Montag, 24. August 2015

Am Ausgang des Mittelalters: Europa um 1400.

Jan Hus in Konstanz
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Tagung: Zentraleuropa um 1400 


Robert Emmerich
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Julius-Maximilians-Universität Würzburg

24.08.2015 12:28

Die Polnische Historische Mission und der Würzburger Diözesangeschichtsverein veranstalten in Zusammenarbeit mit der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń sowie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg eine wissenschaftliche Tagung unter dem Titel:

Krisen – Konflikte – Konsolidierungen
Politische, religiöse und gesellschaftliche Herausforderungen in Zentraleuropa um 1400
Kryzysy - konflikty - konsolidacje. 
Wyzwania polityczne, religijne i społeczne w Europie Środkowej na przełomie XIV i XV wieku

Datum: 17.-18. September 2015 (Donnerstag-Freitag).

Die Tagung findet im Theodor-Kramer-Saal in Archiv und Bibliothek des Bistums Würzburg statt (Domerschulstr. 17, Würzburg).

Vor 600 Jahren, am 6. Juli 1415, wurde Jan Hus, der bekannte böhmische Theologe und Prediger, als Häretiker von der Vollversammlung des Konstanzer Konzils zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag samt seinen Schriften auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Mit seiner grausamen Hinrichtung war die Absicht verbunden, die Verbreitung seiner Lehre abrupt zu beenden. Jan Hus selbst hinterließ in seinem Abschiedsbrief die bedeutungsschweren Worte: „Das aber erfüllt mich mit Freude, dass sie meine Bücher doch haben lesen müssen, worin ihre Bosheit geoffenbart wird. Ich weiß auch, dass sie meine Schriften fleißiger gelesen haben als die Heilige Schrift, weil sie in ihnen Irrlehren zu finden wünschten".

Im Mittelpunkt der Tagung „Krisen – Konflikte – Konsolidierungen um 1400" steht aus Anlass dieses Gedenkjahrs die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation in der Zeit von Jan Hus. Ein Schwerpunkt soll dabei auf Ostmitteleuropa und dem angrenzenden deutschsprachigen Kulturraum liegen.

Ziel der Konferenz ist es, die Krisen und Konflikte in ihren Kontexten, Potentialen und Dimensionen wie in ihren Verläufen und Formen der Bewältigung exemplarisch zu beschreiben. Im Besonderen sollen die transregionalen wie interkulturellen Auswirkungen verdeutlicht werden. Die Veröffentlichung der Vorträge ist zeitnah im Jahrbuch „Bulletin der Polnischen Historischen Mission", Nr. 11/2016, beabsichtigt.

Programm der Tagung

Donnerstag, den 17. September 2015

9:00-9:15 Grußworte

9:15-10:00 Einführungsvortrag
Uni.-Prof. Dr. Adam Krawiec (Uniwersytet im. A. Mickiewicza, Poznań): Eine Weltbildkrise? Die gelehrten Weltvorstellungen und ihre Vermittlung in Mitteleuropa um 1400
Diskussion

10:00-10:30 Kaffeepause

10:30-12:15 Jan Hus und das Konstanzer Konzil

Julian Happes M.A. (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): Die Verbrennung von Jan Hus und Hieronymus von Prag in der Chronik des Konstanzer Konzils Ulrich Richentals (um 1360-1437)

Armin Bergmann M.A. (Universität Augsburg): Kardinal Francesco Zabarella (1360-1417) und seine Rolle im Entstehungsprozess des Dekrets „Haec sancta"

Dr. habil. Wojciech Mrozowicz (Uniwersytet Wrocławski): Constancie flammis adiectus. Johannes Hus und der Hussitismus in den Augen schlesischer Chronisten

Diskussion

12:15-13:45 Mittagessen

13:45-15:30 Jan Hus – geistige und politische Auseinandersetzungen

Szymon Górski M.A. (Instytut Historii PAN, Warszawa): Integrating or Disintegrating? The Crusades against the Hussites, 1420-1431

Prof. Dr. Krzysztof Bracha (Instytut Historii PAN, Warszawa): Die Polemik gegen den hussitischen Bildersturm im Lichte des Traktates "De superstitionibus" des Johannes von Wünschelburg (1380/1385-ca.1456)

Dr. Krzysztof Ratajczak (Uniwersytet im. A. Mickiewicza, Poznań): The school legislation of the Catholic Church in the husytian times

Diskussion

15:30-16:00 Kaffeepause

16:00-17:45 Religion und Reform

Dr. Dr. Leszek Zygner (Państwowa Wyższa Szkoła Zawodowa, Ciechanów): Vision der Kirchenreform im Spiegel der polnischen Statutengesetzgebung um 1400

Dr. Winfried Romberg (Julius-Maximilians-Universität Würzburg): Frömmigkeitsströmungen und religiöse Reform im spätmittelalterlichen Bistum Würzburg

Prof. Dr. Maria Starnawska (Akademia im. Jana Długosza, Częstochowa): Konflikt und Emanzipation. Die Bildung der Ordensstrukturen der Chorherren des Heiligen Grabes in Polen von der Mitte des 14. bis zum Mitte des 15. Jahrhunderts

Diskussion

19:00-20:00 Öffentlicher Abendvortrag (Ort: Ratssaal im Würzburger Rathaus, Rückermainstraße 2)
Einführung in das historische Rathaus: Dr. Hans Steidle (Stadtheimatpfleger in Würzburg): Das Wandbild im Ratssaal des Würzburger Rathauses

Prof. Dr. Andrzej Radzimiński (Uniwersytet Mikołaja Kopernika, Toruń): Die Zeit der Krisen und der Durchbrüche um 1400: Mittelosteuropa im Spätmittelalter

Anschließend Empfang

9:00-12:15 Politische Formen von Macht und Ohnmacht. Alte und neue Kräfte

Dr. Klara Hübner (Slezská univerzita v Opavě): Herrscher in der Krise – die Krise des Herrschers. König Wenzel IV. (1361-1419) als Projektionsfläche zeitgenössischer Propaganda

Dr. Paul Srodecki (Universität Gießen): «... quia inter vos, qui estis firmissima propugnacula christianorum, stabilita concordia est valde opportuna ...« Sacerdotium und Imperium als vermittelnde Kräfte im Konflikt zwischen dem Deutschen Orden und dem Königreich Polen im frühen 15. Jahrhundert

Diskussion

10:05-10:35 Kaffeepause

Dr. Dmitriy Weber (Staatliche Universität St. Petersburg): Der Deutsche Orden und Polen im Zeitalter des Konzils von Konstanz. Der Livländische Zweig des Deutschen Ordens und die politischen Ereignisse am Anfang des 15. Jahrhunderts

Sebastian Kubon M.A. (Universität Hamburg): Hochmeister Michael Küchmeister und die Konflikte des Deutschen Ordens mit Polen und Litauen der Jahre 1414 bis 1422. Krisen ohne Ende oder eine Phase der Konsolidierung?

Łukasz Fabia M.A. (Jagiellonen-Universität, Kraków): Zeremonie und Gestik in Kommunikation zwischen Jagiellonen und Hochmeister des Deutsche Ordens im 15. Jahrhundert

Diskussion

12:15-13:45 Mittagessen

13:45-17:30 Regionalität und transregionale Problemlagen

Prof. Dr. Wolfgang Wüst (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg): Kommunikation in der Krise? Nürnbergs Ostbeziehungen während der Hussitenkriege

Dr. Julia Burkhardt (Heidelberger Akademie der Wissenschaften): Ein Königreich im Wandel: Ungarn um 1400

Diskussion

15:00-15:30 Kaffeepause

Alexander Querengässer (Dresden): Vom Fall der Luxemburger und dem Aufstieg der Wettiner. Die Grenzkonflikte zwischen der Markgrafschaft Meißen und Böhmen im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert

Dr. Markus Naser (Julius-Maximilians-Universität Würzburg): Aufbau und Verteidigung eines reichsstädtisch-rothenburgischen Territoriums unter Bürgermeister Heinrich Toppler (um 1340-1408)

David Weiss (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg): Die ‚enthauptete' Hanse – Ein Spiegel der schwachen Reichsgewalt?

