Dienstag, 10. September 2013

Revolution.

aus NZZ, 9. 9.2013
Die Freiheit und das Neue
 
Die epochale Idee der Revolution ist verblasst - in der Theorie, in der Politik und in der Kunst.  

Während der Begriff der Revolution einst Generationen bewegte, fehlt uns heute der Glaube, dass sie Heil bewirke. Die Freiheit scheint selbstverständlich, und das Neue geschieht ohne Unterlass. Dabei beginnen hinter unserem Rücken die Strukturen der Unfreiheit zu wachsen.

Von Konrad Paul Liessmann

«In Paris ist Revolution ausgebrochen!» Mit diesem Ausruf, der ja fast eine geschichtsphilosophische Formel darstellt, stürzt in Alban Bergs Oper «Lulu» der Zeitungsmacher Dr. Schön, einen Revolver in der Hand, ins Zimmer, um mit Lulu, seiner exzentrischen Frau, ein für alle Mal abzurechnen. Sein Sohn Alwa, ein träumerischer Komponist und ebenfalls in Lulu verliebt, stammelt «schlaftrunken»: «In Paris . . . Lass mich nach Paris . . .» Darauf sein Vater: «In der Redaktion weiss keiner, was er schreiben soll.» Er stösst seinen Sohn aus dem Raum, drückt dann Lulu den Revolver in die Hand, will sie zum Selbstmord zwingen und wird von ihr mit fünf Schüssen in den Rücken erledigt.

Man könnte sich fragen, ob sich in dieser Szene nicht ein Modell für unseren Umgang mit Revolutionen findet: Eine Revolution bricht aus, keiner weiss, was er schreiben soll, und dann wenden wir uns unseren eigenen Problemen zu - mit oder ohne Revolver. Dass bei Wedekind und Berg diese Revolution in Paris ausbricht, ist allerdings kein Zufall. Es war und ist die Französische Revolution, an der sich das moderne Denken der Revolution überhaupt entzündet hat, die zum Massstab, zum Angelpunkt und zum Referenzrahmen aller nachfolgenden Revolutionen werden wird, von den Revolutionen des Jahres 1848 über die russische Revolution 1917, vom Pariser Mai des Jahres 1968 bis zum euphemistisch so genannten «arabischen Frühling» unserer Tage. Lasst uns also nach Paris!

Freiheit als Telos

Im Jahre 1957 veröffentlichte der Philosoph Joachim Ritter eine kleine Abhandlung mit dem Titel «Hegel und die Französische Revolution». Es sollte einer der einflussreichsten Texte der deutschen Nachkriegsphilosophie werden. Ritter, der später zum Oberhaupt einer gerne konservativ genannten Schule avancieren sollte, hatte darin den Versuch unternommen, Hegel vom Vorwurf, ein Verteidiger des reaktionären preussischen Staates zu sein, zu befreien und den Nachweis zu liefern, dass Hegels geschichtsphilosophisches und politisches Denken nur aus seinem positiven Verhältnis zur Französischen Revolution zu verstehen war.

Wie immer diese Deutung heute eingeschätzt werden mag: Entscheidend war, dass Ritter mit Hegel versuchte, die Revolution auf den Begriff zu bringen. Mit Emphase zitiert er jene berühmt gewordenen Sätze aus der «Phänomenologie des Geistes», nach denen die politische Revolution die «ungeteilte Substanz der absoluten Freiheit» ist, die sich auf den «Thron der Welt» erheben will, «ohne dass irgendeine Macht ihr Widerstand zu leisten vermöchte». Freiheit ist das Motiv, der Ausgangspunkt und das Telos der Revolution, Freiheit ist aber auch ihr immer wieder neu zu behauptendes problematisches Erbe. Revolution bedeutet: die Freiheit als Freiheit für alle einzufordern, sie zu einem Recht zu erklären und nach einer Verfassung des Staates zu suchen, die imstande ist, diese Freiheit, die nur als Freiheit des Einzelnen gedacht werden kann, auch zu garantieren.

