkarte schauen: Wenn Deutschland sich stabilisiert, ist es das Kernland dieses Kontinents. Und jetzt hat sich Deutschland stabilisiert.
Soll Deutschland in Europa führend sein? Historisch hieß die Frage so: Deutschland oder Frankreich; oderEngland; oder Russland... Ausgangspunkt war die Rivalität mehrer Prätendenten. Das ist aber vorüber. Wenn Deutschland in Europa nicht führend ist, wer dann? Eben: keiner. Es ist nicht so, dass mehrere mögliche Wege offenstehen: Die einen wollen hierlang, die andern wollen dalang, mehrere Führungen streiten um den Vortritt, da muss man sich konsensuell auf was verständigen...; sondern es geht entweder voran, und sei's auch nur Schritt für Schritt, oder es stagniert und zerbröselt. Das war in der Schuldenfrage so, das ist mit den Flüchtlingen nicht anders. Die Gefahr ist nicht, dass Deutschland führt, sondern dass es kneift. Man kann nur hoffen, dass Merkel und ihr Finanzminister in der Flüchtlingsfrage mindestens so standhaft bleiben wie bei den Schulden. Das ist die neue Deutsche Frage.
JE, Mittwoch, 30. September 2015
Völkerwanderung?
Das Völkerrecht ist im 17. Jahrhundert entstanden, aus gegebenem Anlass: Der 30jährige Krieg hatte Mitteleuropa verwüstet und die Staaten des Kontinents tief erschüttert. Seine Pfeiler sind darum Unverletz-lichkeit der Grenzen und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.
Zu einer Völkerwanderung war es damals aber nicht gekommen, dazu hatten zu wenige überlebt. Wenn es nun aber stimmt, dass uns eine Zeit der Völkerwanderung bevorsteht, dann sind, wie in diesen Tagen, die Grenzen, und seien es die Außengrenzen Europa, eben nicht unverletzlich, und die heilige Kuh Nichteinmischung muss vom Eis: Der militärische Eingriff im Irak war richtig, und ein rechtzeitiger Eingriff in Syrien wäre richtig gewesen. – Oh, das wird ein Geschrei geben um das Völkerrecht! Aber erst hinterher, wenn sich nicht mehr übersehen lässt, dass es sich um eine Völkerwanderung gehandelt haben wird. Heute lesen wir noch, die Migratiosnsströme hätten aus globaler Sicht gar nicht zugenommen. (1618 wusste man in Prag und Wien auch noch nicht, dass der Westfälische Frieden erst 1648 geschlossen werden würde.)
21. September 2015
Das neue Deutschland
Macht der Moral
Von Herfried Münkler
Spricht man in diesen Tagen mit Vertretern der ausländischen Presse in Berlin, dann ist vor allem von dem widersprüchlichen und verwirrenden Bild die Rede, das Deutschland in ihrer Sicht während der letzten Monate geboten habe.
Auf der einen Seite ist da das strenge, ja geradezu hartherzige Deutschland bei den Verhandlungen über ein weiteres Rettungspaket für Griechenland und auf der anderen Seite ein Deutschland, das als einziges EU-Land auf die katastrophale Situation der Flüchtlinge in Ungarn und Mazedonien reagiert und sie in einem Akt buchstäblich grenzenloser Großherzigkeit ins Land gelassen hat.
Diese Verwunderung ist nicht aufs Regierungshandeln beschränkt: einerseits eine Gesellschaft, in der die Redewendung von den „faulen Griechen“, die jetzt „den Gürtel enger schnallen müssen“, durchaus mit beifälliger Zustimmung quittiert worden ist, und andererseits eine Gesellschaft, die Flüchtlinge empfängt, als handele es sich um eine nationale Sportequipe, die gerade einen großen Titel errungen hat. Man werde, so die ausländischen Journalisten, aus Deutschland nicht schlau.
Die Verwirrung über Deutschland ist vor allem eine Krise der Klischees.
Selbstverständlich sagt dieses Erstaunen auch etwas über die Beobachter und nicht nur über Deutschland aus, denn gerade bei der Griechenlandrettung hat sich die Bundesregierung durchaus solidarisch gezeigt. Im Unterschied zu Frankreich und Italien wäre sie vom Zusammenbruch der griechischen Banken nur am Rande getroffen worden. Viel weniger als die französische und die italienische gründete sich die deutsche Solidarität auf eigene Interessen. Deswegen konnte sie auch den Grexit ins Spiel bringen.
Aber deswegen handelte es sich auch sehr viel mehr um Solidarität als um ökonomisches Kalkül. Und ansonsten hat die Bundesrepublik schon das gesamte Jahr über mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle anderen europäischen Länder zusammen. Die Kontrastbeschreibung Deutschlands, die als so verwirrend und widersprüchlich bezeichnet wird, zeigt vor allem die Klischees, die im Deutschlandbild der Nachbarn immer noch virulent sind. Die Verwirrung über Deutschland ist vor allem eine Krise der Klischees.
