Die Kunst im Leben.
Velázquez, Triumph des BacchusEinstmals muß die Kunst der Künstler ganz in das Festebedürfniß der Menschen aufgehen: der einsiedlerische und sein Werk ausstellende Künstler wird verschwunden sein: sie stehen dann in der ersten Reihe derer, welche in Bezug auf Freuden und Feste erfinderisch sind.
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Friedrich Nietzsche, Fragmente I[81]
Nota. - Anfangs ist Kunst eine sonntägliche Angelegenheit. Sie steht in einem bestimmten Gegensatz zur Arbeit und hat eine spezifische Nähe zu Müßiggang und Spiel. Der eigentümlich Stoff der Kunst, das Ästhetische, ist noch ganz den Zwecken des Werktags unterworfen. Sie steht am Rande der Gesellschaft; ihr gegenüber, am andern Ende, steht sie Wissenschaft. Im neunzehnten Jahrhundert, mit dem Aufkommen der großen Industrie, beginnen sie beide, die Gewissheiten des täglichen Lebens zu untergraben. An beiden Rändern entsteht hinter den langen Kolonnen der Marktgänger eine Avantgarde.
In dem Maße, wie die Arbeit aufhört, Sinn des Lebens zu sein, hört die Kunst auf, ihr polemisch entgegenzustehen; sie wird unanstößig und die Avangarde geht selber zu Markte. Gemalt und gebildhauert wird nur noch für Milliardäre. Das verwaiste Ästhetische muss sich andere Fürsorger suchen. Das wird ihm so schwer vielleicht nicht fallen, denn mit der Entwertung der Arbeit verblassen deren Zwecke, und das Ästhetische sickert in den Alltag ein. Da bringt es nicht immer Meisterwerke hervor, vieles ist richtiger Mist, und dann ist abfällig von Massenkultur die Rede, oft nicht zu Unrecht, aber wer will an die Masse höhere Anforderungen stellen als an die Eliten?
Es wird wohl nie der Werktag zum Festtag und niemals ein jeder zum Künstler werden. Aber die Finder und Erfinder des Ästhetischen werden ein breiteres (und mannigfaltigeres) Publikum finden als die früheren Eliten.
Wie anspruchsvoll die Massen sind, hängt dann freilich davon ab, was ihnen von den Könnern geboten wird.
JE, 18. 2. 2014
Das Ästhetische entsteht aus dem Fest.
Das Ästhetische entsteht im Fest; es ist ursprünglich die Vergeudung des Überschusses.
Wird es zwar in der Arbeitsgesellschaft zum bestimmten Gegensatz zum Ökonomischen, so war es doch schon auf der Welt vor aller Ökonomie. Solange nämlich die Überschüsse noch nicht haltbar gemacht und daher nicht verplant werden können. Sie müssen verfeiert werden, wenn sie nicht verrotten sollen.
Das ist typisch für die Lebensweise der Jäger und Sammler. Mangel wie Überschuss lassen sich nicht vorhersehen und nicht bewirtschaften. Man muss die Feste feiern wie sie fallen. Das Ästhetische ist ein unverhoffter Luxus.
Das charakteristische Produkt des Ackerbauern ist das Korn. Es ist von sich aus (ziemlich) haltbar. Verteidigt werden muss es gegen Räuber - kleine Nagetiere und Beduinen. Man braucht außer Katzen auch spezialisierte Krieger. Die wissen schon, was sie mit den Überschüssen anfangen können.
Von der Ästhetik der Geselligkeit.
Rubens, BauerntanzZu den natürlichen Bedürfnissen der Menschen gehören außer den physischen - Hunger, Durst, Frost - auch das Bedürfnis nach Geselligkeit. Solange Arbeit (in schwindendem Maß) auch gesellig geschieht, hat sie einen Wert, der über ihren bloß physischen Erhaltungswert hinausweist (und ist nicht nur Mühsal). Aber Geselligkeit ist anders als Hunger, Durst, Frost nicht mit einem immanenten Maß da, sondern um ihrer selbst willen. Sie hat ästhetischen Charakter.
In dem Maße, wie in der Arbeit die Erhaltungsfunktion auf Kosten der Geselligkeit immer mehr an Boden gewinnt, verbindet sich jene umso enger mit dem Ästhetischen (Tanz!). Geselligkeit wird Feierabend, "Erholung" = Repro- duktion des Arbeitsvermögens. Wird vom Erhaltungswert absorbiert, unterworfen, mediatisiert. Und nun wiederum schwindet das Ästhetische in den privaten Winkel: Es wird absolut.
aus e. Notizbuch, 17. 10. 08
Kunst ist doch so alt wie der Mensch.
aus Die Presse, Wien, 4. 12. 2014Schon Homo erectus ritzte Muster in Muschelschalen
Kunst ist viel älter als bisher gedacht, das zeigt die Neuauswertung alter Funde in Java: Dort wurde 1891 der Erste unserer Ahnen außerhalb von Europa ausgegraben. Und der war vor 540.000 Jahren schon intelligent genug für Abstraktion und Symbole. Solche Muster macht die Natur nicht, Zickzacklinien in einer Muschelschale, streng symmetrisch, ohne Unterbrechung durchgezogen.