Diskussion

Veranstalter:
• Polnische Historische Mission an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg – Dr. Renata Skowrońska
• Würzburger Diözesangeschichtsverein – Prof. Dr. Wolfgang Weiß & Dr. Winfried Romberg
• Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń, Institut für Geschichte und Archivkunde, Lehrstuhl für Geschichte der Baltischen Länder – Prof. Dr. Andrzej Radzimiński
• Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Philosophische Fakultät, Lehrstuhl für Fränkische Landesgeschichte – Prof. Dr. Helmut Flachenecker

Die Tagung wird durch folgende Institution gefördert:
• Archiv und Bibliothek des Bistums Würzburg
• Bayerische Staatskanzlei
• Stadtarchiv Würzburg
• Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit
• Würzburger Diözesangeschichtsverein

Die Tagung wird unter der Schirmherrschaft von Herrn Oberbürgermeister Christian Schuchardt veranstaltet


Samstag, 22. August 2015

Jetzt aber wirklich: Ein neues Maschinenzeitalter.


aus nzz.ch, 21.8.2015, 05:30 Uhr

Automatisierung
Ein neues Maschinenzeitalter
In der Informatik sind in jüngster Zeit einige grundlegende technische Durchbrüche gelungen. Die Automatisierunggewinnt neuen Schwung. Vollbeschäftigung wird es wohl nicht mehr geben, die Einkommensunterschiede werden zunehmen.

Von Stefan Betschon

Wenn von Computern die Rede ist, muss man meist nicht lange warten, bis das Wort «Revolution» fällt. Die Computernutzer konnten sich an die ständige Veränderung gewöhnen, an den permanenten Umsturz. Doch jetzt, so behaupten Experten, jetzt wird alles anders. Jetzt beginnt – nein, nicht die Revolution der Revolution –, jetzt beginnt die Revolution der Revolution der Revolution. Jetzt verändert sich das Anderswerden, jetzt kippt das System. Jetzt beschert uns der computertechnische Fortschritt nicht mehr nur bessere Computer, sondern eine neue Welt. Eine Welt mit neuen Annehmlichkeiten und neuen Herausforderungen, mit grossen Einkommensunterschieden und massenhafter Arbeitslosigkeit.

«IT Doesn't Matter»

Vor 50 Jahren stellte Gordon Moore, Mitbegründer von Intel, die Vermutung auf, dass sich die Integrationsdichte von Prozessoren ungefähr alle zwölf Monate verdopple. Die Beobachtung – bekannt geworden als Mooresches Gesetz – verheisst eine rasche Steigerung der Leistungsfähigkeit von Computern.

Computer begannen sich in den Unternehmen in den 1960er und vor allem in den 1970er Jahren zu verbreiten. Mit dem Personal Computer begann in den 1980er Jahren – so schrieb der Soziologe Manuel Castells – die «Revolution der informationstechnologischen Revolution», nun konnten sich auch Privatanwender einbringen bei der Weiterentwicklung dieser Technik, konnten eine sich immer schneller drehende «Rückkoppelungsspirale zwischen Innovation und deren Einsatz für weitere Innovationen» in Gang setzen

Computer vermehrten sich rasch, eroberten sich immer neue Anwendungsbereiche, wurden immer schneller. Gleichzeitig aber beobachteten amerikanische Ökonomen in den 1980er Jahren eine Abschwächung des Wachstums der Arbeitsproduktivität. Ein seltsames Zusammentreffen, ein Paradox. «Computer finden sich überall, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken», lautet ein Bonmot, das der Nobelpreisträger Robert Solow 1987 formulierte.

Computer seien nicht wichtig – «IT Doesn't Matter» –, behauptete 2003 in der «Harvard Business Review» ein Journalist namens Nicholas Carr. Die Informatik sei wie Elektrizität und Eisenbahnverkehr eine unsichtbare «Infrastrukturtechnologie», so die These, die bald auch in Buchform für aufgeregte Diskussionen sorgte. Computer könnten einer einzelnen Firma keine strategischen Wettbewerbsvorteile bieten. Carr rät den Firmen, ihre Informatikinvestitionen zu reduzieren.

Technisch versierte Jungunternehmer, die Gründer von Amazon, Facebook, Google und anderen Internetfirmen, haben nicht auf Carr gehört. Sie haben nach der Jahrtausendwende gewaltige Summen in den Aufbau einer komplexen IT-Infrastruktur investiert. Sie haben nicht einfach eingekauft, was der Markt zu bieten hatte, sondern sie haben neuartige Systeme selber entwickelt. Um in Dutzenden von Datenzentren rund um die Welt für Milliarden von ungeduldigen Kunden Billionen von Datensätzen aufzubewahren, sahen sie sich gezwungen, völlig neue Methoden für die Datenverwaltung zu erfinden. Berauscht von ihren Erfolgen, haben sie sich auch an technische Probleme herangewagt, die mit ihren Geschäften nicht oder nur lose in Verbindung stehen, haben eine Stereoanlage entwickelt, die auf gesprochene Befehle reagiert, eine Virtual-Reality-Brille oder ein Auto, das ohne Fahrer fährt.

In dieses Auto von Google hat sich im Sommer 2012 in Kalifornien ein von der Ostküste angereister Ökonom gesetzt. Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen, er ist begeistert und macht sich daran, ein Buch zu schreiben, um den Anbruch eines neuen Zeitalters zu verkünden: «The Second Machine Age: Work, Progress and Prosperity in a Time of Brillant Technologies» (2014). Erik Brynjolfsson, Professor an der renommierten MIT Sloan School of Management, hat sich in den 1990er Jahren hervorgetan mit nüchternen Publikationen, die mit klugen theoretischen Modellen und umfangreichem Datenmaterial einen positiven Zusammenhang zwischen Informatikinvestitionen und einer Zunahme der Arbeitsproduktivität aufzuzeigen versuchten. In dem Buch «Wired for Innovation» konnte er 2010 die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem sogenannten «Produktivitätsparadox» als beendet erklären. Zwar hätten Investitionen in Computertechnik vor 1995 keine messbaren Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität gehabt. Nach 1995 aber habe sich die Produktivität von ihrer langfristigen Wachstumsrate von 1,4 Prozent pro Jahr gelöst und fast verdoppelt auf 2,6 Prozent. Zwischen 2001 und 2003 habe sich die Rate auf 3,6 Prozent erhöht.

Nach all den Jahren mit den Produktivitätsstatistiken hat Brynjolfsson im Google-Auto ein Erweckungserlebnis. In der Einleitung zu seinem jüngsten Buch, das er zusammen mit dem Ökonomen Andrew McAfee geschrieben hat, heisst es: «Während Jahren haben wir die Auswirkungen der Digitalisierung studiert, und wir glaubten, wir hätten ein recht gutes Verständnis von ihren Möglichkeiten und Grenzen. Aber während der vergangenen paar Jahre haben diese Techniken angefangen, uns zu überraschen.» Die technische Entwicklung habe einen Wendepunkt erreicht. «Es ist eine Wende zum Guten – Überfluss anstatt Knappheit, Freiheit anstatt Einschränkung –, aber eine, die uns schwierige Herausforderungen beschert und uns schwierige Entscheidungen abverlangt.»

Wo Menschen überlegen bleiben

S. B. Bei der Erforschung der künstlichen Intelligenz zeigte es sich im Verlauf der vergangenen sechzig Jahre immer wieder, dass Aufgaben, die dem Menschen leichtfallen (Gesichtserkennung, Mustererkennung, Autofahren), für Maschinen äusserst schwer zu lösen sind, während Dinge, von denen Menschen denken, sie seien schwierig – Schachspiel –, den Maschinen keine Mühe bereiten. Aufgrund dieser Beobachtung liegt die Annahme nahe, dass Tätigkeiten, die mit Mustererkennung zu tun haben, auch in Zukunft von Menschen ausgeübt werden, während Aufgaben, deren Lösungsweg sich mathematisch beschreiben lässt, in die Domäne der Maschinen gehören.