Und doch ging es den Menschen, die in München, Frankfurt und Dortmund zu den Bahnhöfen eilten, um die ankommenden Flüchtlinge willkommen zu heißen, nicht wesentlich darum, das Deutschlandbild des Auslands zurechtzurücken. Vielmehr waren sie Akteure in einem innerdeutschen Kampf um das dominante Bild des Landes. Nicht brennende Asylbewerberheime, sondern Willkommensplakate, nicht Pegida-Demonstranten, sondern aufgeschlossene und weltoffene Menschen sollten für Deutschland stehen – und das haben die Begrüßungsdemonstranten tatsächlich geschafft.
Wenn ein englischer Wissenschaftler danach von einer Hippiekultur in Deutschland sprach, dann hat er von den politischen Kämpfen, die hier um die Deutungshegemonie ausgefochten werden, nichts begriffen. Es ging jetzt vor allem darum, dem rechtsterroristischen Untergrund, der gezielt und systematisch Asylantenheime in Brand gesteckt hatte, nicht die Macht der Bilder zu überlassen. Gegen die menschenverachtenden Zeichen der Abweisung haben sie die Symbole des Willkommens gesetzt. Ihnen dürfte durchaus klar gewesen sein, dass mit einem freundlichen Empfang die Integration der Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft noch lange nicht erfolgt ist. Die „Mühen der Ebene“, um mit Bertolt Brecht zu sprechen, stehen den Deutschen noch bevor, und die werden langwierig und mit Enttäuschungen gespickt sein: Enttäuschungen für die Ankömmlinge, denen Deutschland wie das Gelobte Land vorgekommen sein mag, aber auch Enttäuschungen für die Aufnahmegesellschaft, weil sich die Flüchtlinge keineswegs so umstandslos anpassen und integrieren werden, wie sich das mancher vorgestellt haben dürfte.
Die Bundesregierung hat beim Flüchtlingsproblem einen Führungsanspruch bekommen, den sie gar nicht angestrebt hat
Die Bilder des Willkommens werden dann als Zeichen der Schadenfreude gegen Deutschland gewandt werden. Alle, die jetzt durch diese Bilder beschämt worden sind, werden sich dann obenauf fühlen und ihre jetzige Beschämung mit Häme zurückzahlen. Insofern ist Deutschland auch eine Selbstverpflichtung eingegangen: die, sein Bestes zu geben, um die Integration der Flüchtlinge hinzubekommen.
Dies hat Deutschland auch politisch verwundbar gemacht. Repräsentiert durch die Bahnhofsdemonstranten, hat das Land ein Versprechen abgelegt, das kaum einzuhalten sein dürfte. Das hat bei manchem zu einer skeptischen Distanz gegenüber den Euphorikern geführt, und vermutlich hatte das auch besagter Engländer im Sinn, als er von der Hippiekultur in Deutschland sprach: Aus einer kaum zu meisternden Herausforderung wird ein Freudentanz gemacht; wo ernste Sorgen durchaus angebracht sind, wird leichtsinnige Freude inszeniert.
Ob diese Begrüßung ein erster Schritt bei der Traumatabearbeitung der Angekommenen sein könnte, mag dahingestellt bleiben. Sie verschafft freilich der deutschen Regierung politische Spielräume, die sie vorher nicht gehabt hat: zum einen gegenüber den anderen Regierungen der EU, sich doch noch in Richtung verbindlicher Aufnahmeregeln zu bewegen. Zum anderen im Hinblick auf die Flüchtlinge aus dem Westbalkan, die jetzt in großer Zahl und beschleunigtem Tempo wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können.
Die Demonstranten haben der Regierung einen riesigen Kredit verschafft
Das haben die Willkommensdemonstranten vermutlich nicht beabsichtigt, aber es gehört auch zu den Folgen dieser Szenen: dass die Bundesregierung bei der Bearbeitung des Flüchtlingsproblems einen Führungsanspruch bekommen hat, den sie eigentlich gar nicht angestrebt hat. Die Demonstranten haben der Regierung einen riesigen Kredit verschafft, aber das verpflichtet die Regierung auch dazu, mit diesem Kredit zu wirtschaften. Man wird es ihr verübeln, wenn sie ihn verspielt.
Der Ansehensgewinn Deutschlands hat nämlich noch einen weiteren Einflussgewinn der Bundesregierung in Europa zur Folge. Dazu hat die Kanzlerin mit der Entscheidung, das Registrierungsverfahren nach dem Dublin-Abkommen auszusetzen und die Flüchtlinge ohne weitere Formalitäten einreisen zu lassen, entscheidend beigetragen. Die säuerlichen Reaktionen einiger europäischer Regierungen darauf zeigt, dass ihnen die Folgen dessen für die Verteilung der politischen Gewichte in Europa schnell klar geworden sind.
Das wirtschaftlich und fiskalisch ohnehin übermächtige Deutschland ist damit auch zur europäischen Vormacht in humanitären Fragen geworden, und das heißt, dass sie zum einflussreichsten Interpreten der europäischen Werte geworden ist. Das war die politische Schwachstelle der deutschen Politik, wie sich das während der Griechenlandkrise gezeigt hat. Die Bundesrepublik hatte zwar große ökonomische Macht, aber kaum moralischen Kredit. Den hat sie jetzt.