Solche Muster macht nur der Mensch, man bringt sie mit hohen intellektuellen Fähigkeiten in Verbindung, denen der Abstraktion und des Denkens in Symbolen. Deren Geburt sah die Forschung lange in Europa, vor 35.000 Jahren wurden Höhlenwände mit Malereien geschmückt. Aber das war ein eurozentrisches Vorurteil: Die bisher ältesten bekannten Formen von unstrittiger Kunst fanden sich in Südafrika, Rautenmuster in Ocker geritzt, vor 77.000 Jahren, Ähnliches wurde auch in Schalen von Straußeneiern graviert. Gar 100.000 Jahre alt sind perforierte Meeresschnecken in Nordafrika, sie waren keine gestaltete Kunst, aber doch Schmuck. Immerhin, die Verfertiger von allem gehörten zu uns, den Homo sapiens oder auch „modernen Menschen“ – so nennt uns die Anthropologie wegen unserer vergleichsweise grazilen Gestalt –, außer uns konnte schließlich niemand die nötige Intelligenz aufbringen.
Auch das erwies sich als Vorurteil, mit ähnlich perforierten Muscheln schmückten sich auch Neandertaler in Gibraltar, in Italien benützten sie dazu Vogelfedern, und bei kunstvoll geschnitzten Figurinen aus Mammutelfenbein auf der Schwäbischen Alb – etwa 35.000 Jahre alt – hielten möglicherweise auch Neandertaler die Messer in den Händen. Immerhin, sie waren ja Zeitgenossen unserer Ahnen. Das kann man von einem anderen nun wirklich nicht behaupten: Homo erectus. Mit ihm erhoben sich die Menschen endgültig zum aufrechten Gang – vor etwa 1,8 Millionen Jahren –, und mit dem erwanderten sie die Erde, sie kamen etwa nach Java. Dort, im Osten der Insel bei Trinil an der Mündung des Solo-Flusses, fand Eugéne Dubois 1891 den ersten, es war zugleich der erste Fund eines Ahnen außerhalb von Europa.
Mit denen kann man exakt die gleichen Löcher in die Muschelschalen bohren, Wil Roebroks (Leiden), der die ganze Kollektion von Dubois im Museum ausgewertet hat, hat es in experimenteller Archäologie getan, er hat auch bemerkt, dass viele Muschelschalen so zugeschliffen waren, dass man sie zum Schneiden benutzen konnte. Und dann stieß er auf den Höhepunkt der Sammlung: eine Muschel mit Gravur. Sie, die eine Muschel mit der Gravur, sie ist, wie die anderen auch, etwa 540.000 Jahre alt (Nature, 3. 12.). Damals gab es noch keinen Homo sapiens – der entstand vor etwa 150.000 Jahren in Afrika –, damals gab es Homo erectus.
Nature: "Homo erectus at Trinil on Java used shells for tool production and engraving"
aus scinexx
"Ein einzelnes Individuum muss dieses Muster mit einem Werkzeug in einer Sitzung erstellt haben", so die Forscher. Sie vermuten, dass das Muster wahrscheinlich in die frische, noch mit der braunen Schalenhaut überzogene Muschel eingeritzt wurde. "Das hätte ein auffallendes Muster von weißen Linien auf einer dunklen 'Leinwand' erzeugt", so die Wissenschaftler.
Nota. - Gerade weil es so rudimentär ist, darf man es gewisser Kunst nennen als die Höhlenmalerei von Lascaux. Jene diente kultischen Zwecken, der Beschwörung des Jagdglück vermutlich; dies Muster jedoch diente keinem ersichtlichen Zweck, es ist nur der Schönheit halber da: ästhetische Kunst, wie sie im Westen erst im 19. Jahrhundert wieder aufkam. Dass es erst noch vereinzelt auftrat, macht die Sache nur plausibler.
- Es beleuchtet im übrigen meine Lieblingsthese, wonach 'der Geist' des Menschen - entstanden als ein Ersatz für die verlorenen Selbstverständlichkeiten seiner verlassenen Urwaldnische - selber ein 'ästhetisches', poietisches Vermögen ist, das erst im Verlauf der Geschichte, namentlich unserer Geschichte seit der Sesshaftwerdung und der Erfindung des Ackerbaus, in einen ökonomischen und einen in specie ästhetischen 'Anteil' aufgespalten wurde; indem die ökonomische Seite ein Jahrzehntausend lang die andere Seite überwuchert und verdeckt hat. - Also aufgetreten wären sie, den javanesischen Funden zufolge, gemeinsam. Dass sich das Vermögen zu nützlicher Arbeit abgespalten und verselbständigt hat, ist nun kein Wunder: Technische Neuerungen lassen sich, anders als ästhetische, akkumulieren, es kommt die Vorstellung von einem Fortschritt auf und die dazugehörige Idee der Vollkommenheit; welch letztere dem Fortschritt eine ästhetische Aura mitteilt.
Für eine Spekulation aufgrund eines einzigen archäologischen Dokuments läuft das ein bisschen zu rund, das gebe ich zu. Aber der Fund passt immerhin in mein Schema, in ein anderes passte er weniger gut - soviel werde ich doch wohl sagen dürfen.