Diese Aufteilung wurde aber durch neueste technische Durchbrüche durcheinandergebracht. Es ist gelungen, Systeme zu entwickeln, die bei der Gesichtserkennung besser sind als ein Mensch; es gibt Computer, die ein Auto steuern können. Nach wie vor aber gilt, dass dort, wo Kreativität, Erfindergeist und Kommunikationsfähigkeit gefragt sind, Menschen den Maschinen überlegen sind.
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Durch Maschinen ersetzt werden:
Astronauten, Bankdirektoren, Bibliothekare, Buchhalter, Fliessbandarbeiter, Kassierer, Minenarbeiter, Nachtwächter, Portiers, Programmierer, Projektmanager, Radiomoderatoren, Taxifahrer, Tramkontrolleure
Nicht durch Maschinen ersetzt werden: 
Bildhauer, Coiffeure, Gärtner, Goldschmiede, Hauswarte, Kellner, Kunstmaler, Lyriker, Modedesigner, Opernsänger, Pfarrer, Primarschullehrer, Regisseure, Velomechaniker, Wissenschafter
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Wunder über Wunder

Plötzlich, so scheint es, haben Computer sehr viel dazugelernt. Doch Science-Fiction-Projekte wie das selbstfahrende Auto oder von IBM der Computer, der in einem TV-Quiz mit Trivialwissen glänzt, vernebeln den Blick. Ist es nicht wunderbar, dass es heute möglich ist, mit einem klapprigen Windows-PC in einem abgelegenen Internetcafé in Südostasien den Computer einer Schweizer Bank dazu zu bringen, einer vietnamesischen Fluggesellschaft Geld zu überweisen und wenige Sekunden später Flugticket und Bordkarte anzuzeigen? Es geht bei diesem Beispiel um simple Datenbankabfragen, es braucht für diese Aufgabe keine künstliche Intelligenz und auch keine Supercomputer.

Computer haben sehr viel dazugelernt. Wie konnte dieser Durchbruch geschehen? Brynjolfsson und McAfee verweisen auf das Mooresche Gesetz. Dieses «Gesetz» bezieht sich auf die Integrationsdichte von Computerchips, die aber kein verlässlicher Indikator ist für die Rechenleistung. Diese wiederum hängt nur lose zusammen mit der Nützlichkeit eines Computers. Seit Jahrzehnten gibt es Computer, die den Tastatureingaben einer geübten Schreibkraft folgen können. Dieser Mensch schreibt nicht schneller, wenn sich die Rechenleistung des Computers nun verdoppelt.

Besser als das Mooresche Gesetz ist das Metcalfesche Gesetz geeignet, den jüngsten Innovationsschub zu erklären. Die vom amerikanischen Computerwissenschafter Robert Metcalfe aufgestellte Faustregel besagt, dass der Nutzen eines Computernetzwerks proportional zur Anzahl der möglichen Verbindungen wächst. Noch Anfang der 1990er Jahre behinderten zahlreiche proprietäre Techniken und vielfältige Inkompatibilitäten den Datenaustausch zwischen Computern unterschiedlicher Bauart. In den 1990er Jahren konnten sich Standards etablieren, die den Datenaustausch erleichterten. Diese Standards sind zum Teil sehr alt (TCP/IP), sie sind manchmal sehr simpel (HTML), und doch haben sie es ermöglicht, dass heute auch komplizierte, mehrstufige Transaktionen, an denen mehrere Firmen und Computer verschiedener Hersteller beteiligt sind, reibungslos ablaufen.

Wiederum ist eine Rückkoppelungsspirale in Gang gesetzt worden: Mit jeder Interaktion mit einem Menschen lernt die Google-Suchmaschine dazu. Die Spracherkennung von Apple, Siri, ist besser als ihre Vorgänger, nicht weil ein neuer Algorithmus zum Einsatz kommt, sondern weil sie mehr über den Benutzer weiss, etwa über sein Adressverzeichnis verfügt oder seinen Standort auf einem Stadtplan kennt. Nach wie vor sind Programme für die automatische Übersetzung von begrenztem Nutzen, aber sie sind jüngst besser geworden, weil sie über ein umfangreiches Korpus mit korrespondierenden Texten in verschiedenen Sprachen verfügen.

«Eine gewisse Beunruhigung»

Das erste Maschinenzeitalter begann mit der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine Serie von technischen Erfindungen veränderte die Arbeitswelt grundlegend. Die Befürchtung, dass die Maschinen den Menschen die Arbeit wegnehmen könnten, wurde auch von besonnenen Ökonomen geteilt. John Maynard Keynes sagte zu Beginn der 1930er Jahre als Folge des technischen Fortschritts eine grosse Arbeitslosigkeit voraus.

«In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre», so schreibt die NZZ in der Karfreitagsausgabe 1962, «bemächtigte sich weiter Kreise in der zürcherischen Bevölkerung angesichts der verwirrenden Perspektiven, welche das Aufkommen der Automation eröffnete, eine gewisse Beunruhigung.» Eine vom Regierungsrat eingesetzte Studienkommission kam aber dann zum Schluss, die Automation berühre «wohl auf lange hinaus nur eine kleine Minderheit der Arbeiter- und Angestelltenschaft».

Diese Ansicht, dass die Automation mehr Arbeitsplätze schafft, als sie zerstört, ist laut Brynjolfsson und McAfee unter Ökonomen die vorherrschende. Doch sie sei theoretisch schwer begründbar und gerate zudem empirisch unter Druck. «In den vergangenen zweihundert Jahren hat der technische Fortschritt die Produktivität stark gesteigert, doch ein Blick auf die Daten zeigt, dass sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die Beschäftigung im Gleichschritt mit der Produktivität entwickelt hat. Allerdings lässt sich den Daten auch entnehmen, dass sich in jüngster Vergangenheit die Beschäftigung von der Produktivität entkoppelt hat.» Erst jetzt, nach 200 Jahren technischen Fortschritts, geraten die Menschen in die Defensive. Es stünden grössere Verwerfungen an. Nicht nur hat sich auf den Graphen der Volkswirtschafter die Beschäftigung von der Produktivität gelöst, es hat sich auch eine Schere aufgetan zwischen der Zunahme des Bruttoinlandprodukts pro Kopf und dem Medianeinkommen.

Wo bleibt der Mensch?

Das selbstfahrende Auto von Google hat es auch Nicholas Carr angetan. Es weckt bei ihm Erinnerungen an seine Jugend und an sein erstes Auto – ein handgeschalteter Subaru –, es bringt ihn aber auch dazu, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Es sind düstere Gedanken: Zwar seien Computer noch immer so «gehirnlos wie ein Zahnstocher», aber sie seien mittlerweile doch in der Lage, unsere am meisten geschätzten intellektuellen Fähigkeiten nachzuahmen. Nicht nur nehmen die Computer vielen Menschen die Arbeit weg, sie verändern auch die Arbeit. Weil Menschen sich der Maschine anpassen müssen, verdummen sie. «Abgehängt» heisst Carrs Buch (2014) in der deutschen Übersetzung, ein Titel, der die Frage beantwortet, die der Untertitel aufwirft: «Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheiden?»

Brynjolfsson und McAfee geben sich optimistisch. Die Technik verleihe uns Macht, die Welt zu verändern, aber damit verbunden sei eine grosse Verantwortung. «Es wird eine Belohnung geben oder aber ein Desaster, wie es die Menschheit noch nie gesehen hat.» Was tun, um der Katastrophe zu entgehen? Brynjolfsson und McAfee haben wenig neue Ideen. Sie empfehlen dem Einzelnen, auf eine gute Ausbildung zu achten. Den Politikern raten sie, sich für gute Schulen und eine gute Infrastruktur einzusetzen und für eine Einwanderungspolitik, die gut ausgebildete, unternehmerisch denkende junge Ausländer ins Land lockt. Auch soll der Staat die zunehmende Arbeitslosigkeit durch eine negative Einkommensteuer abmildern. Am Schluss machen sich die beiden Ökonomen Mut mit einem Zitat von Martin Luther King: «Der Bogen der Geschichte ist lang, aber er neigt sich hin zur Gerechtigkeit.»