Freilich muss die Führungsrolle in der EU, die Deutschland nach der Ukraine- und der Griechenlandkrise nun auch in der Flüchtlingskrise zugefallen ist, auch ausgefüllt werden. Die Reaktion vom letzten Wochenende, bei der Deutschland das Problem zeitweilig löst, indem es dessen Hauptlast selbst übernimmt, lässt sich nicht beliebig wiederholen und ist nur als Notmaßnahme in einer besonderen Notsituation anzusehen. Und auch eine Quotenregelung innerhalb der EU kann nur ein Zwischenschritt sein, wenn, womit zu rechnen ist, die Migrationsbewegung aus dem Nahen Osten und Afrika weiter anhält. Die Euphorie wird sich bei der Arbeit an diesen Problemen ebenfalls schon bald als ein bloßer Zwischenschritt erweisen – allerdings als ein wichtiger, der die Lage grundlegend verändert hat.
Nota. - Stelln Sie sich das bloß mal vor: Sie könnten eines Tages sagen, ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, und es ist so harmlos, als würde - sagen wir: ein Uruguayer so reden!
JE
Muss Deutschland führen?
aus nzz.ch, 17.1.2015, 09:00 Uhr Spitzweg, Sonntagsspaziergang
Deutschland darf wieder führen
Biedermeierseele und Aufklärungspatriotismus
Deutschland ist zum Symbol und Schrittmacher europäischer Zivilisation geworden. Gedrückt von historischer Last, wagt es Selbstbewusstsein nur zaghaft. Die Verteidigung der Aufklärung gibt ihm die Chance, Europa verantwortungsbewusst zu inspirieren.
von Ulrich Schmid, Berlin
Der sinnfälligste, der deutscheste Moment der letzten Jahre? Keine der Pegida-Demonstrationen. Der Verdruss und die Angst, die sich hier manifestieren, sind europäische Phänomene, nicht spezifisch deutsche. Nein, die Auszeichnung geht an die Demonstration der Schuhwerfer vor dem Schloss Bellevue vor ziemlich genau zwei Jahren. Ein paar Dutzend gut gekleidete Bürger, meist ältere Semester, die ihr poliertes, in Plastictüten mitgebrachtes Schuhwerk in die Höhe reckten im Bemühen, möglichst südländisch, möglichst «authentisch» zu wirken. Sie wirkten nur saturiert, manierlich und überaus biedermeierlich deutsch, und in den kommenden Monaten sollte ihre «Wut» auf den damaligen Präsidenten Wulff und dessen ungeheuerliche Verfehlungen langsam, aber sicher verebben im Zuge der Erkenntnis, dass der mediokre Mann an der Spitze des Staates entgegen allen Beteuerungen der Medien eben doch kein Kapitalverbrecher war. Als Wulff ging, war er schon vergessen.
Döner – ohne Beilage
Der Biedermeier vergisst schnell, das ist vielleicht sein menschlichster Zug. Sein Kleingeist kam den literarischen Schöpfern des fiktiven Gottlieb Biedermeier, dem Juristen Ludwig Eichrodt und dem Arzt Adolf Kussmaul, schon viel verdächtiger vor. Auch dem Biedermeier, der in den letzten Jahren in Deutschland wieder erwacht ist, gebührt Argwohn. Weltabgewandtheit, die Sehnsucht nach Heimat und Überschaubarkeit, die spitzwegartige Ausblendung der ach so garstigen Realität, der Rückzug in eine liebliche, oft mythisch, oft nationalistisch überhöhte Idylle: Der Biedermeier nimmt die Komplexität der Welt nicht wahr, und das ist, leider, nicht nur sein Problem. Man sieht den Teil und entrüstet sich, dem Ganzen verweigert man sich. Die Grundlagen des Wohlstandes sind so selbstverständlich geworden, dass sie nicht mehr mitgedacht werden. Man will reich sein und vom Welthandel profitieren, aber man hasst die Globalisierung. Man will den Döner, aber nicht den Türken. Man will «Freiheit», aber man verachtet Wettbewerb und Markt. Man behauptet, man sei gegen den spähenden «Big Brother» Staat, dabei liebt man ihn heiss, zumindest solange er in Gestalt des Steuerfahnders in Erscheinung tritt. Die Grünen auf Bundesebene wünschen, dass der erneuerbare Strom aus dem Norden in den Süden gebracht werde – aber vor Ort protestieren Grüne gegen jeden einzelnen Strommast.
Dauerhaft abgelenkt und empört, neigt der Biedermeier dazu, jede Politik, die nicht mit der Produktion des Paradieses beschäftigt ist, als unbrauchbar zu qualifizieren. Er liebt die Verdammung, und die Medien servieren ihm das Gewünschte, liebevoll zugespitzt und überhöht. Doch mit einem vernichtenden finalen Paukenschlag kann sich der Korrespondent dem Biedermeier zuliebe von Deutschland nicht verabschieden. Ja, wenn es um Frankreich oder Russland ginge! In Paris ein Phrasen dreschender Präsident, der reale Politik kaum mehr zu gestalten vermag, in Moskau ein törichter, aufgeblasener Neoimperialist mit mächtiger Liebe zur untergegangenen Sowjetunion. In Berlin dagegen herrscht die kluge, nüchterne Kanzlerin Merkel, die Pomp ebenso verabscheut wie das Anmassende. Sie hat zwar keine Visionen. Scharfsichtig ist sie dennoch.