JE
Der Gegensatz zum Ästhetischen ist die Absicht.
Beim Naturschönen beeindruckt vor allem, wenn es aussieht, "als hätte es einer mit Absicht gemacht" - wobei vorab bewusstist, dass es überhaupt nicht "gemacht", sondern einfach nur da ist und... ist, wie es ist. Kommt der Eindruck, "als ob es wer mit Absicht gemacht hätte", an die bewusste Oberfläche, tritt beim Betrachter eine gewisse ironische Distanz ein. Bei Sonnenuntergängen, die aussehen, als hätte sie wer mit Absicht gemacht und feste auf die Tube gedrückt, kommt der Eindruck von Kitsch auf; Naturkitsch sozusagen.
Umgekehrt, bei einem Maler, der es schafft, dass ein Landschaftsstück so aussieht, als sei es ohne Absicht entstanden, tritt eben der Effekt des Naturschönen ein.
Thomas Girtin, The Tawe
Weshalb das Stillleben in ästhetischer Hinsicht ein engeres Genre ist als die Landschaft. Das 'ohne Absicht' ist vorstellbar nur im Zuge alltäglicher (häuslicher) Verrichtung, denn seine Gegenstände sind keine Naturdinge, sondern Zeug, und das dienteiner Absicht. Ästhetisch kann es nur wirken, wenn die Anordnung der Gegenstände "so aussieht, als ob" sie durch den Zufall werktäglicher Routine zustande gekommen sei. Das engt den Kreis möglicher Gegenstände ein und noch viel mehr den Kreis möglicher Arrangements.
"Ohne Absicht" ist überhaupt ein Synonym für das Naive. In naiver Darstellung kann Alles ästhetisch werden. (So bei Schiller?)
aus e. Notizbuch, 26. 10. 06
Caravaggio
Nota. - Was das an dieser Stelle zu suchen hat, fragen Sie? Geselligkeit, Fest und Heiterkeit stehen im Gegensatz zur Absicht. Erinnern Sie sich an die Stadtteilfeste, die in grün-alternativer Hochzeit zum must Gehörten? War das oft ein Krampf! Sie sind glücklicherweise aus der Mode gekommen. Wer fröhlich sein will, wer feiern will, wer Geselligkeit will, muss sich darauf beschränken, den andern zuzusehen, sonst verdirbt er alles.
Das gilt für Kultur überhaupt. Sie muss sich bei thematisch orientierter Arbeit nebenher ergeben. Sie braucht keine Absicht, sondern ein Medium.
Domestiziert durch Alkohol.
Uwe Schlick, pixelio.deUnglaublich, dass ich diesen Artikel seinerzeit übersehen konnte! Und das Buch, von dem er berichtet, ist sogar schon fünf Jahre alt. Zunächst einmal ist die aufgestellte These über die wahre Ursache des als "neolithische Revolution" verklärten Übergangs unserer jagenden Vorfahren zu Arbeit und Sesshaftigkeit sehr lustig, namentlich für Leute, die im lutherischen Flachdeutschland großgeworden sind.
Aber außerdem muss sie völlig ernst genommen werden. Tatsächlich liegen die Motive, die unsere Vorfahren bewogen haben könnten, das abwechslungsreiche Wanderleben gegen eintöniges Hocken am Platz einzutauschen, ganz im Dunkeln. Viel größere Sicherheit erreichten sie dadurch nicht, denn sie waren den Überfällen der Nomaden ausgeliefert. Die ersten Mauern hat sich Jericho wohl erst nach zweitausend Jahren gegeben. Und ernährungshygienisch war es eine Verarmung, der Getreidekonsum führte zu Mangelernährung. Und solange das Getreide nur geerntet, nicht aber gesät wurde, können die Erträge unmöglich gereicht haben, um die gewohnte Diät zu ersetzen.
Andererseits hatten die Jäger auch keine Möglichkeit, gelegentliche Nahrungsüberschüsse anders zu verwerten als im Fest. Und so gewinnt die neue Theorie schon Plausibilität. Wenn man dazu noch Johan Huizingas These vom Homo ludens denkt, ergibt sich ein rundes Bild...
aus Süddeutsche.de, 17. Mai 2010 21:49
Am Anfang war die Party
Dem Biologen Josef H. Reichholf zufolge war die Sesshaftigkeit des Menschen nicht in der Fleisch-Knappheit begründet - sondern im kollektiven Besäufnis.
Also haben sich die Menschen in der Nacheiszeit, die grob vor 12.000 Jahren begann, zu gemeinschaftlichen Fleisch-Gelagen verabredet. Der Ertrag des wilden, noch nicht gezüchteten Getreides reichte auch gar nicht aus, um sie hinreichend zu ernähren. Aber diese frühen Menschen hatten, nach dem Vorbild überreifer Beeren und Früchte, die Gärung entdeckt: Sie rührten die Getreidekörner zu einem alkoholischen Gebräu an und erkannten dessen berauschende Wirkung.