Donnerstag, 20. August 2015

Sola fide.

aus Tagesspiegel.de, 13.08.2015 18:57 Uhr                                                       lutherisches Flugblatt gegen Tetzel

Gnade gegen Geld
Kirche zwischen Finanzmarkt und Seelsorge: Historiker erforschen den Ablasshandel des Spätmittelalters neu. Der führte schließlich zu Martin Luther und zur Reformationsbewegung.

Von 

Drei Kontrollposten muss man passieren, vorbei an sonnenbebrillten Sicherheitsleuten und Schweizer Gardisten in schmucken Uniformen, um ins materialisierte Gedächtnis der katholischen Kirche zu gelangen. Für eine Stunde öffnet das Vatikanische Geheimarchiv den Teilnehmern der vom Deutschen Historischen Institut (DHI) in Rom veranstalteten Ablasstagung seine Pforten. Ganz so opulent wie in der Dan-Brown-Verfilmung „Illuminati“ kommen die Räumlichkeiten zwar nicht daher, dennoch: Ehrfurchtsvoll ist man schon, im Angesicht von 85 Regalkilometern Schriftbestand und der im Lesesaal eigens für die internationale Crème de la Crème der Mediävistik ausgebreiteten mittelalterlichen Schriftstücke.

Im Schatten eines ausgezehrten Christus am Kreuz, der die Szenerie zu überwachen scheint, stehen die Historiker vor dem berühmten Wormser Edikt – jenem Erlass, mit dem Kaiser Karl V. im Jahr 1521 über den Reformator Martin Luther die Reichsacht verhängte. Die jüngst stattgefundene Tagung „Ablasskampagnen des Spätmittelalters – Martin Luther und der Ablassstreit von 1517“ blickte denn auch schon auf die anstehende Lutherdekade. 2017 wird es 500 Jahre her sein, dass Luther seine 95 Thesen gegen die Ablasspraxis der Kirche in Umlauf und damit die Reformation derselben in Gang gebracht hat.

Was störte Martin Luther am Ablass?

Doch was war so anrüchig an diesen Ablasskampagnen? Was störte den Reformator an der im 15. Jahrhundert allgegenwärtigen Ablasskultur, sodass er die Tradition, in der er selbst groß geworden war, über den Haufen warf und die Geschichte in neues Fahrwasser lenkte?

Das Konzept des Ablass als solches hat in der Christenheit eine lange Tradition. Die Idee, dass die Sündenstrafen – nicht aber die Sünde selbst – durch bestimmte Werke des Gläubigen gemildert oder ausgesetzt werden können, war schon in der Spätantike verbreitet.

Im 15. Jahrhundert begann dann eine breit angelegte Kapitalisierung des Ablass. In einer Verbindung aus Seelsorge und moderner Finanztechnik verkaufte die Kirche das verbriefte Heil und stopfte auf diese Weise ihre Haushaltslöcher. Das Konzept der Ablasskampagne geht im Wesentlichen auf den französischen Domdekan Raimund Peraudi zurück, meint Ludwig Schmugge, Experte für Kirchen- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Peraudi organisierte um 1470 in Rom im großen Stil einen päpstlichen Ablass, um die baufällige Kathedrale von Saintes zu restaurieren.

Gigantische Kampagne für die Peterskirche

Sein Konzept machte Schule, schon bald gab es eine gigantische Ablasskampagne für den Neubau der römischen Peterskirche. Etliche Landesherren erwirkten bei der Kurie fortan Ablasslizenzen, die ihnen den Handel mit der Gnade gewährten. Scharenweise erwarben die Menschen nicht bloß für sich selbst, sondern auch für ihre verstorbenen Angehörigen die heiß gehandelten Versicherungspapiere fürs Jenseits.

Die katholische Lehre vom „Gnadenschatz“ erklärte die Kirche zum Verwalter des durch Christus gewirkten Verdienst-Pools, aus dem sie nach Gutdünken verteilen konnte. Was sie freilich nicht ohne Gegenleistung tat, die in guten Werken aber eben auch in einer Geldgabe bestehen konnte. Der dem Dominikanermönch und Widersacher Luthers Johann Tetzel zugeschriebene Satz „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“ bringt diese Haltung auf den Punkt.

„Die Kommerzialisierung von Glaubensinhalten in dieser Größenordnung war ein Novum“, sagt Schmugge. „Bis heute hat es nichts Vergleichbares gegeben.“ Dabei hätten die Ablasskampagnen, so der Historiker, ohne die junge Technik des Buchdrucks nie eine derart flächendeckende Wirkung entfaltet. An der Schwelle zur Moderne steht also ein gigantisches Kommerzialisierungsprojekt, das sich die mediale Revolution der Schwarzen Kunst vollends zunutze machte. Um 1500 durchformte die Ablasskultur das öffentliche und private Leben der Menschen auf ganzer Linie.

Der Handel erhitzte die Gemüter

Dass der marktförmige Handel mit der Gnade viele Gemüter erhitzte, kann man sich lebhaft vorstellen. So war Luther weder der Erste noch der Einzige, der sich an der Ablasspraxis störte und eine Entschlackung des Glaubens von seinem außerbiblischen Strandgut wünschte.

„In der Forschung gibt es diesbezüglich eine Kontroverse“, sagt der emeritierte Professor Wilhelm Winterhager von der Philipps-Universität Marburg. Mancher Historiker hänge der Pulverfasstheorie an, nach der die zeitbedingten Fehlentwicklungen der Kirche bereits einen solchen Unmut erzeugt hatten, dass Luthers Thesenanschlag bloß ein letzter Funke war, der die Neujustierung auf den Weg brachte. Andere, wie der evangelische Kirchenhistoriker Bernd Moeller, pochten dagegen auf die eigentümliche Leistung Luthers, die in der exegetischen Bergung des Prinzips „sola fide“ liege. Demnach gelangt der Mensch allein durch seinen Glauben in den Stand der Gnade, nicht aber durch sein Tun und schon gar nicht durch die Abgabe von schnödem Mammon. Glauben vs. Werk – so das Begriffspaar der Kontroverse.

Luther entwickelt ein mystisches Bußverständnis

Der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin erklärte auf der DHI-Tagung, Luther habe im Laufe seines Lebens ein mystisches Bußverständnis entwickelt. Das katapultierte ihn schlussendlich aus der mittelalterlichen, sakramental orientierten Theologie heraus. Dass die Menschen sich weniger vor der Sünde als vor der aus ihr hervorgehenden Strafe fürchten – dies sei laut Leppin die Essenz von Luthers Ablasskritik gewesen.

Luthers existenzielles Bußverständnis erklärte die Kirche als Mittler zwischen Gott und den Menschen für überflüssig und stellte allein auf das in der Bibel verkündete Evangelium ab. Die Gnade sei bereits durch Christus gewirkt, der Mensch könne sie bloß noch glaubend empfangen. Dass die Kurie aus dem Gnadenschatz nach hausgemachten Regeln verteilte, um ihn in einen Goldschatz zu verwandeln, musste Luther missfallen. Dies nicht nur deshalb, weil ihm die Kapitalisierung ein Graus war, sondern weil er den Ablass, ob nun verschenkt oder verkauft, im Ganzen für falsch hielt.

Bis heute spielt der Ablass im katholischen Glauben eine Rolle

Die Kirche aber pochte weiter auf ihr Recht, Ablässe zu verteilen, auch wenn sie den Handel im 16. Jahrhundert unter Strafe stellte. Bei aller gegenreformatorischen Agitation hat die Kirche also Teile von Luthers Ablasskritik in die eigene Theologie integriert. „Der Ablass als solcher wurde jedoch mehr als vorher zu einem Identitätsmoment des Katholizismus“, sagt Winterhager. Demnach versteifte man sich auf den Ablass als Differenzmarker gegenüber den reformatorischen Kirchen und profilierte das Eigene in Abgrenzung zum anderen.