Deutschland gedeiht. Die Wirtschaft gedeiht. Man ist reich, man ist Exportweltmeister oder dann doch ganz an der Spitze. Die Tarifpartner reden, man schiesst nicht, man streikt, und dann einigt man sich. Die Institutionen funktionieren, Korruption ist rar. Deutschland ist bussfertig geblieben, welches andere Land baute seinen einstigen Opfern Denkmäler? Als Oppositioneller, als Hedonist, als Lesbe, Schwuler, Transsexueller, als Gottloser oder Querdenker lebt es sich ganz gut hier.
Russische Politiker, erschreckt vom Bild der Conchita Wurst, die ihnen zum Symbol westlicher Dekadenz geworden ist, haben das Ende Europas ausgerufen. Deutschland lächelt und begrüsst die Vielfalt. Der Mittelstand überlebt, trotz einem extrem hungrigen Staat, das Zusammenleben ist gut organisiert. Es gibt eine schöne Grundsolidarität in der Gesellschaft, nichts beweist es besser als die kaum je erwähnte und doch so unerhört eindrückliche Bereitschaft von Millionen Bürgern, ehrenamtlich Gutes zu tun.
Liberaler Suizid
Das Land ist gut, seine Regenten sind es nicht so ganz. Die letzten sieben Jahre waren ein einziger kontinuierlicher Abstieg. Der breite gesellschaftliche Konsens hat nach den mühsamen christlich-liberalen Jahren endlich seine parlamentarische Entsprechung gefunden. Das Resultat ist ein strukturell und ideell verödeter Bundestag, der fast nur noch aus einem breiten, sozialdemokratischen Mittelfeld besteht. Das liberale Element ist endgültig exorziert, der Kult des Staates und der Umverteilung mit ganz grosser Kelle kann fortan ungestört betrieben werden. So mancher Feuilletonist jubelte, als es so weit war: Endlich ein Parlament ohne FDP, endlich ein Parlament, das intellektuell verarmt! Helle, sprudelnde Freude an der Einfalt: Biedermeier pur, auch hier. Merkel ist zur Leiterin einer blassrosa sozialdemokratischen GmbH avanciert, die sich die Gunst der Massen durch permanente Abgabe von immer neuen Geschenken sichert. Sozialreformerische Ambitionen sind passé. Der Letzte, der solches schaffte, war Gerd Schröder mit seiner Agenda 2010, ironischerweise ein Sozialdemokrat.
Die Liberalen hätten sich retten können, und das hätte nicht nur ihnen, sondern dem Land gutgetan. Wären sie damals Frank Schäffler gefolgt, hätten sie sich mutig gegen ein Europa gestemmt, das Schulden, Haftung und Verantwortung vergemeinschaftet, und hätten sie für dieses urliberale Aufbegehren zur Not auch den Bruch mit der Union gewagt, sie sässen heute noch im Bundestag. In der Opposition zwar, aber stark, erkennbar, attraktiv und mit einem Echo in den Medien. Die Alternative für Deutschland (AfD) dagegen hätte es sehr viel schwerer gehabt. Das Thema der liberal inspirierten Euro-Kritik wäre besetzt gewesen, die Alternative für Deutschland hätte sich genötigt gesehen, von allem Anfang an den garstigen, ressentimentgeladenen Rechtspopulismus zu pflegen, mit dem sie jetzt gross zu werden hofft.
Und Rechtspopulismus heisst die Gefahr, die Deutschland jetzt bedroht. Der islamistische Terror ist ernst zu nehmen, natürlich, doch siegen wird er ebenso wenig wie einst der linke Terror, falls die Politik kühlen Kopf bewahrt. Rechtes Gedankengut aber gedeiht auf heimischem Boden, und leider gedeiht es gut. Der breite Konsens beginnt zu bröckeln. Ein neues «Die da oben, wir da unten»-Denken hat sich etabliert. Ganz Linke und ganz Rechte entdecken, wieder einmal, ihre reaktionären Gemeinsamkeiten, an erster Stelle, dass Amerikaner und Juden an vielem schuld sind, eigentlich an allem.
Autoritarismus erscheint attraktiver als demokratischer Streit. Die Partei, die vom verbreiteten Unbehagen am meisten profitieren wird, ist die AfD. Die Vorstellung, man werde ihren Aufstieg mit einigen Aktionen zur «Einbindung» der Grollenden verhindern können, ist töricht. Deutschland, bisher neben der Ukraine das einzige grosse europäische Land, das ohne starke rechtspopulistische Bewegung ausgekommen ist, wird spätestens 2017 mit den übrigen Grossen Europas – mit Frankreich, Italien und Grossbritannien – gleichziehen.