Der erste Zweck des Getreides, das erst in der Folge zu einer effektiven Nahrungsquelle kultiviert wurde, war ein frühes Bier, das aus dem Fleisch-Fest ein kultisches Begängnis machte. Oder in noch kürzerer Fassung, und je nach Präferenz: Am Anfang war die Dinner-Party. Am Anfang war das Oktoberfest.
Widerspruch zu geläufigen Erklärungen der Kulturentstehung
Der Schöpfer des geselligen Szenarios aber ist, obschon ein Bayer, aus ganz nüchternen Überlegungen zu diesem Modell gekommen. Es widerspricht den geläufigen Erklärungen der Kulturentstehung fundamental und müsste, wenn man ihm folgt, die Forschungen über unsere Evolution und Prähistorie, einschließlich der Religionsgeschichte, in eine ganz neue Richtung lenken.
Es ist der bekannte Naturhistoriker und Ökologe Josef H. Reichholf, der diese Theorie aufstellt, in seinem soeben erschienenen Buch "Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte" (S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008, 315 Seiten, 19,90 Euro).
Reichholf hatte zuletzt im vergangenen Jahr mit seiner "Kurzen Geschichte des letzten Jahrtausends" für Aufsehen gesorgt und den Preis der Darmstädter Akademie für wissenschaftliche Prosa erhalten. Schritt für Schritt, und ohne erkennbaren Einfluss von Genussstoffen, nähert er sich nun anhand von erd- und klimageschichtlichen, botanischen, zoologischen und humanevolutionären Beobachtungen seinem dionysischen Befund.
Wechsel von der Pflanzenkost zum Fleisch
Da sind zunächst die anthropologischen Grundlagen. Heute bedroht bekanntlich der nicht endende Fleischhunger der wachsenden Menschheit sowohl die unbewirtschaftete Natur als auch die Ernährung der Armen.
Dieser Fleischhunger hat tiefe Wurzeln: Wir begegnen unserem Vorfahren, der vor sechs bis sieben Millionen Jahren mit aufrechtem Gang in die Savanne trat und sich zu einem exzellenten Jäger entwickelte.
Er wechselte, so zeichnet Reichholf das Bild, von der Pflanzenkost des Urwalds zum Fleisch; er ist im Ergebnis eine einzigartige Kombination aus Sprinter und Dauerläufer, denn der schwach behaarte, nackte Mensch hat nicht nur einen schnellen Antritt, sondern durchs Schwitzen auch die beste nur vorstellbare Kühlung und kann dadurch lange Distanzen rasch überwinden; und er erfindet das Jagen mit Waffen aus der Ferne, weshalb er anderen Raubtieren überlegen ist.
Evolutionär entscheidend ist der Fortpflanzungserfolg, die menschentypische "Erhöhung der Zahl der Kinder und Verlängerung der Betreuungsdauer des Nachwuchses". So wird auch das Gruppenleben durch die Versorgung der Mütter gestärkt.
Dafür aber, gerade auch für die Entwicklung des großen Gehirns, brauchten die Mütter und Kinder der Frühzeit vorrangig Proteine. Also Fleisch. Das galt erst recht, als der Homo erectus aus Afrika in die nördlichen Eiszeitgebiete wanderte; immerhin hat er es rund anderthalb Millionen Jahre dort, außerhalb seiner warmen tropischen Heimat, ausgehalten.
Durch die eiskalten Winter können damals, wie Reichholf vorrechnet, nur Tierfelle und Fleischvorräte gerettet haben; Pflanzen, Beeren, Pilze waren bloß ein schwaches Zubrot und halfen allenfalls über kleinere Versorgungslücken. Die "Jäger und Sammler" waren, in existenzieller Hinsicht: Jäger.
Vor rund 70.000 Jahren wanderten die ersten Menschen unserer Art im engeren Sinne aus Afrika nach Vorderasien. Später dann, nach dem Rückzug des Eises, setzt Josef Reichholf eine Parallele zu dem früheren Szenario in Afrika an: Auf dem Weg hin zur landwirtschaftlichen Sesshaftigkeit, die zuerst im sogenannten Fruchtbaren Halbmond nachweisbar ist, habe wieder das Fleisch die zentrale Rolle gespielt und das Pflanzenreich zunächst nur als Supplement gedient.
Vor der Versteppung der Sahara um 2500 vor Christus gab es demnach eine wildreiche Savanne, die sich über die Arabische Halbinsel erstreckte, über Mesopotamien und die Gebiete Persiens, die heute Wüste oder Halbwüste sind.
Für die gängige Hypothese eines akuten Mangels an Jagdwild, der, kombiniert mit Bevölkerungsdruck, den menschlichen Ackerbau erzwungen haben müsse, sieht Reichholf keinerlei Belege.
Am Anfang war die Party
"Warum sollte ausgerechnet dort, wo die passenden Wildpflanzen wuchsen, aus denen Getreide werden konnte, das Wild so selten geworden sein?" Denn: "Wo gutes Gras wächst, sammelt sich auch das Wild." Es sei auchprinzipiell falsch, "Fortschritte" des Menschen immer nur durch Ressourcenknappheit und Existenzangst zu begründen.