Wohl wusste Hegel und mit ihm auch Ritter, dass der erste Schritt in diese Freiheit, die Revolution selbst, ihre Schattenseite hatte: den Terror. Das entsprechende Kapitel in Hegels «Phänomenologie» trägt den Titel «Die absolute Freiheit und der Schrecken», und darin findet sich auch jene lakonische und auch von Ritter zitierte Bemerkung, dass zur Revolution auch der «platteste Tod» gehört, «ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhauptes . . .» Im Namen der Freiheit des Einzelnen wird das Leben des Einzelnen zu einer Nullität - es hat keine Bedeutung. Doch dieser Schrecken und seine Opfer schienen angesichts des grossen revolutionären Programms der «Einheit von Freiheit und Menschsein» wenn nicht vernachlässigbar, so doch legitimierbar.

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Joachim Ritters bahnbrechender Studie veröffentlichte sein Sohn Henning Ritter kurz vor seinem allzu frühen Tod einen «Versuch über die Grausamkeit», dem er den Titel «Die Schreie der Verwundeten» gab. Das Buch beginnt mit einer intensiven Einlassung auf jene Seite der Französischen Revolution, die Hegel und sein Vater gerade einmal gestreift hatten: das System der Vernichtung, das kein Unfall, keine Abweichung, sondern Ausdruck der innersten Logik der Revolution war, wie sie etwa Robespierre verkörperte: «Das mit letzter Konsequenz gewollte Gute wird böse, das Böse treibt das Gute aus sich hervor.» Robespierre erscheint als der «Typus des Vollstreckers, der im zwanzigsten Jahrhundert wieder auftauchen wird, der Ernst macht mit dem, was in der Situation bereit liegt: Worte zu Taten.» Keine Revolution, die sich nicht als Idee vorbereitete, die verwirklicht werden wollte; keine Verwirklichung einer Idee allerdings, die nicht Angst und Schrecken verbreitete. Das Verstörende an Henning Ritters Essay ist dann auch die gleichermassen kühle wie intime Rekonstruktion der immanenten Grausamkeit der Revolution.

Der Nimbus, der die Revolution lange umgab, lag nicht in ihrer Praxis, sondern in ihrem Pathos, ihrer Gestik, ihrer Symbolik. Es ist ja erstaunlich, dass in der Euphorie gerade auch über die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts grosszügig darüber hinweggesehen wird, dass keine dieser Revolutionen ihr Ziel unmittelbar erreichte. Sie mündeten fast stets in Terror, Gewaltherrschaft, politischem Abenteurertum, und es dauerte, etwa in Frankreich, über ein Jahrhundert, bis die Versprechen der Revolution allmählich stabile institutionelle Formen annehmen konnten. Gelungene Revolutionen mögen politische Machtverhältnisse umstürzen, alte Systeme hinwegfegen, Personen beseitigen - in der Regel schaffen sie mehr und lange andauernde Probleme, als sie unmittelbar lösen. Der Enthusiasmus, der mancherorts für den «arabischen Frühling», den man sich nach dem Modell der europäischen Revolutionen dachte, um sich gegriffen hatte, war so auch Ausdruck einer eklatanten Geschichtsvergessenheit, letzter Reflex einer Revolutionsromantik. Nicht nur frisst wie Saturn die Revolution ihre Kinder - wie Pierre Vergniaud, einer ihrer Protagonisten, am Gang zum Schafott bemerkte -, sondern sie muss ihre Anhänger immer auch enttäuschen. Nur der überlebt eine Revolution, der bereit ist, ihre Ideale zu verraten. Man kann über Lenin sagen, was man will: Aber in «Staat und Revolution», geschrieben am Vorabend der russischen Revolution, hat er ein ziemlich klares Bewusstsein von diesen Zusammenhängen entwickelt.