Ab dann geht es hart auf hart. Das reaktionäre Rollback, das den Kontinent seit einigen Jahren heimsucht, geht einher mit einer bedenklichen Abwendung von europäischen Grundwerten. In der Levante erstarkt der Islamismus, parallel dazu gedeihen in ganz Europa die Rechtspopulisten. Marine Le Pen will mit Putin die «christliche Zivilisation» retten, nicht die Demokratie. Und welche Rolle Humanisten, frechen Karikaturisten und generell aufmüpfigen Geistern in einem von Putin und Le Pen «geretteten» Europa zugedacht ist, kann man sich ausmalen. Die Pariser Anschläge haben den letzten Beweis geliefert: Denen, die am lautesten zum Widerstand gegen die Barbarei des Islamischen Staats aufrufen, liegt nicht etwa die Aufklärung am Herzen, sondern im Gegenteil deren Liquidierung. Weg mit den Menschenrechten, her mit der Todesstrafe. Im Kampf gegen die Terrororganisation «Islamischer Staat» sieht die Rechte die einmalige Chance, auch gleich die verhassten Errungenschaften der aufgeklärten Moderne endgültig loszuwerden.
Vorbild, nicht Vorreiter
Neue Kreuzzüge aber wären eine Katastrophe. Nirgendwo wird das besser verstanden als in Deutschland, und deshalb kommt Deutschland im Kampf gegen den reaktionären Trend in Europa eine zentrale Rolle zu. Deutschland ist eine Grossmacht. Kein Land vertritt die Grundpostulate der Rechtsstaatlichkeit glaubwürdiger. In Russland werden Kritiker des Präsidenten in Sippenhaft genommen – in Deutschland wird ein Präsident vor Gericht geschleift, weil er in Verdacht geraten ist, einem Freund einen Freundschaftsdienst zu viel erwiesen zu haben. Das internationale Vertrauen ist seit Merkels Amtsantritt noch angewachsen, die bewegenden Tage der Wiedervereinigung sind ein wunderbarer Gründungsmythos für ein Land, das in mühseliger politischer Alltagsarbeit stets aufs Neue beweist, dass die Ideale der Aufklärung lebbar sind. Macht korrumpiert auch in Deutschland, sicher. Aber der Wille, Missbrauch einzudämmen, ist grösser als anderswo.
Die Trommel rühren für ideelle Werte – wäre Berlin damit nicht überlastet? Deutsches Werben für hehre Ziele löst ja nicht immer Entzücken aus; Merkels Sparappelle sind in Südeuropa verhasst. Zu versuchen ist es dennoch. Sicher, Deutschland misstraut allem, was nach Sendungsbewusstsein aussieht. Seit dem Krieg sträubt man sich gegen die Vorreiterrolle, in Brüssel tritt man noch immer zurückhaltend auf. Jahrzehntelang hatte sich der Deutsche mit Sternbergers und Habermas' «Verfassungspatriotismus» zu begnügen. So etwas wie Vaterlandsliebe versagte sich die Elite nach den Erfahrungen des Krieges, und sie untersagte es – sehr hoheitsvoll – auch dem Volk, das darüber nicht immer glücklich war.
Berlin kann vorangehen
Nun wäre es an der Zeit für einen Aufklärungspatriotismus. Er ist unverdächtig, da ureuropäisch – Voltaire, Diderot, Rousseau, Hume – und gleichsam genetisch unaggressiv. Religionstoleranz und Respekt vor individuellen Lebensentwürfen sind Gebote der Aufklärung, nicht des Christentums. Europa braucht nach all seinen Pannen und Missgriffen dringend Inspiration: Hier ist sie. «Zu abstrakt» ist an der aufklärerischen Ideenwelt gar nichts – Begriffe wie strikter Säkularismus, Religionstoleranz und juristische Neutralität beginnen im Ansturm von Religionsfanatikern ebenso hell zu leuchten wie in den Shitstorms engstirniger Nationalisten und Rassisten. Keinem Land würden Kosten auferlegt, keines käme zu kurz. Und Deutschland, so oft aufgefordert, in Europa wieder zu «führen», hätte endlich Gelegenheit, ohne schlechtes Gewissen Begeisterung zu zeigen und internationalen Schwung aufzubauen. Ein Europa als intellektueller Erlebnisraum jenseits von Euro-Zone und Transitverkehr: Um den Ansturm der dumpfen Allianz rechter und linker Demokratieverächter, von Putin bis Le Pen, aufzuhalten, darf Deutschland in Europa ruhig wieder vorangehen.
Deutschland darf wieder führen
Biedermeierseele und Aufklärungspatriotismus
Deutschland ist zum Symbol und Schrittmacher europäischer Zivilisation geworden. Gedrückt von historischer Last, wagt es Selbstbewusstsein nur zaghaft. Die Verteidigung der Aufklärung gibt ihm die Chance, Europa verantwortungsbewusst zu inspirieren.
von Ulrich Schmid, Berlin
Der sinnfälligste, der deutscheste Moment der letzten Jahre? Keine der Pegida-Demonstrationen. Der Verdruss und die Angst, die sich hier manifestieren, sind europäische Phänomene, nicht spezifisch deutsche. Nein, die Auszeichnung geht an die Demonstration der Schuhwerfer vor dem Schloss Bellevue vor ziemlich genau zwei Jahren. Ein paar Dutzend gut gekleidete Bürger, meist ältere Semester, die ihr poliertes, in Plastictüten mitgebrachtes Schuhwerk in die Höhe reckten im Bemühen, möglichst südländisch, möglichst «authentisch» zu wirken. Sie wirkten nur saturiert, manierlich und überaus biedermeierlich deutsch, und in den kommenden Monaten sollte ihre «Wut» auf den damaligen Präsidenten Wulff und dessen ungeheuerliche Verfehlungen langsam, aber sicher verebben im Zuge der Erkenntnis, dass der mediokre Mann an der Spitze des Staates entgegen allen Beteuerungen der Medien eben doch kein Kapitalverbrecher war. Als Wulff ging, war er schon vergessen.