Dann kam die Fleischparty
Vielmehr stehe am Beginn der schrittweisen Domestikation der Überfluss an Tieren: Man begann - natürlicherweise nur, weil es genug davon gab -, die Tiere nicht gleich aufzuessen, sondern mit der Zeit die Wildformen von Schafen, Rindern und Ziegen als "lebende Fleischreserve" zu fangen und zu halten. "Zähmung und Züchtung", so Reichholf, "erfolgten nicht der Not gehorchend."
Und dann kam die Fleischparty. Jene beginnende Vorratswirtschaft in einer noch wesentlich nomadischen Kultur habe sich gewissermaßen in kollektiven Feiermahlzeiten entladen.
Josef Reichholf verweist hier auf Funde wie die erst unlängst entdeckte, bisher älteste menschliche Kultstätte von Göbleki Tepe in Anatolien, die mindestens 12.000 Jahre alt ist; dort finden sich Reliefs von Wildtieren. Und solche Kultereignisse seien eben auch große Besäufnisse gewesen, für die das Getreide ursprünglich verwendet worden sei.
In der Tat hängen ja Rausch und religiöse Transzendenz in vielen Kulturen zusammen; für die Exstase zuständige Priester oder Schamanen kennen sich mit Zauberformeln, Geheimsprache und halluzinogenen Pilzen aus - oder, wie in diesem kulturentscheidenen Fall, mit dem Rezept fürs Bier.
Auf frühen sumerischen Darstellungen sieht man Menschen feierlich mit Strohhalmen aus Tonkrügen trinken, das würde zum ungefilterten Bierbrei der Frühzeit passen; ähnliche Praktiken sollen durch Wanderungen über die Beringstraße bis zu den südamerikanischen Indios gelangt sein, wo das "Chicha"-Bier in Amazonien durch Spucke zum Gären gebracht wird.
Die Aborigines sind hingegen vor mindestens 40.000 Jahren nach Australien gelangt und haben nicht nur keine Nutzpflanzen oder -tiere entwickelt, sondern auch nicht die geringste Alkoholverträglichkeit.
Erst das Bier, dann davon ausgehend das planmäßig angebaute Getreide, dann erst die Sesshaftigkeit (und Städte und Kriege und so weiter) - das ist Josef Reichholfs spektakulärer neuer Vorschlag für den Ursprung der "neolithischen Revolution", den er mit atemberaubendem Überblick über die Wissensfelder und zugleich großer geistiger Unabhängigkeit erreicht, und das in vorbildlich zugänglicher Sprache.
Es wird, es muss Einwände geben: Die Erklärung könnte zu monokausal sein. Die Religionsgeschichte kann Zweifel an der These anmelden, ob mythische Welten, ob Götter und Geister tatsächlich erst, wie Reichholf andeutet, durch den Rausch entstanden sind, sowie die Berücksichtigung der diversen Theorien des Opfers einfordern, die bei Reichholf fehlen.
Auch die von ihm verwendete Verknüpfung von Genetik und Sprachfamilien (nach L.L. Cavalli-Sforza) ist höchst umstritten. Aber Josef Reichholfs Theorie ist ein genialer Denkanstoß, der das berührt, was noch in jedem von uns stecken mag. Prost.
Der Anteil des Schnapses an der Menschwerdung des Affen, II.
loslachen.chaus nzz.ch, 2.12.2014, 08:04 Uhr
Alkoholkonsum im Tierreich
Als Menschenaffen sich auf alkoholisierte Früchte spezialisierten
Eine Mutation in einem Enzym ermöglicht es Menschenaffen vor 10 Millionen Jahren, Alkohol schneller abzubauen. Von da an können sie gärende Früchte in grossen Mengen verzehren.
von Lena Stallmach
Tiere sind dem Alkohol nicht abgeneigt. Darauf lassen unzählige anekdotische Berichte schliessen. Bekanntheit erlangte eine Szene aus dem Dokumentarfilm «Die lustige Welt der Tiere» aus dem Jahr 1974, in der Elefanten, Giraffen und Affen herumtorkeln, nachdem sie sich mit überreifen Früchten vollgefressen haben. Doch ist der Rauschzustand für Tiere gefährlich. Durch ihre Unachtsamkeit und fehlende Koordination sind sie für Räuber eine leichte Beute. Auch für Menschen ist übermässiger Alkoholkonsum schädlich. Dennoch können viele nicht die Finger davon lassen. Forscher grübeln darüber, wie sich ein so negatives Verhalten in der Evolution halten konnte.
Alkohol weist auf Zucker hin
Laut einer Theorie konsumieren Affen schon seit Millionen von Jahren regelmässig Alkohol in gärenden Früchten. Dabei ist der Geruch von Alkohol ein Indikator für süsse, kalorienreiche Früchte – also etwas Positives. Nun haben Forscher um Matthew Carrigan vom Santa Fe College in Gainsville, Florida,weitere Hinweise gefunden, die diese Theorie stützen.¹
Sie zeigen, dass Menschenaffen vor etwa zehn Millionen Jahren die Fähigkeit entwickelten, Alkohol schneller abzubauen. Die Forscher verglichen die Gensequenzen eines Alkohol abbauenden Enzyms (ADH4) verschiedener Primaten- und Säugetierarten. Sie stellten die Enzyme im Labor her und zeigten, dass jene Variante, die bei Gorillas, Schimpansen und Menschen vorliegt, Alkohol vierzigmal schneller abbaut als die Variante des Orang-Utans, der ebenfalls zu den Menschenaffen gehört. Nachdem sich die Linie der Menschenaffen getrennt hatte, hat der gemeinsame Vorfahre von Gorilla, Schimpanse und Mensch demnach vor etwa zehn Millionen Jahren durch eine einzige Mutation in ADH4 die Fähigkeit erworben, grössere Mengen gegorener Früchte zu verspeisen. Diese Anpassung fällt laut den Forschern in einen Zeitraum, in dem sich das Klima in Afrika veränderte.