Noch heute spielt der Ablass im katholischen Glauben eine Rolle, auch wenn das Fegefeuer – in dem die zeitlichen Sündenstrafen zu erdulden wären – dort inzwischen überholt ist.

Im Jahr 2016 feiert die Kirche ein außerordentliches Jubeljahr, in dem die Gläubigen einen Generalbass erwirken können. Jeder, der dem Papst bei seiner Predigt lauscht – ob live, ob im Fernsehen oder via Internet –, habe bei angemessener innerlicher Disposition die Möglichkeit, in den Stand der Gnade zu gelangen. Ein Jahr später ist dann Lutherjahr. Und es ist sicher kein Zufall, dass der ökumenisch aufgeschlossene Papst Franziskus ausgerechnet 2017 einen Besuch in Deutschland, dem Kernland der Reformation, geplant hat.


aus tohopesate

1371, Juli 23, Bf. Wedekind v. Minden verleiht allen Wohltätern der Armen u. Aussätzigen zu St. Nicolai einen 40tägigen Ablass und Karenz der auferlegten Bußen, StAHan, Urk. I, Nr. 302.

Einen „Verkauf“ der Absolution durch die röm.-kath. Amtskirche, wie ihre Gegner häufig behauptet haben u. wie es auch heute noch vermittelt wird, gab es nicht.

Kostenpflichtig war, was etwas völlig anderes ist, die Ausstellung der Bullen, welche die Sünder als Bestätigung dafür erhielten, dass sie absolviert wurden. Es handelte sich um eine Verwaltungsgebühr, die im 14. Jh. eingeführt wurde. (Niemand käme heute auf die Idee die Gebühr für das Ausstellen eines Personaldokuments als „Kauf der Staatsbürgerschaft“ anzusehen).Im späten MA gab man Ablassbriefe auch gegen Almosen aus; Arme erhielten sie gratis.

Diese Bullen waren notwendig, denn man musste einen Beweis liefern können, die Absolution erhalten zu haben, um wieder zum Empfang der Sakramente zugelassen zu werden, wenn das Delikt oder Verbrechen öffentlich bekannt war.

Bis gegen Ende des 15. Jh. war der Ablass streng geregeltMissbrauch, wie er Anf. des 16. Jh. den Auslöser zur Reformation lieferte, war verboten. Nur bestimmte Sündenstrafen konnten durch Geld u. keinesfalls ohne tätige Reue erlassen werden.

Finanz. Engpässe beim Bau des Petersdomes führten schließlich zur Lockerung der Regeln (1518). Der Sünder konnte nun die Strafe durch Kauf eines Ablassbriefes auch ohne Priester tilgen, was zu heftiger Kritik und Luthers Anklagen wieder dem Ablasswesen führte.

Die zahllosen Pamphlete, die seit Beginn der Reformation über diese Frage in Umlauf waren, um die Kirche zu diskreditieren, zeichnen sich durch Entstellung aus u. sind auf die prot. Propaganda des 16. u. 17. Jh. zurückzuführen.                                        
RK

Lit.: L HÖDL, Ablass, in LMA I, Sp. 43 ff; N. PAULUS, Geschichte es Ablassbriefes im MA, 3 Bde., 1923.

Mittwoch, 19. August 2015

Die totalitäre Versuchung..

aus nzz.ch, 18.8.2015, 05:30 Uhr

Mark Lilla über die Verführbarkeit der Intellektuellen
Ein Wille zur Macht
Dass sich grosse Denker immer wieder Mächtigen angedient haben, die Geschichte als Gericht verstanden, ist ein irritierendes Phänomen. Der Philosoph Mark Lilla greift sechs Fälle scharfsinnig auf.

von Martin Meyer

Über sie handelt Mark Lilla. In einem Buch des deutschen Titels «Der hemmungslose Geist» (im Original: «The Reckless Mind») porträtiert der an der New Yorker Columbia University lehrende Philosoph sechs Männer, deren bemerkenswerter Scharfsinn sie nicht davon abhielt, in der einen oder anderen Form der Tyrannis zu huldigen – sei es linken Diktaturen mit ihrem gespielten Menschheitspathos, sei es Regimen von rechts, hier genauer dem Nationalsozialismus und seinem Wahn von völkischer Auserwähltheit und bizarrem Führerkult.

Anspruch und Wirkung

Lillas Liste liesse sich leicht erweitern. Doch die Auswahl ist repräsentativ und für manche Fälle schlagend, wenn die Kluft vermessen wird, welche zwischen intellektueller Potenz und moralischer Verfehlung läuft. Mit Blick auf Martin Heidegger käme hinzu, dass die jüngsten Veröffentlichungen aus den Archiven dessen Antisemitismus nochmals unter verschärfender Beleuchtung präsentieren. Ähnliche Erfahrungen waren zu vermelden, als Carl Schmitts Tagebuch «Glossarium» im Jahr 1991 publiziert wurde und dessen Verfasser als üblen und wehleidigen Polemiker vorführte.

Interessant ist, dass die Sechsergruppe von teils offenen, teils verdeckten Verwandtschaftsbeziehungen gekennzeichnet ist. Walter Benjamin suchte den Kontakt zu Carl Schmitt und nutzte dessen Lehre von der Souveränität für seine Habilitation über das barocke Trauerspiel. Michel Foucault liess sich von Heideggers Metaphysik-Kritik inspirieren und mehr noch von Nietzsches Theorien zum bürgerlichen Ressentiment. Alexandre Kojève, der russisch-französische Hegel-Interpret, der seine farbige Karriere schliesslich als hoher Staatsbeamter in Paris beschloss, unterhielt – wie übrigens auch der unverdächtige Raymond Aron – eine interessante und intensive Korrespondenz mit Schmitt. Auch Jacques Derrida pflegte sich auf diesen und häufig auf Heidegger zu beziehen, wenn er über Macht, Gewalt, Herrschaft und Politik philosophierte.

Der Antisemitismus als Motor

Der älteren Generation – Heidegger, Schmitt, Kojève – waren die Ursprünge des modernen Totalitarismus schon lebensmässig nahe. Die russische Oktoberrevolution, Mussolinis Marsch auf Rom, in Deutschland der Aufstieg der Nazis – das alles schuf für verführbare Geister einen Humus des Denkens in «starken» Kategorien. Sowohl Heidegger wie Schmitt – und übrigens am Rande sogar Thomas Mann – waren von der «Bewegung» beeindruckt. Der Jurist als Anpasser rechnete mit Hitlers ordnender Diktatur und verrechnete sich dabei bös. Dem Philosophen kam die scheinbare Naturnähe der Nazis mit Boden und arischem Blut im Gegenzug zur kalten Zivilisationsmechanik des neuen Weltbürgertums zupass. Heidegger wurde bald zum überzeugten Mitläufer. Doch der eigentliche Motor ihrer Parteinahme für das Regime wurde für beide ihr Antisemitismus.

Für Schmitt, den «römisch» geprägten Katholiken, waren die Juden nicht nur schuld an vielen Verfehlungen der Gegenwart; sie passten als ewiges Feindbild bestens in die Offenbarungsreligion seines Gottes. Dass die Nazis nicht auf diesem Klavier einer politischen Theologie der allerchristlichsten Wehrhaftigkeit mitspielten, ging dem Professor bald ungemütlich auf. Schon 1936 stand Schmitt auf einer schwarzen Liste der SS. Für Heidegger zieht Lilla dessen Liebesbeziehung zu seiner jungen Schülerin Hannah Arendt heran, um die Agenda der Peinlichkeiten zu erforschen. Dass die spätere Meisterdenkerin politischer Theorie noch bis zuletzt sich echte Elemente der Treue zu ihrem einstigen Angebeteten erhielt, macht die Sache nicht einfacher.