Döner – ohne Beilage
Der Biedermeier vergisst schnell, das ist vielleicht sein menschlichster Zug. Sein Kleingeist kam den literarischen Schöpfern des fiktiven Gottlieb Biedermeier, dem Juristen Ludwig Eichrodt und dem Arzt Adolf Kussmaul, schon viel verdächtiger vor. Auch dem Biedermeier, der in den letzten Jahren in Deutschland wieder erwacht ist, gebührt Argwohn. Weltabgewandtheit, die Sehnsucht nach Heimat und Überschaubarkeit, die spitzwegartige Ausblendung der ach so garstigen Realität, der Rückzug in eine liebliche, oft mythisch, oft nationalistisch überhöhte Idylle: Der Biedermeier nimmt die Komplexität der Welt nicht wahr, und das ist, leider, nicht nur sein Problem. Man sieht den Teil und entrüstet sich, dem Ganzen verweigert man sich. Die Grundlagen des Wohlstandes sind so selbstverständlich geworden, dass sie nicht mehr mitgedacht werden. Man will reich sein und vom Welthandel profitieren, aber man hasst die Globalisierung. Man will den Döner, aber nicht den Türken. Man will «Freiheit», aber man verachtet Wettbewerb und Markt. Man behauptet, man sei gegen den spähenden «Big Brother» Staat, dabei liebt man ihn heiss, zumindest solange er in Gestalt des Steuerfahnders in Erscheinung tritt. Die Grünen auf Bundesebene wünschen, dass der erneuerbare Strom aus dem Norden in den Süden gebracht werde – aber vor Ort protestieren Grüne gegen jeden einzelnen Strommast.
Dauerhaft abgelenkt und empört, neigt der Biedermeier dazu, jede Politik, die nicht mit der Produktion des Paradieses beschäftigt ist, als unbrauchbar zu qualifizieren. Er liebt die Verdammung, und die Medien servieren ihm das Gewünschte, liebevoll zugespitzt und überhöht. Doch mit einem vernichtenden finalen Paukenschlag kann sich der Korrespondent dem Biedermeier zuliebe von Deutschland nicht verabschieden. Ja, wenn es um Frankreich oder Russland ginge! In Paris ein Phrasen dreschender Präsident, der reale Politik kaum mehr zu gestalten vermag, in Moskau ein törichter, aufgeblasener Neoimperialist mit mächtiger Liebe zur untergegangenen Sowjetunion. In Berlin dagegen herrscht die kluge, nüchterne Kanzlerin Merkel, die Pomp ebenso verabscheut wie das Anmassende. Sie hat zwar keine Visionen. Scharfsichtig ist sie dennoch.
Deutschland gedeiht. Die Wirtschaft gedeiht. Man ist reich, man ist Exportweltmeister oder dann doch ganz an der Spitze. Die Tarifpartner reden, man schiesst nicht, man streikt, und dann einigt man sich. Die Institutionen funktionieren, Korruption ist rar. Deutschland ist bussfertig geblieben, welches andere Land baute seinen einstigen Opfern Denkmäler? Als Oppositioneller, als Hedonist, als Lesbe, Schwuler, Transsexueller, als Gottloser oder Querdenker lebt es sich ganz gut hier.
Russische Politiker, erschreckt vom Bild der Conchita Wurst, die ihnen zum Symbol westlicher Dekadenz geworden ist, haben das Ende Europas ausgerufen. Deutschland lächelt und begrüsst die Vielfalt. Der Mittelstand überlebt, trotz einem extrem hungrigen Staat, das Zusammenleben ist gut organisiert. Es gibt eine schöne Grundsolidarität in der Gesellschaft, nichts beweist es besser als die kaum je erwähnte und doch so unerhört eindrückliche Bereitschaft von Millionen Bürgern, ehrenamtlich Gutes zu tun.
Liberaler Suizid
Das Land ist gut, seine Regenten sind es nicht so ganz. Die letzten sieben Jahre waren ein einziger kontinuierlicher Abstieg. Der breite gesellschaftliche Konsens hat nach den mühsamen christlich-liberalen Jahren endlich seine parlamentarische Entsprechung gefunden. Das Resultat ist ein strukturell und ideell verödeter Bundestag, der fast nur noch aus einem breiten, sozialdemokratischen Mittelfeld besteht. Das liberale Element ist endgültig exorziert, der Kult des Staates und der Umverteilung mit ganz grosser Kelle kann fortan ungestört betrieben werden. So mancher Feuilletonist jubelte, als es so weit war: Endlich ein Parlament ohne FDP, endlich ein Parlament, das intellektuell verarmt! Helle, sprudelnde Freude an der Einfalt: Biedermeier pur, auch hier. Merkel ist zur Leiterin einer blassrosa sozialdemokratischen GmbH avanciert, die sich die Gunst der Massen durch permanente Abgabe von immer neuen Geschenken sichert. Sozialreformerische Ambitionen sind passé. Der Letzte, der solches schaffte, war Gerd Schröder mit seiner Agenda 2010, ironischerweise ein Sozialdemokrat.
