Dienstag, 4. August 2015

Säkularisierung der islamischen Welt?

aus nzz.ch, 27.7.2015, 05:30 Uhr

Olivier Roy über den Säkularismus
Religion auf dem Rückzug
In muslimischen Ländern scheinen religiöse Extremisten die Szene zunehmend zu dominieren. Der Islam-Experte Olivier Roy konstatiert dennoch auch dort eine Ausdifferenzierung der Glaubenslandschaft.

von Olivier Roy

Wir Europäer leben in säkularen – und nicht in prä- oder postsäkularen – Gesellschaften. Weltweit hat sich die Säkularisierung durchgesetzt, sogar in muslimischen Ländern. In einer Zeit, da wir vom Aufstieg des «Islamischen Staats» in Atem gehalten werden, mag diese Behauptung paradox klingen: Um sie zu erklären, muss der Wandel im Verhältnis zwischen Kultur und Religion und insbesondere die «Dekulturierung» der Religion beleuchtet werden.

Was ist Säkularisierung?

Es gibt ganz unterschiedliche Arten, Säkularisierung zu definieren. Als soziales Phänomen ist sie nicht ein abstrakter Prozess; es geht immer um die Säkularisierung einer bestimmten Religion, deren Natur sich im Verlauf der Säkularisierung wandelt. Gängige Definitionen der Säkularisierung umfassen in der Regel drei Elemente: erstens die Trennung von Staat und Religion, von Politik und Konfession, die aber nicht notwendigerweise auch eine Säkularisierung der Gesellschaft zur Folge hat. Amerika ist hiefür ein gutes Beispiel: Obwohl Kirche und Staat klar getrennt sind, ist ein grosser Teil der Bevölkerung immer noch religiös.


Das zweite Element ist der schwindende Einfluss religiöser Institutionen auf die Gesellschaft. Aufgaben wie Bildung oder Gesundheitswesen sind in die Hände des Staats oder des Privatsektors übergegangen; in Europa haben sich die Kirchen aus dem «Management» der Gesellschaft weitestgehend zurückgezogen. Das dritte Element der Säkularisierung schliesslich ist das, was Max Weber «Entzauberung der Welt» genannt hat . Auch dieser Prozess muss nicht bedeuten, dass die Menschen zu Atheisten werden; aber die Bedeutung der Religion in unserem Leben und Alltag nimmt ab, noch wenn wir uns weiterhin als Glied einer religiösen Gemeinschaft definieren. In dieser Hinsicht bedeutet Säkularisierung eher eine Marginalisierung denn eine Exklusion der Religion.

Hinsichtlich der Trennung von Politik und Religion sind heute alle Staaten säkular, sogar die Theokratien. Eine «säkulare Theokratie» tönt zwar wie eine «contradictio in adiecto», aber hier muss hervorgehoben werden, dass ein säkularer Staat sich dadurch auszeichnet, dass der Staat die Religion definiert und nicht umgekehrt. In der Islamischen Republik Iran, einer der wenigen verbliebenen Theokratien, ist das Amt der höchsten Instanz im Staat, des Obersten Rechtsgelehrten, politisch definiert; kein Vorbild dafür lässt sich in der Geschichte des Islams finden. Der Oberste Rechtsgelehrte wird mittels eines komplexen, verfassungsmässig festgelegten Prozesses gewählt und nicht, weil er die höchste religiöse Autorität ist.

Am Beispiel Irans werden die Widersprüche offensichtlich, denen ein religiöses Staatswesen per se unterworfen ist. Die Gesetzgebung fusst auf der Religion, die oberste Autorität ist Gott. Nur: Gott spricht nicht. Wenn er die letzte Instanz ist, wer kann dann wissen, was er sagt? Und was genau ist religiöses Gesetz? Das iranische Parlament darf kein Gesetz erlassen, das mit dem Islam nicht in Einklang steht. Der Oberste Wächterrat wiederum kann zwar ein Gesetz mit dem Argument ablehnen, dass es nicht mit der Scharia konform sei; aber er hat selbst keine gesetzgebende Funktion. Was also, wenn das Parlament ein Gesetz durchwinkt und der Wächterrat es ablehnt? Zu diesem Behuf wurde ein Schlichtungsrat ins Leben gerufen, der in solchen Fällen vermitteln soll – und wie definiert sich dieser? Es ist eine politische Institution, in der alle machthabenden Instanzen vertreten sind. Anders kann es gar nicht sein.