Gängige Lesart war damals auch für Karl Jaspers, den nüchternen Kollegen, es sei eine Art von Verwirrtheit gewesen, die den an sich unpolitischen Heidegger in die Arme der braunen Machthaber getrieben habe. Lilla zitiert eine Fussnote aus Hannah Arendts Schrift «Was ist Existenzphilosophie?», die solchem Tenor entspricht. Heidegger sei seinem unheilbaren Romantizismus ausgeliefert gewesen, schreibt sie, der wiederum einer aus dem Geniewahn und aus der Verzweiflung genährten «Verspieltheit» entsprungen sei. Jaspers wiederum hoffte, den Irregeleiteten nach 1950 therapieren zu können. Zögernd beginnt eine Korrespondenz. Das Resultat ist ernüchternd; Heidegger hat nicht viel, und schon gar nicht Philosophisches, zu bekennen.

Man erkennt die Umwegigkeit – und nicht nur im Fall Heidegger –, mit der operiert wird, um ein Phänomen verstehbar zu machen, das dauerhaft für Irritationen sorgt: hier ein Geist, der bedeutende, jedenfalls vielschichtige Werke hervorgebracht hat; dort dessen Charakter, der elementare Regeln von Vernunft, Menschlichkeit und Mass vermissen lässt. Jaspers erfasste ziemlich richtig, wie Heidegger damals war, nämlich «weltlos, gottlos». Aber damit war kaum zu begreifen, dass «Sein und Zeit» ein Meisterwerk war und bleiben würde.

Heidegger und Schmitt enttäuschten ihre Epoche besonders massiv. Schmitt meinte zur Zeit seiner Parteinahme für die Nazis den «Führer» führen zu können – ein absurdes und von Grössenwahn geprägtes Wunschdenken, das wie ein später Akkord auf Platons Abenteuer in Syrakus klingen muss. Walter Benjamin, Alexandre Kojève und auch Michel Foucault lehnten sich weniger weit in die Öffentlichkeit vor und illustrieren damit, welcher Kopfgeburten des Radikalismus auch eine philosophische Schreibstube fähig ist. Benjamins tragischer Freitod auf der Flucht vor den Häschern der Gestapo am 26. September 1940 in Port Bou zerschnitt alle denkbaren Klärungen in Bezug auf seine «messianische» Theorie. «Erlösung» war ein entscheidender Begriff. Sollte sich diese indessen nach streng marxistischer Doktrin in und mit der Revolution des Proletariats politisch über die Welt ergiessen? Oder hielt es Benjamin doch eher mit einem «Messias», der seinen Gang erst antreten würde, wenn alles hienieden in Ruinen und Katastrophen zusammengebrochen wäre?

Himmel auf Erden

Ein Gegenstück qua Zuversicht schrieb Kojève mit seiner Lehre vom Ende der Geschichte. Auf dem Marsch zum Fernziel einer allseits befreiten Menschheit kam ihm freilich ausgerechnet Josef Stalin entgegen. Der Zyniker und Verbrecher als Diktator und Massenmörder schien für Kojève mit dem Modell des sowjetischen Imperiums bereits eine wesentliche Zwischenstufe erreicht zu haben. Lilla verfehlt nicht, auf einen Wesenszug Kojèves hinzuweisen, der dessen Geschichtsphilosophie allenfalls relativieren könnte: Unter vielen totalitär getriebenen Denkern war er einer der wenigen mit den Eigenschaften Humor und Ironie.

Lillas klug kritische Porträts leuchten nicht alle Ecken aus. Doch sie fassen auf verständliche Weise zusammen, was jene Männer bewegte, erregte und in die Extreme trieb. Selten wollten wir dem amerikanischen Schulmeister und seinem klaren Auge aufgeklärter Vernunft widersprechen. Dass es allerdings häufig spannender und erkenntnisreicher sein kann, sich mit den schweren Jungs statt mit den Sonntagskindern einer fehlerlosen Moral zu beschäftigen, beweist ihr Interpret ja selbst.

Mark Lilla: Der hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen. Kösel-Verlag, München 2015. S. 223, Fr. 28.90.

Nota. - Da fehlt doch was! Diese Leute wollten den Pelz gewaschen haben, ohne nass zu werden. Eine beschauliche Hängematte zwischen Vita activa und contemplativa: Ratgeber, Prinzenerzieher, graue Eminenz im Halbdunkel, an den Stellschrauben der Macht drehen, aber ohne Verantwortung zu übernehmen... Nichts hintert den Intellektuellen, selber Politiker zu werden, aber da muss er sich kompromittieren, Reservatio mentalis gilt da nicht, man muss sich notfalls selbst die Hände schmutzig machen.

Das 20. Jahrhundert, das war die Epoche der Weltrevolution. Ihr bedeutendster Intellektueller war Leo Trotzki, der hat sich nicht gedrückt, und für die Salons hatte er keine Zeit. Wollten sie das? Doch nur, wenn es nichts kostete. Walter Benjamins 'Messianismus' reichte eben, um Stalin die Stiefel zu lecken, neben vielen, vielen andern. Und einen Trost haben sie sicher: Mit dem Tod sind alle Fährnisse ausgestanden, man hat immer noch die Chance auf eine Ausgabe letzter Hand. Als Intellektueller steht man immerhin post mortem auf dem Podest, soweit hat es Trotzki auch nach fünfundsiebzig Jahren nicht gebracht.
JE

Dienstag, 11. August 2015

Der Intellektuelle als Instanz.

Ulrich von Hutten
aus nzz.ch, 10. 8. 2015

Der öffentliche Intellektuelle
Von der hohen Kunst der Kritik
Jürgen Habermas, Lukas Bärfuss, Max Frisch oder Hans Magnus Enzensberger haben etwas gemeinsam: Sie sind «öffentliche» Intellektuelle, deren Stimme Gewicht hat. Und sie sind Männer.

von Urs Hafner

Wenn der Literat Lukas Bärfuss sich zu Wort meldet, hört man ihm zu, auch wenn er sich nicht literarisch äussert. Man hört auf ihn, wenn er zum Beispiel für die Flüchtlinge spricht, die in Europa eine bessere Existenz suchen oder hier unter misslichen Bedingungen leben. Bärfuss findet Resonanz nicht nur, weil er ein angesehener Künstler ist und sein Gerechtigkeitsempfinden gekonnt artikuliert, sondern auch, weil ihm die Öffentlichkeit – die Medien und das Publikum – das charismatische Amt des «öffentlichen Intellektuellen» verliehen hat.

Experten und Intellektuelle

Ein intellektueller Mensch überwindet beim Betrachten einer Sache – sei es ein Kunstwerk oder das eigene Leben – seine Vorurteile und die der anderen; er relativiert und reflektiert seine Position. Beim öffentlichen Intellektuellen kommt dazu, dass sein Räsonieren und Kritisieren sich auf die Gesellschaft bezieht, in der er lebt. Letztlich will er unabhängig von Parteien und Lobbyisten dazu beitragen, dass die Welt besser, gerechter, freier wird.

Der öffentliche Intellektuelle weiss nicht einfach nur Bescheid, er kennt nicht die «Lösung» für ein «Problem». Diese Funktion übernehmen die «Experten». Sie erklären volatile Börsenkurse und überraschende Abstimmungsergebnisse. Die Experten sind das Öl im Getriebe der Welt. Ihre Informationen passen in die von Common Sense, Verwaltung und Politik vorgegebenen Schemata. Sie bestätigen, was wir schon immer gewusst haben. Sie huldigen der Macht des Faktischen.

Der öffentliche Intellektuelle bohrt tiefer und blickt weiter. Er ist für die Demokratie das Salz in der Suppe, weil er die Fragen stellt, an die keiner denkt oder die niemand hören will. Glücklich darf eine Gesellschaft sich schätzen, in der viele Intellektuelle sich äussern: Sie heben das Niveau der öffentlichen Debatten. Wären sie in der Schweiz präsenter, wären sowohl die Minarett- als auch die Verwahrungsinitiative zumindest umstrittener gewesen, und der neue Antifeminismus beispielsweise käme nicht so krud daher.