Die Liberalen hätten sich retten können, und das hätte nicht nur ihnen, sondern dem Land gutgetan. Wären sie damals Frank Schäffler gefolgt, hätten sie sich mutig gegen ein Europa gestemmt, das Schulden, Haftung und Verantwortung vergemeinschaftet, und hätten sie für dieses urliberale Aufbegehren zur Not auch den Bruch mit der Union gewagt, sie sässen heute noch im Bundestag. In der Opposition zwar, aber stark, erkennbar, attraktiv und mit einem Echo in den Medien. Die Alternative für Deutschland (AfD) dagegen hätte es sehr viel schwerer gehabt. Das Thema der liberal inspirierten Euro-Kritik wäre besetzt gewesen, die Alternative für Deutschland hätte sich genötigt gesehen, von allem Anfang an den garstigen, ressentimentgeladenen Rechtspopulismus zu pflegen, mit dem sie jetzt gross zu werden hofft.
Und Rechtspopulismus heisst die Gefahr, die Deutschland jetzt bedroht. Der islamistische Terror ist ernst zu nehmen, natürlich, doch siegen wird er ebenso wenig wie einst der linke Terror, falls die Politik kühlen Kopf bewahrt. Rechtes Gedankengut aber gedeiht auf heimischem Boden, und leider gedeiht es gut. Der breite Konsens beginnt zu bröckeln. Ein neues «Die da oben, wir da unten»-Denken hat sich etabliert. Ganz Linke und ganz Rechte entdecken, wieder einmal, ihre reaktionären Gemeinsamkeiten, an erster Stelle, dass Amerikaner und Juden an vielem schuld sind, eigentlich an allem.
Autoritarismus erscheint attraktiver als demokratischer Streit. Die Partei, die vom verbreiteten Unbehagen am meisten profitieren wird, ist die AfD. Die Vorstellung, man werde ihren Aufstieg mit einigen Aktionen zur «Einbindung» der Grollenden verhindern können, ist töricht. Deutschland, bisher neben der Ukraine das einzige grosse europäische Land, das ohne starke rechtspopulistische Bewegung ausgekommen ist, wird spätestens 2017 mit den übrigen Grossen Europas – mit Frankreich, Italien und Grossbritannien – gleichziehen.
Ab dann geht es hart auf hart. Das reaktionäre Rollback, das den Kontinent seit einigen Jahren heimsucht, geht einher mit einer bedenklichen Abwendung von europäischen Grundwerten. In der Levante erstarkt der Islamismus, parallel dazu gedeihen in ganz Europa die Rechtspopulisten. Marine Le Pen will mit Putin die «christliche Zivilisation» retten, nicht die Demokratie. Und welche Rolle Humanisten, frechen Karikaturisten und generell aufmüpfigen Geistern in einem von Putin und Le Pen «geretteten» Europa zugedacht ist, kann man sich ausmalen. Die Pariser Anschläge haben den letzten Beweis geliefert: Denen, die am lautesten zum Widerstand gegen die Barbarei des Islamischen Staats aufrufen, liegt nicht etwa die Aufklärung am Herzen, sondern im Gegenteil deren Liquidierung. Weg mit den Menschenrechten, her mit der Todesstrafe. Im Kampf gegen die Terrororganisation «Islamischer Staat» sieht die Rechte die einmalige Chance, auch gleich die verhassten Errungenschaften der aufgeklärten Moderne endgültig loszuwerden.
Vorbild, nicht Vorreiter
Neue Kreuzzüge aber wären eine Katastrophe. Nirgendwo wird das besser verstanden als in Deutschland, und deshalb kommt Deutschland im Kampf gegen den reaktionären Trend in Europa eine zentrale Rolle zu. Deutschland ist eine Grossmacht. Kein Land vertritt die Grundpostulate der Rechtsstaatlichkeit glaubwürdiger. In Russland werden Kritiker des Präsidenten in Sippenhaft genommen – in Deutschland wird ein Präsident vor Gericht geschleift, weil er in Verdacht geraten ist, einem Freund einen Freundschaftsdienst zu viel erwiesen zu haben. Das internationale Vertrauen ist seit Merkels Amtsantritt noch angewachsen, die bewegenden Tage der Wiedervereinigung sind ein wunderbarer Gründungsmythos für ein Land, das in mühseliger politischer Alltagsarbeit stets aufs Neue beweist, dass die Ideale der Aufklärung lebbar sind. Macht korrumpiert auch in Deutschland, sicher. Aber der Wille, Missbrauch einzudämmen, ist grösser als anderswo.