In allen Staaten, die sich auf eine islamische Verfassung berufen oder die gar keine Verfassung haben, weil derlei im Islam nicht existiert, ist die letzte Instanz der Macht politisch. So liegt in Saudiarabien, einem islamischen Staat ohne Verfassung, die höchste Entscheidungsmacht beim König – obwohl der Koran das Königtum nicht kennt und dieses Amt keine religiöse Autorität impliziert. In Afghanistan legten die Taliban die Macht in die Hände der islamischen Richter und erklärten die Scharia zum Staatsrecht; eine Verfassung oder ein Oberstes Gericht hielten sie für unnötig und beschlossen, dass jeder Richter die Scharia direkt anwenden solle. Natürlich funktionierte das nicht, da jeder Richter seine eigene Auffassung der islamischen Rechtslehre einbrachte. Am Ende traf der politische Führer, Mullah Omar, als selbsternannter «Führer der Gläubigen» die Entscheidungen.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der «Islamische Staat» sich mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert sehen wird. Die Terrormiliz hat von der Situation in der irakisch-syrischen Konfliktzone profitiert und sich insbesondere die Unterstützung der politisch exkludierten Sunniten sichern können, aber sie ist blind für die gesellschaftlichen Gegebenheiten; statt sich diesen anzupassen, praktiziert der IS eine harsche, oberflächliche und buchstabentreue Lesart der Scharia, die dem kulturellen Umfeld völlig fremd ist. Die Jihadisten berufen sich auf den salafistischen Islam (wobei die Mehrzahl der Salafisten keine Jihadisten sind). Der Salafismus wird meist als Reaktion einer traditionsgebundenen Kultur und Gesellschaft auf Modernisierung und Verwestlichung wahrgenommen, aber das trifft so nicht zu: Der Salafismus ist ein Paradebeispiel für ein Religionsverständnis, das sich nicht mehr über eine Kultur, sondern über ein System von Normen definiert, auch wenn diese der im Umfeld vorherrschenden Kultur entgegenstehen. So zerstören die Wahhabiten in Saudiarabien das alte Mekka und errichten stattdessen eine westlich geprägte, kommerzielle Mall, wo die Regeln der Scharia – Ladenschliessung während der Gebetszeiten, Verschleierungszwang für Frauen – im Rahmen einer modernen Konsumkultur Anwendung finden.

Die Illusion vom «reinen» Glauben

Es sollte nicht erstaunen, dass die traditionellen islamischen Kulturen den Salafisten als Erstes zum Opfer fallen. Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan tilgten die Taliban umgehend, was für die einheimische Kultur typisch war. Die beliebten Drachen-Wettkämpfe wurden verboten, Fussball dagegen blieb erlaubt: Wieso soll Fussball halal sein, nicht aber, Drachen steigen zu lassen? Der IS wiederum pflegt eine durchaus moderne Kultur: Seine blutrünstigen Showeffekte sind von Videospielen und Filmen inspiriert, seine Rekruten findet er unter entwurzelten und frustrierten westlichen Muslimen, er manipuliert mit Geschick die westlichen Medien und zerstört derweil das historische Erbe in seinem Machtbereich.

Es sollte nicht überraschen, dass sich in fundamentalistischen Bewegungen viele Konvertiten finden . Menschen, die öfters konvertieren, wollen das «Eigentliche» – Religion als Kulturform interessiert sie nicht. Die Europäer, die zum Islam konvertieren und in den Jihad ziehen, nehmen sich in der Regel nicht die Mühe, Arabisch oder Türkisch zu lernen; sie bleiben bei ihrer Muttersprache und garnieren diese mit ein paar arabischen Wörtern. Auch kleiden sie sich nicht wie traditionelle Saudiaraber oder Ägypter, sondern kreieren ihren eigenen Look: Weisse Gewänder und Nike-Sportschuhe scheinen zum Kennzeichen des Konvertiten geworden zu sein. Ausländische Jihadisten integrieren sich zudem nie in die Gesellschaften, für die zu kämpfen sie vorgeben. Wenn ihnen die lokale Bevölkerung ihre Töchter nicht freiwillig gibt, werden die Mädchen vergewaltigt oder entführt. Spannungen lassen nicht auf sich warten, und bald können sich die Jihadisten nur noch mit Zwangsmassnahmen durchsetzen; an die Stelle der religiösen Agenda tritt reiner Machtkampf.
Die Säkularisierung hat sich durchgesetzt; wir alle leben in säkularen Gesellschaften, in dem Sinn, dass Religion allenthalben aus der Leitkultur verschwunden ist. Und wo es noch nicht so weit ist, sorgen die religiösen Fundamentalisten selbst für die Säkularisierung, indem sie die dominante Kultur als profan, ja gar als heidnisch deklarieren. Amerikanische Evangelikale, ägyptische Salafisten, israelische Haredim, konservative spanische Bischöfe: Sie alle halten die Kultur ihres Landes für säkularisiert und feindlich gegenüber der «wahren» Religion, noch wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung zum Glauben bekennt. Die beiden Vorgänger des jetzigen Papstes äusserten klar ihre Besorgnis, dass Europa keine christliche Kultur mehr sei; Papst Benedikt sprach gar von einer «Kultur des Todes».

Dass die Religion nicht mehr Teil des kulturellen Mainstream ist, trifft auch auf die meisten muslimischen Länder zu. Am Anfang des Arabischen Frühlings berief sich niemand auf die Religion: Die Menschen gingen für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte auf die Strasse. Zwar gingen nach den Revolten in Tunesien und Ägypten zunächst die Islamisten als Sieger aus den Wahlen hervor, aber nach zwei Jahren wurden sie abgewählt. Sie scheiterten, weil sie geglaubt hatten, einen islamischen Staat aufbauen zu können; aber die Versuche, ein Staatswesen ausschliesslich auf Religion zu gründen, sind zum Scheitern verurteilt.