Erfunden worden ist die Figur des öffentlichen Intellektuellen im streitlustigen Frankreich: 1898 veröffentlichte der Schriftsteller Emile Zola seinen Brief «J'accuse», in dem er den wegen Spionage zu lebenslanger Haft verurteilten Hauptmann Alfred Dreyfus für unschuldig erklärte und Justiz und Armeeführung belastete. Zolas Initiative führte zu heftigen Diskussionen über den Antisemitismus und stürzte Frankreich in eine politische Krise. Die Presse benannte diese neue öffentliche Kraft mit einem vorerst negativ besetzten Begriff, dem des «Intellektuellen».

Seither haben verschiedene Nationen unterschiedliche Typen von öffentlichen Intellektuellen hervorgebracht, die der Politik näher oder ferner stehen oder die es mehr mit der Kunst oder der Wissenschaft halten. Frankreich zeichnet sich durch sein intellektuellenfreundliches Klima aus: Man denke an die moralische Autorität eines Jean-Paul Sartre (der sich vom Stalinismus instrumentalisieren liess), an die Interventionen des Soziologen Pierre Bourdieu, des Philosophen Michel Foucault.

Ebenfalls in Frankreich ist der Intellektuelle zu Grabe getragen worden, allerdings voreilig. Zu Beginn der achtziger Jahre verkündete der postmoderne Philosoph Jean-François Lyotard, nach dem Ende der Utopien seien Figuren, die im Namen der Menschheit, der Nation oder der Gesellschaft sprächen, überflüssig. Doch das sind die Intellektuellen nicht, auch wenn ihre grosse Zeit vorbei ist. Nach wie vor engagieren sie sich mit moralischem Impetus, nach wie vor hört man sie und denkt vielleicht nach. In Deutschland wirken seit Jahren unverdrossen der Philosoph Jürgen Habermas und der Dichter Hans Magnus Enzensberger; man mag sich ihr Verstummen gar nicht vorstellen.

Die Schweiz mag Experten, Politologen, Juristen, Ökonomen und Naturwissenschafter, nicht aber Intellektuelle und auch nicht räsonierende Geisteswissenschafter; gross ist das Misstrauen gegenüber «Klugschwätzern». Wenn hier einer das Amt des öffentlichen Intellektuellen übernehmen will, muss er mehr Literat denn Analytiker sein: Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Niklaus Meienberg, Peter Bichsel, neuerdings Lukas Bärfuss, vielleicht auch Pedro Lenz. Peter von Matt ist zwar Literaturwissenschafter, tritt aber als Literat auf, Adolf Muschg ist zwar Literat, äussert sich aber zu versponnen.

Den Nicht-Literaten bleibt die öffentliche Sympathie verwehrt, auf die der öffentliche Intellektuelle bei allem Umstritten-Sein angewiesen ist. Dem Publikum waren und sind die Wortmeldungen des kürzlich verstorbenen Mediensoziologen Kurt Imhof und des Historikers Jakob Tanner zu akademisch. Auch keine öffentlichen Intellektuellen sind die in ihrem Einfluss nicht zu unterschätzenden Kolumnisten-Intellektuellen, die meist Politiker oder Ökonomen sind (Beat Kappeler, Werner Vontobel, Mathias Binswanger) – das Finanzland Schweiz weiss volkswirtschaftliches Bilanzieren zu honorieren. Anders als die Experten zielen diese zwar stets aufs Ganze, bleiben aber Gefangene ihrer disziplinären Provenienz.

Zwischen Zwingli und Zola

Die Figur des helvetischen Intellektuellen steht Zwingli näher als Zola. Er muss immer auch ein wenig Prediger sein, dessen Wortmeldungen bei aller Schärfe in eine Sinnstiftung münden, die nicht nur das ganze Land umfasst, sondern über das profane Diesseits hinausreicht. Darum kann das Amt des öffentlichen Intellektuellen nicht von einer Frau ausgeübt werden. In dieser Figur ist ein strikter «Gender-Bias» angelegt: Es ist der Mann, welcher der Nation und der Gesellschaft sagt, was schiefläuft, welche Ungerechtigkeiten begangen werden, wie man die Welt verbessern könnte. Die Figur des Predigers, der sich der «Res publica» annimmt, ist männlich vorgegeben.


Der Mann räsoniert über das Allgemeine, die Frau beschäftigt sich mit dem Besonderen: Sie kann von den Medien zur Expertin für alles Mögliche ernannt werden, sogar für Astrophysik, aber nicht zur öffentlichen Intellektuellen, auch wenn sie noch so intellektuell und charismatisch ist und sich in ihrem Denken auf die Gemeinschaft bezieht. Das ist nicht nur in der Schweiz so. Anders als ihr Gefährte Sartre konnte Simone de Beauvoir nicht als «Gewissen der Nation» oder der Menschheit auftreten, auch wenn sie mit ihren Analysen den wundesten Punkt der bürgerlichen Gesellschaft, deren systematische Geschlechterungleichheit, aufgedeckt hatte. Sein Paternalismus ist die Kehrseite des öffentlichen Intellektuellen: Sartre machte sich mehr als einmal lächerlich, als er die Arbeiter vor den Fabriken von einem Fass herab an ihre historische Mission erinnerte, die kommunistische Gesellschaft zu verwirklichen.

Die einzige Frau, die es in der Schweiz der letzten fünfzig Jahre gewagt hat, eine öffentliche Intellektuelle sein zu wollen, Iris von Rothen, attackierte die bürgerliche Geschlechterordnung kompromisslos – und wurde darauf kompromisslos mit Ächtung bestraft, auch von Frauen. Selbst wenn sie mit mehr Taktgefühl auf die Kanzel gestiegen wäre, hätte man sie nicht erhört. Tiefer als auch schon ist die symbolische Ordnung der Geschlechter in den Grundfesten der Nation verankert.


Nota. - Seit der Erfindung des Ackerbaus und seit dem Übergang zur Sesshaftigkeit war der schmale Rand von Öffentlichkeit, der die versippten Wohngemeinschaften gegen die Nachbargemeinschaften abgrenzte, ein bevorzugter Platz der Männer; eine winzige Kompensation für die verlorenen Abenteuer der offenen Savanne. Kult, Fest, Krieg - das sind männliche Domänen, aber sie spielen gegen den eintönigen Alltag des Ackerbaus, wo die Frauen den Ton angaben, nur eine ganz, ganz kleine Rolle. 

Aber immerhin: Was immer einmal an Kultur und Politik aus der bloßen Haushaltung herausragen sollte, fand hier seine Wurzeln. 

Es bildeten sich Reiche aus, der Krieg wurde neben dem Ackerbau zum Produktionszweig, zu Königen wurden die Feldherren, aber auch die Religionsstifter und die Priester waren nun Männer.

Dann kam die Marktwirtschaft, und das Öffentliche durchdrang und unterwarf sich die privaten Haushalte. Dort herrschten einstweilen noch die Frauen, aber gegen "die Politik" und "die Wirtschaft" fiel es immer weniger ins Gewicht. So kam es zu dem Anschein einer uralten Unterdrückung der Frau durch den Mann.  

*

Mit andern Worten - dass nur Männer in die Rolle des öffentlichen Intellektuellen geraten, kann nur insoweit verwundern, als es öffentliche Intellektuelle überhaupt noch gibt. Ansonsten ist es in der Geschichte dieser Instanz selbst begründet.
JE





Montag, 10. August 2015

World wide Dunning-Kruger effect.

aus nzz.ch, 9.8.2015, 05:33 Uhr

Die Verführungskraft des digitalen Zugriffs
Inkompetenzerkennungskompetenz
Unser Verhältnis zu den digitalen Medien ist nicht immer so rational, wie wir uns das vorstellen. Leicht machen wir uns vor, dass die im World Wide Web geballte Information echtes Wissen darstellt.

von Eduard Kaeser

Heute, da fast nur noch von Kompetenzen geredet wird, gewinnt plötzlich ein altes menschliches Phänomen eine neue Bedeutung und Brisanz: der sprichwörtliche blinde Fleck, den man selbst nicht sieht; der Ignorant, der nicht weiss, dass er ignorant ist; der Unbeholfene, der sich seiner Unbeholfenheit nicht bewusst ist. Es geht, kurz, um Inkompetenzerkennungsinkompetenz.