Die Trommel rühren für ideelle Werte – wäre Berlin damit nicht überlastet? Deutsches Werben für hehre Ziele löst ja nicht immer Entzücken aus; Merkels Sparappelle sind in Südeuropa verhasst. Zu versuchen ist es dennoch. Sicher, Deutschland misstraut allem, was nach Sendungsbewusstsein aussieht. Seit dem Krieg sträubt man sich gegen die Vorreiterrolle, in Brüssel tritt man noch immer zurückhaltend auf. Jahrzehntelang hatte sich der Deutsche mit Sternbergers und Habermas' «Verfassungspatriotismus» zu begnügen. So etwas wie Vaterlandsliebe versagte sich die Elite nach den Erfahrungen des Krieges, und sie untersagte es – sehr hoheitsvoll – auch dem Volk, das darüber nicht immer glücklich war.
Berlin kann vorangehen
Nun wäre es an der Zeit für einen Aufklärungspatriotismus. Er ist unverdächtig, da ureuropäisch – Voltaire, Diderot, Rousseau, Hume – und gleichsam genetisch unaggressiv. Religionstoleranz und Respekt vor individuellen Lebensentwürfen sind Gebote der Aufklärung, nicht des Christentums. Europa braucht nach all seinen Pannen und Missgriffen dringend Inspiration: Hier ist sie. «Zu abstrakt» ist an der aufklärerischen Ideenwelt gar nichts – Begriffe wie strikter Säkularismus, Religionstoleranz und juristische Neutralität beginnen im Ansturm von Religionsfanatikern ebenso hell zu leuchten wie in den Shitstorms engstirniger Nationalisten und Rassisten. Keinem Land würden Kosten auferlegt, keines käme zu kurz. Und Deutschland, so oft aufgefordert, in Europa wieder zu «führen», hätte endlich Gelegenheit, ohne schlechtes Gewissen Begeisterung zu zeigen und internationalen Schwung aufzubauen. Ein Europa als intellektueller Erlebnisraum jenseits von Euro-Zone und Transitverkehr: Um den Ansturm der dumpfen Allianz rechter und linker Demokratieverächter, von Putin bis Le Pen, aufzuhalten, darf Deutschland in Europa ruhig wieder vorangehen.
Kommentar zu Schule macht lebensuntüchtig.
Dieser Alarm-Ton ist mir zuwider. Dass die Schule 'in der Krise' steckt, liegt in ihrer Natur - ihrer Natur als Notbehelf. Ein Notbehelf hat Bestand nur zwischen zwei Ausbesserungen.
Das einzige echte oben angesprochene Problem ist die seit Jahrzehnten und für Jahrzehnte andauernde Zu- wanderung aus andern Kulturkreisen. Aber das ist ein Problem der Gesellschaftspolitik und nicht der Insti- tution Schule.
Und zwar der Gesellschaftspolitik in scheinbarer Umkehruung der Perspektiven. Die wirklichen Behinderer der Zuwanderung waren die Verhinderer von Integration; nämlich die Herolde des Multikulti. Multikulti bedeutet nämlich: Zuwanderung ist kein Problem. Jedenfalls nicht für uns. (Wenn für die Zugewanderten, dann ist es deren Sache; solln sie sich eben in Subkulturen ein Zuhause schaffen.)
So ist es Jahrzehnte lang gelaufen, das Ergebnis ist so augenfällig, dass von Multikulti auch der ranzigste Alternative nicht mehr zu reden wagt. Doch jetzt ist das Problem so hoch wie ein Gebirge: Die Subkulturen sind stabilisiert und von den Agenten der Herkunftsländer durchsetzt und agitiert: Die haben an einer gelin- genden Integration kein Interesse.
Die Aversion der Multikulti-Jünger gegen Integration war freilich nicht unverständlich: Denn bei Befür- wortern wie Gegnern verstand man Assimilation darunter. Das ist weder eine realistische Perspektive, noch befördert sie die Bereicherung, den die Zuwanderung über den Arbeitsmarkt hinaus zu unserer eigenen autochthonen Kulur bringen kann.
Der Fehler liegt freilich in der selbstgefälligen, aber ungebildeten Auffassung, dass 'eine Klurur so gut ist wie die anderer' - und alles andere sei kolonialistischer Eurozentrismus.
Aber der Unterschied der westlichen zu allen anderen Kulturen ist substanziell. Während alle anderen - nämlich traditionellen - Kulturen weltanschaulich geschlossen sind und sich als überzeitlich verbürgt vor- kommen, wo Andersheit lediglich in isolierten, nach außen aseptischen Inseln* möglich ist, außerhalb derer man sich in der Tat anzupassen hat -, ist die westliche Kultur - nicht in allen ihren Ecken, wie ihr wohl wisst - universalistisch statt partikulär, weil sie nämlich individualistisch ist und ihre Mitglieder nicht nach ihrer Stammeszugehörigkeit beurteilt (aber fängt das nicht bei uns auch wieder an?!), sondern nach dem Beitrag, den ein jeder selber zum gesellschaftlichen Verkehr leistet.
Das ist für jeden Einzelnen keineswegs so selbstverständlich, wie es nach der verfassungsmäßigen Norm sein sollte. Um so mehr Grund haben wir, die Aufnahme von Zuwanderen aus anderen Kulturen an dieser Perspektive auszuricht und nicht einer andern.
*) Ghetto heißt eine Insel bei Venedig, wo die Juden ein Gemeinswesen nach eigenem Gesetz unterhielten.
JE
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