Mit Folgen für den Lebensraum der Primaten: Das waldreiche Ökosystem wurde durch fragmentierte Wald- und Graslandschaften ersetzt. Viele Arten starben aus, andere passten sich an. Während die frühen Menschenaffen wie die heutigen Orang-Utans auf Bäumen lebten, verlagerten sich die Vorfahren von Gorilla, Schimpanse* und Mensch auf den Boden. Dort also, wo gärende Früchte häufiger zu finden sind als in Bäumen. Die Forscher nehmen an, dass die Mutation für die Tiere zur rechten Zeit kam, um diese Nahrungsquelle optimal zu nutzen.
Ein evolutionäres Hangover
Als der Mensch dann aber vor etwa 9000 Jahren die Fähigkeit erlangte, alkoholische Getränke zu brauen, kamen die negativen Folgen des Alkoholkonsums zum Tragen. Die positive Bewertung von kalorienreicher Nahrung entpuppt sich in der modernen Welt ebenfalls als Nachteil. In diesem Zusammenhang spricht man von einem evolutionären Hangover. Alle unsere genetischen Marker seien noch darauf getrimmt, dass kalorienreiche Nahrung gut für uns sei, erklärt der Suchtforscher Rainer Spanagel vom Institut für Seelische Gesundheit in Mannheim.
In der neuen Studie sieht Spanagel die Theorie des evolutionären Hangover erneut bestätigt. Im Jahr 2008 hatte er mit Kollegen gezeigt, dass Federschwanz-Spitzhörnchen für ihre kleine Körpergrösse grosse Mengen Alkohol konsumieren.² Dennoch fielen die Tiere nie durch Trunkenheit auf. Später habe sich gezeigt, dass bei ihnen ein anderes Alkohol abbauendes Enzym sehr effizient arbeite: zehnmal schneller als beim Menschen, sagt Spanagel. Womöglich hatte der Alkohol bei ihnen also keine psychoaktive Wirkung. Wenn die Tiere aber wählen durften zwischen einem künstlich hergestellten Palmnektar mit oder ohne Alkohol, entschieden sie sich häufiger für den alkoholischen. Auch dies könne man damit erklären, dass sie Alkohol mit kalorienreicher Nahrung gleichsetzten, sagt Spanagel.
¹ PNAS, Online-Publikation vom 1. Dezember 2014; ² PNAS 105, 10426–10431 (2008).
*) Hier wird anscheinend davon ausgegangen, dass Schimpansen und Gorillas erst später wieder (teilweise) auf die Bäume zurückkehrten. JE
Nota.- Ich versuch's mal mit reiner weniger biologischen als menschenkundigen Erklärung: Nachdem die Menschen sich erst einmal den Geist zugezogen hatten, war Nüchternheit auf die Dauer kein zufrieden- stellender Zustand.
JE
28. Dezember 2020
Der Ursprung der Kultur in Rausch und Fest.
Es ist noch gar nicht lange her, da wurde der mittägliche Gang zur Kantine oder auch ins Restaurant mit dem knappen Gruß „Mahlzeit“ begleitet. Geradezu ruppig war das Wort, und dass die Mahlzeit „gesegnet“ sein sollte, wurde dabei stillschweigend vorausgesetzt. Es eröffnete eine kurze Pause in der Arbeitszeit. Dass „Mahlzeit“ inzwischen vielerorts aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist, erklärt sich nicht zuletzt durch Veränderungen in der Arbeitswelt. Die lassen leicht vergessen, dass über Jahrtausende hinweg das von Arbeit umrahmte gemeinsame Mahl die Grundlage der menschlichen Zivilisation legte.
Wie das geschah, verdeutlichen neueste Forschungen an Funden aus einer der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen der vergangenen Jahrzehnte. Seit der deutsche Ausgräber Klaus Schmidt auf dem Hügel Göbekli Tepe in der Südosttürkei ab 1995 auf riesige Steinbauten stieß, deren Alter auf bis zu 11.500 Jahre datiert werden konnte, eröffnet sich für die Archäologie ein Fenster in die Zeit, in der Homo sapiens daranging, sesshaft zu werden. Das bedeutete zugleich, dass die ersten Monumentalbauten bereits vor der neolithischen Revolution entstanden, zu einer Zeit also, in der sich die Menschen noch vom Jagen und Sammeln ernährten.