Das religiöse Terrain diversifiziert sich, Säkularismus und sogar Atheismus bieten einer jungen Generation, die sich gegen patriarchale Machtstrukturen auflehnt, neue Optionen. Diese jungen Menschen unterstellen sich nicht mehr traditionellen religiösen Hierarchien, sondern diskutieren über die Fragen, die sie beschäftigen, im Internet. In Ägypten findet so eine Öffnung und Ausweitung des religiösen Bereichs statt; allerdings bedeutet diese Demokratisierung des religiösen Denkens nicht unbedingt auch eine Liberalisierung.

Der Zerfall der Beziehung zwischen Religion und Kultur spiegelt sich indirekt in den jüngsten Debatten über Religionsfreiheit, die im Westen wie in der islamischen Welt geführt werden. In Amerika protestieren Evangelikale und Katholiken gegen «Obamacare», weil Arbeitgeber damit gezwungen sein könnten, Verhütungsmittel für ihre Angestellten mitzufinanzieren. Aus der Sicht vieler religiöser Menschen – nicht nur von Muslimen – dient Frankreichs Bekenntnis zu «laïcité» einzig der Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum. Sogar in Ländern, wo die Religionsfreiheit verfassungsmässig garantiert ist, sind Debatten über die Bedeutung dieser Freiheit entbrannt. Wo das Moralverständnis des gesellschaftlichen Mainstream zunehmend von dem religiöser Gemeinschaften divergiert, tun sich in Bereichen wie Familie, Geschlechter- und Rollenverständnis und Fortpflanzung neue Konfliktfelder auf.

Es gibt allerdings zweierlei Möglichkeiten, den Begriff Religionsfreiheit zu verstehen. Man kann sie zum einen als kollektives und spezifischer noch als Minderheitenrecht wahrnehmen; so haben etwa die Muslimbrüder kein Problem damit, die Christen als Religionsgemeinschaft zu akzeptieren. Religionsfreiheit kann aber auch im Blick aufs Individuum definiert werden, und das erweist sich in Ländern und Regionen mit einer klar dominierenden Religion gelegentlich als problematisch. Bayern verbietet Lehrerinnen das Tragen des muslimischen Kopftuchs, während Nonnen im Habit unterrichten dürfen. Italien anerkennt zwar die Glaubensfreiheit, nicht aber die Gleichberechtigung der Religionen. In islamischen Ländern wiederum sehen konservative Religionsgelehrte in der Konversion vom Islam zum Christentum eine Verletzung des göttlichen Gebots, die vom Staat untersagt werden muss. Es gibt übrigens einen direkten Zusammenhang zwischen der Demokratisierung und dem Recht, sich vom Islam abzuwenden; denn wer den Gedanken akzeptieren kann, dass das Glaubensbekenntnis ein Akt des freien Willens ist, der kann auch die Demokratie akzeptieren, und umgekehrt. Meines Erachtens findet diese Debatte nun in muslimischen Ländern statt: Die neue tunesische Verfassung ist die erste in der arabischen Welt, die Gewissens- und Glaubensfreiheit garantiert.

Pluralistisches Religionsverständnis

Ich gehe davon aus, dass im Nahen und Mittleren Osten die Akzeptanz dieser Freiheit zunehmen wird. Erstmals in der Geschichte können sich Menschen in Tunesien und Ägypten offen zum Säkularismus oder Atheismus bekennen; in Marokko und Algerien verzeichnet die Bewegung derjenigen, die das Fastengebot des Ramadan nicht einhalten, wachsenden Zulauf. Der sich abzeichnende Pluralismus im Religionsverständnis deutet klar auf eine neue Toleranz und Offenheit hin; er ist ein Zeichen der Säkularisierung. Das Fasten wird nicht mehr als Pflicht, sondern als individuelle Praxis, die Religion nicht mehr als Teil der dominanten Kultur, sondern als persönliches Bekenntnis angesehen. Diese «Dekulturierung» der Religion ermöglicht die Demokratisierung der Gesellschaft. So kann man auch nicht mehr ohne weiteres den «säkularen» Westen gegen den «religiösen» Osten halten: Säkularisierung und die Entflechtung zwischen Religion und Kultur finden im Osten wie im Westen statt.

Der Philosoph und Politologe Olivier Roy hat sich insbesondere als Experte für islamische Themen einen Namen gemacht; er lehrt am European University Institute in Florenz. Der obige Essay erschien erstmals in der «IWMpost», dem Magazin des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen. – Aus dem Englischen von as.


Nota. - Der Islam ist doch gar nicht das Problem, das war er höchstens für die konkurrierenden Bekenntnisse, aber nicht für uns säkulare Westler. Ein Problem ist dagegen der terroristische Islamismus, dessen Gewalt- tätigkeit sich gerade mit der fortschreitenden Säkularisierung der islamischen Kulturen steigert. Er wird zwar nie die Volksmehrheit für sic gewinnen, aber darauf legt er gar keinen Weg. Er will nicht die Herzen bekehren, sondern die Leiber zwingen.
JE 

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