Das Phänomen ist in der Neurologie bekannt unter der Bezeichnung der Anosognosie. Ein Beispiel: Nach einem Schlaganfall in der rechten Gehirnhälfte leidet ein Anosognosie-Patient an einer Lähmung des linken Armes, die ihm aber nicht bewusst ist. Anosognosie verursacht nicht nur die Lähmung, sondern gleichzeitig die Unfähigkeit, die eigene Gelähmtheit zu erkennen. Legt man dem Patienten einen Bleistift auf den Tisch und fordert ihn auf, danach zu greifen, wird er es körperlich bedingt nicht tun. Er wird aber sagen, er sei zu müde oder benötige keinen Bleistift. Sein Unvermögen alarmiert ihn also nicht. Das Gehirn hat einen neuronalen Monitor, der, wenn beschädigt, zu einem partiellen Ausfall der Wahrnehmung führen kann: ein «hemisphärischer Neglect» («hemispatial neglect»). Betroffene Patienten können einen Teil ihrer Umgebung buchstäblich nicht mehr wahrnehmen. Männer rasieren zum Beispiel nur die eine Gesichtshälfte; oder einer isst nur die eine Hälfte des servierten Essens und beklagt sich, zu wenig bekommen zu haben.
Aufgeblähte Selbsteinschätzung

Das Phänomen gibt es auch im Bereich des Kognitiven. Es wurde 1999 vom Sozialpsychologen David Dunning und seinem Schüler Justin Kruger untersucht und hat unter der Bezeichnung «Dunning-Kruger-Effekt» Eingang in die psychologische Fachliteratur gefunden. Der Titel der Studie sagt eigentlich schon alles: «Unqualifiziert und uneinsichtig: wie Schwierigkeiten, die eigene Inkompetenz zu erkennen, zu einer aufgeblähten Selbsteinschätzung führen».
Was Dunning und Kruger irritierte, war der Umstand, dass viele Leute von ihrer Inkompetenz nicht irritiert sind; nicht verlegen, bescheiden oder vorsichtig werden – im Gegenteil: Oft ist die Inkompetenz begleitet von einer aufgepumpten, fallweise auch lachhaften Selbstgewissheit. So war die Initialzündung zu ihrer Studie ein Bankraub in Pittsburg im Jahre 1995, der an Filmklamauk à la Laurel and Hardy erinnert. Ein Mann namens McArthur Wheeler überfiel kurz nacheinander zwei Banken am helllichten Tage. Ganz ohne jede Vorsichtsmassnahme, wie es schien, denn er hatte sich nicht darum gekümmert, in der kameraüberwachten Schalterhalle sein Gesicht zu tarnen. Er wurde noch am gleichen Abend dank den Kameraaufnahmen verhaftet. Für Heiterkeit sorgte Wheelers unbeirrte Meinung, sein Gesicht sei durch Einreiben mit Zitronensaft für die Kameras unsichtbar. Er habe seine Methode zu Hause selber überprüft. Der Banküberfall falsifizierte diese freilich schnell und brutal. Eine trübe Tasse von Räuber, wird man sagen. Dunning und Kruger sahen darin mehr, nämlich einen Typus von kognitiver Verzerrung: Wheeler war der Meinung, etwas Sinnhaftes zu tun, und er zeigte sich offenbar unfähig, die Falschheit dieser Meinung einzusehen.
Die digitalen Medien verschaffen heute auf beispiellose Weise leichten und schnellen Zugang zu Datenbanken. Googeln und Wikipedia-Anklicken gehören schon zu den neuen Kulturtechniken. Die scheinbar grenzenlose Verfügbarkeit von Information kann allerdings dazu verleiten, Zugang zum Wissen mit Wissen selber zu verwechseln. Anders gesagt, lauert auch hier der Dunning-Kruger-Effekt der falschen Einschätzung. Das Problem ist ein metakognitives: Die Möglichkeit, sich Wissen über das Internet zu beschaffen, erhöht auch das Risiko von Halbbildung, also der Konsumation von halbgaren Theorien und ungeprüften oder schlecht geprüften Hypothesen wie jene vom Zitronensaft. Tests, die Dunning und Kruger mit Studenten durchführten, zeigten eine deutliche Proportionalität: Je schlechter die Aufgabenbewältigung, desto schlechter die Einschätzung der eigenen Inkompetenz. Nun waren diese Tests nicht direkt auf die digitalen Medien ausgerichtet. Aber man darf vermuten, dass die Dienste des Internets manch einen User dazu verleiten, seine Selbsteinschätzung falsch zu kalibrieren, das heisst, sich in der Meinung zu wiegen, er sei kompetent nur schon deswegen, weil er mit dem Zugang zur Information über diese Kompetenz ausgerüstet ist.
Nehmen wir etwa den Orientierungssinn. Er wird heute immer mehr durch Navigations-Apps ergänzt und tendenziell ersetzt. Genau diese Tendenz manifestiert die Ambivalenz der Technologie. Dank ihr können wir uns viel schneller und zielführender im Gelände orientieren. Aber wir sollten dies nicht als verbesserte Orientierungskompetenz missverstehen.
Oder vielmehr: Das Missverständnis entsteht dann, wenn wir nicht gleichzeitig in uns selber die Geländekenntnis vertiefen, also eine entsprechende Kompetenz ausbilden. Das könnte durchaus als Chance angesehen werden: nämlich sich einzugestehen, dass man im Grunde etwas noch nicht weiss, wenn man es in Wikipedia nachgefragt hat; oder etwas noch nicht kann, wenn man über eine entsprechende App verfügt. Der Philosoph Odo Marquard hat einmal – halb im Ernst – von der Philosophie als einer Inkompetenzkompensationskompetenz gesprochen. Eine solche Fähigkeit des Eingeständnisses stünde uns gar nicht so schlecht an in einer Zeit, die von uns bis in die hintersten Lebensnischen Kompetenzen abfordert. Warum also nicht eine Inkompetenzerkennungskompetenz? Sie würde zuallererst bedeuten, dass wir neben dem Abfragen in den digitalen Medien auch wieder das Fragen lernen, also das, was uns menschlich macht.
Folgeschäden

Sie ist noch aus einem weiteren Grund wichtig. Denn unter Inkompetenz leiden in der Regel die anderen, nicht der Inkompetente. Sitzt er im sozialen, politischen, wirtschaftlichen Netzwerk in einem Entscheidungsknoten, kann sein Handeln ärgerliche bis schädliche Folgen haben. Und Ursache ist nicht einfach sein Fehlentscheid, vielmehr die Fehleinschätzung seines Fehlentscheids. Es wäre aufschlussreich und wahrscheinlich ziemlich ernüchternd, unter dem Aspekt des Dunning-Kruger-Effekts einmal eine genauere Analyse des ganzen Rattenschwanzes von Krisen und Kalamitäten aus unserer rezenten Geschichte durchzuführen. Also die Frage zu stellen: Ist die Selbsteinschätzung all der selbsternannten Fiasko-Spezialisten, die sich ihrer Kompetenzen auch noch rühmen, nachdem sie uns den Schlamassel eingebrockt haben, nicht falsch kalibriert?
Meine Hypothese: Viele sind vom Schlag des Bankräubers McArthur Wheeler. Und der Ruf wäre daher angebracht: Schaut doch nur, all die trüben Tassen in Politik in Wirtschaft haben ihre Gesichter mit «Zitronensaft» eingerieben, aber sie sind trotzdem kenntlich!
Der Berner Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig.


Nota. - Als vor Jahr und Tag die Piratenpartei sel. offenen Auges und unbeirrbar in den sicheren Untergang strebte, müssen Dunning und Kruger ihre Hand im Spiel gehabt haben.
JE