Angesichts der spektakulären mehr als fünf Meter hohen Monolithe und Reliefs blieb eine Fundgattung lange unbeachtet, der nur eine geringe Aussagekraft beigemessen wurde, obwohl sie in großer Zahl in Göbekli Tepe ans Licht kam. Es handelt sich um Reibsteine aus Basalt. Rund 7000 Exemplare dieser schlichten Artefakte wurden inzwischen geborgen, ein Mehrfaches der Stückzahlen, die in anderen Grabungsstätten aus der Epoche bekannt sind.
Diese unscheinbaren Geräte haben es Laura Dietrich angetan. Um herauszufinden, was es mit ihnen auf sich hat, startete die Prähistorikerin der Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts 2016 ein experimentelles Projekt, dessen erste Ergebnisse sie jetzt zusammen mit Teamkollegen in der Zeitschrift „Antike Welt“ vorstellt: Die Steine dienten offenbar dazu, den Stoff zu gewinnen, der Göbekli Tepe errichten half.
Um herauszufinden, was mit den Reibsteinen zerkleinert wurde, bezog Laura Dietrich mit Studenten und Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung im Berliner Museumsdorf Dahlem eine Werkstatt. Darin baute man die als Läufer bezeichneten Reibsteine und ihre weniger belasteten Unterlieger bis ins kleinste Detail nach. „Reibsteine sind universell einsetzbar“, erklärt Dietrich im Gespräch. „Man kann mit ihnen Fleisch, Obst oder Nüsse zerkleinern, aber auch Tierfelle bearbeiten. Jedes Material hinterlässt spezifische Spuren auf dem Stein.“
Diese Kratzer und andere Deformationen analysierten die Forscher mithilfe von Mikroskopen – und sie verglichen sie mit Fotografien und 3-D-Modellen der Originale. Es zeigte sich, dass die meisten Reibsteine zum Zerkleinern von Getreide benutzt wurden. Doch auf unterschiedliche Weise. Kreisförmige Bewegungen hatten zerquetschte Körner zum Ergebnis, die zu Brei verarbeitet wurden, pendelartige Bewegungen lieferten dagegen feines Mehl, wie es zur Herstellung von Brot verwendet wird. „Fast 80 Prozent der Steine zeigten die markanten Strukturen, die beim groben Zerkleinern von Einkorn oder Gerste entstehen“, sagt Dietrich. „Nur etwa ein Fünftel zeigte Spuren, wie sie beim Erzeugen von Feinmehl auftreten.“
Das Erstaunliche an dem Befund ist seine zeitliche Datierung. Im 10. und 9. Jahrtausend v. Chr., als die verschiedenen Steinbauten auf dem Göbekli Tepe entstanden, hatten die Menschen die Wirtschaftsstufe des Jägers und Sammlers noch gar nicht verlassen. Zwar versuchten die neolithischen Jäger bereits, sich ihren Lebensunterhalt von zumindest saisonal festen Unterkünften aus zu verschaffen. Aber die systematische Erschließung der natürlichen Ressourcen durch Ackerbau oder Viehzucht gelang ihnen noch nicht.
Immerhin lebten sie in der Region zwischen Taurusgebirge und den Oberläufen von Euphrat und Tigris, in denen die Wildformen der Getreidesorten heimisch waren, mit denen im Zuge der neolithischen Revolution ab etwa 9000 v. Chr. der Übergang zur sesshaften Lebensweise gelang. Bis es dazu kam, mussten allerdings Jahrhunderte ins Land gehen, bis die Menschen durch Beobachtung sowie ständiges Ausprobieren erkannten, welches Potenzial in diesen kleinen Körnern verborgen war. Die Herstellung von nahrhaftem Brei war offensichtlich ein Ergebnis.
Nachdem Laura Dietrich und ihr Team das Reibgut entschlüsselt hatten, widmeten sie sich einer anderen Hinterlassenschaft aus Göbekli Tepe, die bislang ebenfalls wenig Beachtung gefunden hatte. Es handelt sich um mehrere große Gefäße aus Kalkstein mit bis zu 13 Zentimeter dicken Wänden, von denen sechs noch an Ort und Stelle erhalten sind. Zahlreiche Scherben belegen aber, dass Dutzende davon in Gebrauch waren.
Bislang wurden sie als Vorratsbehältnisse gedeutet. Doch mit einem Fassungsvermögen bis zu 165 Litern sind sie im Grunde zu groß, um den Vorrat für eine Familie aufzunehmen, erklärt Dietrich den Ansatz ihres zweiten Experiments. Dafür tat sie grobkörniges Getreide in den Nachbau eines 30 Liter fassenden Kalksteintrogs und gab Wasser hinzu.
Dann kam eine dritte Fundgruppe aus Göbekli Tepe zum Einsatz: Steinkugeln aus Basalt. Noch heute werden solche von indigenen Völkern in offenem Feuer erhitzt, um anschließend die gespeicherte Wärme an Flüssigkeiten abzugeben. Im Experiment zeigte sich, dass sie auch in den Nachbauten der steinzeitlichen Gefäße aus Göbekli Tepe ihre Wirkung taten.