Es sind aber diese Ideale, die die Leuchtkraft von Revolutionen bestimmen. Hannah Arendt hat in ihrem grossen Essay «Über die Revolution» von 1963 diese Ideale benannt: die «Idee der Freiheit» und die «Erfahrung eines Neuanfangs». Eine Revolution, der es nicht um Freiheit, um individuelle Freiheit, um Freiheit als Selbstbestimmung des Einzelnen geht, ist keine Revolution, eine Revolution, die nicht die Politik, den Staat, die Gesellschaft neu denken und gestalten will, die nicht einen Neuanfang verkündet, ist auch keine Revolution. Eine Revolution ist eben nicht eine beschleunigte Variante einer Reformpolitik, eine Revolution ist nicht das Resultat kontinuierlicher Veränderungen im Bereich des Sozialen, der Wissenschaften oder der Technik, sondern eine Revolution muss sich als Bruch, als Ende und Neubeginn, als radikaler Wechsel der Perspektive erweisen. - Die Freiheit und das Neue: Genau wegen dieser Bestimmungen kannte Hannah Arendt übrigens nur zwei Revolutionen, die diesen Namen auch verdienten: die amerikanische Revolution, also der Unabhängigkeitskrieg, und die Französische Revolution. Revolutionen, in denen es nur um einen Machtwechsel, einen Austausch der Eliten oder um die Etablierung totalitärer Herrschaftsformen geht - wie etwa im Konzept einer «Diktatur des Proletariats» und seiner Realisierung in Russland oder China -, waren für Arendt keine Revolutionen. Folgt man diesen Überlegungen, wäre auch eine islamische Revolution, wie sie etwa in Iran mit dem Ziel stattgefunden hat, autokratische, religiös fundierte Herrschaftsformen zu etablieren, in diesem Sinn keine Revolution. Dies ist übrigens genau der Grund, warum etwa der arabische Schriftsteller Adonis zu Beginn des «arabischen Frühlings» erklärt hatte, dass er nicht an einer Revolution teilnehmen könne, die in einer Moschee beginne. Solch eine Revolution sei keine, da es essenziell weder um Freiheit noch um Demokratie gehe, sondern um bewaffnete Revolten mit unklaren Zielen, aber letztlich unter religiösen Prämissen.

Unerwünschte Nebenfolgen

Und auch wenn wir mit dem Begriff der Revolution doch einigermassen grosszügig umgehen: Ohne den Anspruch auf Freiheitsgewinne und den Anspruch des Neuen werden wir dabei nicht so recht froh - das gilt für die industrielle Revolution ebenso wie für die sexuelle, für wissenschaftliche Revolutionen ebenso wie für die digitale, und dies gilt auch für die ästhetischen Revolutionen. Nur weil etwas neu ist, stellt es noch keine Revolution dar - das gilt für viele Innovationen vor allem im Bereich der Medien, der Kunst und der unterschiedlichen Technologien. Veränderungen, und mögen sie noch so dramatisch sein, die den Menschen nicht mehr Freiheit, sondern mehr Zwang und Abhängigkeit bringen, Einschnitte, und mögen sie noch so drastisch sein, die zu einer Rückkehr zu alten Lebens- und Erwerbsformen führen, sind keine Revolutionen.

Alle diese genannten Revolutionen versprachen dann auch mehr Freiheit - in der Sexualität, in der Kommunikation, in der Produktion, in der Forschung, in der Kunst - und alle unterlagen, wenn auch oft in Form der Karikatur, der Logik des Umschlags der Freiheit in den Schrecken: In der befreiten Sexualität dominiert der Leistungsdruck, in der digitalen Kommunikation triumphieren die Überwachungsprogramme, in der Kunst unterwerfen sich alle dem Trend zur Selbstdarstellung, in der Forschung regiert der Publikationszwang!

Die Freiheit und das Neue: Das gilt auch und vielleicht im besonderen Masse für die Revolutionen in der Kunst. Im Jahre 1849, als sich das Scheitern der politischen Revolution abzeichnete, veröffentlichte der ehemalige sächsische Hofkapellmeister, Barrikadenkämpfer und nunmehrige Flüchtling Richard Wagner den Aufsatz «Die Kunst und die Revolution». Geschrieben wurde dieser Text, wie könnte es anders sein, in Paris! Wagner will beides: die Freiheit und das Neue. Er will die Freiheit und die Befreiung des Menschen - und dies umso mehr, als die bisherige Entwicklung der Menschheit nicht die Sklaven frei, sondern die Freien zu Sklaven gemacht habe. Und Wagner will die Befreiung der Kunst - denn diese erscheint gerade in der anbrechenden Moderne ganz besonders geknechtet: «Das ist die Kunst, wie sie jetzt die ganze zivilisierte Welt erfüllt! Ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb, ihr ästhetisches Vorgeben die Unterhaltung der Gelangweilten.»

Das Neue allerdings, das Wagner will, ist die Einheit der politischen und sozialen mit der ästhetischen Revolution. Denn der freie Mensch ist der und nur der, der auch ästhetisch empfänglich und ästhetisch produktiv ist: «Aus dem entehrenden Sklavenjoche mit seiner bleichen Geldseele wollen wir uns zum freien künstlerischen Menschentume aufschwingen: aus mühselig beladenen Tagelöhnern der Industrie wollen wir alle zu schönen, starken Menschen werden, denen die Welt gehört als ein ewig unversiegbarer Quell höchsten künstlerischen Genusses.» Die Revolution gebe diesem Menschen die Stärke, die Kunst gebe ihm die Schönheit! Und dann heisst es weiter: «Jeder Mensch wird in Wahrheit Künstler sein.» Auch Joseph Beuys, wir ahnten es, war Wagnerianer.