Doch damit wurde nicht nur Brei erwärmt. Funde an anderen Orten der Levante, zuletzt in der Höhle Rakefet bei Haifa, erhärten die These, dass bereits im Epipaläolithikum, also im 12. Jahrtausend v. Chr., Menschen darangingen, aus dem Samen wild wachsender Getreidearten ein alkoholhaltiges Getränk zu brauen. Reste bestätigen, dass den Betreibern dieser urtümlichen Brauerei die Technik der Malzherstellung bekannt war.
Um dies auch für Göbekli Tepe nachzuweisen, vermischten die Wissenschaftler gemälztes Getreide mit Wasser, kochten das Gebräu einige Stunden und gaben dann natürliche Hefe (wie sie etwa auf der Haut vorkommt) hinzu. Dann wurde der Sud gefiltert und der Trog mit einer Tierhaut und Lehm oder Wachs verschlossen.
Das Zerkleinern, Kochen, Maischen und Läutern von vier Kilogramm Getreide in 20 Liter Wasser dauerte acht Stunden, beschreibt das Team in seiner Studie den Vorgang: „Nach fünf Tagen war die verbliebene Flüssigkeit zu einem bierähnlichen, fruchtig-säuerlich schmeckenden Getränk mit etwa zwei Prozent Alkoholgehalt vergoren.“ Dabei zeigte sich übrigens auch, dass der Kochvorgang mit den Steinen erstaunlich einfach zu kontrollieren war.
Im verschlossenen Braugefäß geriet die Flüssigkeit in Gärung
Was sagen diese Experimente für Göbekli Tepe aus? Laura Dietrich ist vorsichtig: „Bei der Herstellung von Bier sind wir auf Analogieschlüsse angewiesen.“ Zwar wurden in der Höhle bei Haifa Spuren von Getreidemalz gefunden, aber ob diese Technik auch im Südosten Kleinasiens bekannt war, ist zunächst eine Annahme. Allerdings eine ziemlich plausible. Denn sie fügt sich gut in das bisherige Deutungsmuster der monumentalen Anlage ein.
Schon ihr Ausgräber Klaus Schmidt erkannte in den sieben kreisförmige Steinanlagen und den bis zu 20 Tonnen schweren Monolithen mit den Darstellungen furchterregender Tiere einen Kultort, an dem sich Leute aus weit entfernten Gegenden versammelten und unbekannte Rituale abhielten. Rechteckige Räume, in denen auch Reibsteine und fest eingebaute Steingefäße gefunden wurden, zeugen von einer gut ausgebauten Infrastruktur, die die Bewirtung einer Menschenmenge ermöglichte, die wesentlich größer war als die der zwischen 25 und 50 Personen zählenden Sammlergruppen. Auch für die Siedlungen, die inzwischen in der Nachbarschaft entdeckt wurden, dürfte die weithin sichtbare Anlage auf dem Hügel überdimensioniert gewesen sein.
Es könnten daher rauschende „Arbeitsfeste“ gewesen sein, zu denen die Menschen auf dem Göbekli Tepe zusammenkamen, sagt Dietrich und verweist auf Totenrituale indigener Gruppen in Indonesien. Indem sie ihren unbekannten Göttern monumentale Standbilder errichteten, legten sie zugleich die Grundlage für soziale Kontakte über größere Entfernungen hinweg.
Als Lohn und Ansporn für diese Arbeit, die ja erhebliche Ressourcen verschlang, gab es „Mahlzeiten“, die wahrscheinlich zuweilen in große Gelage oder womöglich gar Orgien ausarteten. Da diese Feste zugleich auch der Repräsentation und dem Austausch von Erfahrungen dienten, wirkten sie zugleich am Fortschritt der Zivilisation mit. „Die Annäherung der Sammler an die Naturausbeutung durch Ackerbau und Domestikation wilder Tiere wurde beschleunigt“, folgert Laura Dietrich.
Dieses Modell könnte auch die monumentalen Bauwerke erklären, mit denen die frühen Hochkulturen ins Licht der Geschichte traten. Die Pyramiden des Alten Reiches Ägyptens, die großen Tempel Mesopotamiens oder auch die Großbauten in Südamerika waren nicht einfach Beispiele grandioser Ressourcenverschwendung, sondern sie waren Projekte, mit denen Gesellschaften durch gemeinschaftliche Arbeit zusammenfanden – und eingebetteten Mahlzeiten.
Brachte also der Alkohol den Menschen dazu, sesshaft zu werden? So weit will der Prähistoriker und Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, in seiner „Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“ nicht unbedingt gehen: Aber „es ist sicher nicht übertrieben, zu sagen, dass es für den Menschen stets eine große Rolle spielte, sich zu bestimmten Anlässen zu berauschen“.
Nota. - Als Altphilologe hat Friedrich Nietzsche sich keinen Namen machen können, doch er war ein scharfer Denker, und so zählt er heute zu den tonangebenden Philosophen unserer Zeit. Ein disziplinierter Denker war er aber nicht. Er hat das Dionysische mehr unter den Kulturphilosophen als unter den Historikern zu einem akkreditierten Begriff gemacht. (Das Apollinische hatten schon Winckelmann und der ganze Rattenschwanz von Gelehrten im abendländischen Vorurteil festgetreten). Es mag ja biographischen Zufällen geschuldet sein - aber da hat ihn seine Phantasie wohl auch historisch ins Schwarze treffen lassen.
JE
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