Seltsam farblos

Nein, die Hoffnungen, die die Kunst in die Revolution setzte, haben sich ebenso wenig erfüllt wie die der Revolution in die Kunst. Das Konzept, die ästhetische Avantgarde auch als Vorhut einer sozialen und politischen Revolution zu sehen, wie es vor allem die wilden sechziger Jahre propagierten, hat zwar bis heute den Kunstmarkt belebt, aber die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse eher unangetastet gelassen. Revolution ist heute ein seltsam farbloser Begriff geworden. Die Emphase, mit der dieser Begriff einmal verbunden war, ist verschwunden. Die «erhabene Rührung» und den «Enthusiasmus des Geistes», den Hegel noch zur Revolution, dieser «Morgenröte» der Geschichte, assoziieren konnte, empfindet kaum noch jemand, aber auch die Schrecken der vergangenen Revolutionen schrecken nicht mehr, man begreift sie als Preis, der für die Etablierung jener menschenrechtlichen Verhältnisse, in denen man es sich häuslich eingerichtet hat, eben zu zahlen war.

Das macht es auch trotz der andauernden Krise schwer, in der Idee der Revolution noch jene Kraft zu sehen, die den Kapitalismus, seine modernen Erscheinungsformen und die durch ihn verschärften Abhängigkeiten überwinden könnte. Und dies hat auch damit zu tun, dass wir die Idee der Freiheit und das Konzept des Neuen entkoppelt haben. Das Neue ist ohnehin allgegenwärtig, wir werden von Innovationen geradezu überschwemmt, die Beschleunigungsdynamik der modernen Welt kennt keine versteinerten Verhältnisse, die zum Tanzen gebracht werden müssten, revolutionär wäre heute wahrscheinlich die Forderung nach Innehalten, Kontemplation, Ruhe, Langsamkeit. Jenseits des Kapitalismus aber können wir uns nichts mehr vorstellen, alles, was neu ist oder sein könnte, hat ihn zur Voraussetzung. Kapitalismuskritik äussert sich deshalb auch als diffuse Empörung, als partielle Aktion, als Bürgerinitiative, als spektakuläre Besetzung eines Bankenviertels, mit einem Wort: als Anspruch, bisher vernachlässigte Partikularinteressen durchzusetzen, ohne die Rahmenbedingungen an sich infrage zu stellen. Und die individuelle Freiheit ist einerseits selbstverständlich, andererseits eine vernachlässigbare Grösse geworden. Mitunter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass unter dem Druck der modernen Kommunikationsformen die schon von Étienne de La Boétie, einem Freund Michel de Montaignes, diagnostizierte Disposition des Menschen zur «freiwilligen Knechtschaft» gegenwärtig hoch im Kurs steht.

Die Revolution steht nicht mehr auf der Tagesordnung - weder in der Theorie noch in der Politik noch in der Kunst. Nein, wer heute in den digitalen Suchmaschinen nach «Revolution» fahndet, stösst nach dem unvermeidlichen Wikipedia-Eintrag auf eine amerikanische Fernsehserie, auf eine Event-Agentur, eine Anzeige für Liegeräder, die eine «Bike-Revolution» verspricht, auf eine Studentenbar in Graz und auf einen Online-Shop, der unter dem Label «Revolution» die «heissesten Styles» im Bereich Haus- und Schlafanzüge anbietet. Unter dieser Perspektive könnte man das Problem der Revolution eigentlich auch ganz entspannt sehen.

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. 2012 erschien bei Zsolnay: «Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft». - Bei dem abgedruckten Text handelt es sich um die gekürzte Fassung des Vortrags, den er am NZZ-Podium «Revolution» im Rahmen des Lucerne Festival am 8. September gehalten hat. Referat und Diskussion unter: www.nzzpodium.ch.


Nota. 

Das schreit nach einem Kommentar. Aber übers Knie brechen will ich ihn nicht. Ich bitte Sie daher um Geduld.
J.E.

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