Donnerstag, 26. September 2013

Geht China den Weg der Sowjetunion?

aus NZZ, 20. 9. 2013                                                                                                                  Xi Jinping

Der falsche Gorbatschew
 

Die Angst vor dem Schicksal der Sowjetunion führt die chinesischen Kommunisten zu einer Rückbesinnung auf die Ideologie

Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping ist im Westen zunächst als «heimlicher Gorbatschew» gesehen worden. Xi selbst warnt seine Parteigenossen vor dem Schicksal der Sowjetunion und startet eine Ideologie-Kampagne zur Stärkung des Systems.

von Markus Ackeret, Peking

Es gibt einen hartnäckigen Mythos im postsozialistischen Russland. Wäre 1985 nicht der von Intellektuellen wegen seines südrussischen Akzents und seiner bäuerlichen Herkunft verachtete Michail Gorbatschew an die Spitze der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gekommen, wäre diese nie untergegangen. Gorbatschews Versuch, das Sowjetsystem durch wirtschaftliche und politische Reformen zu bewahren, habe dem sowjetischen Imperium den Garaus gemacht. Gorbatschew ist bis heute eine Hassfigur für viele Russen.

Schock und Lehrstück

Die reine Symptom-Analyse ist nicht falsch. «Perestroika» (Umbau) und «Glasnost» (Offenheit) haben entscheidend dazu beigetragen, dass die kommunistische Parteiherrschaft ihre Glaubwürdigkeit und damit den Boden unter den Füssen verlor. Die Analyse blendet jedoch die tieferen Ursachen aus. Als Gorbatschew 1986 Glasnost und Perestroika verkündete, war das System schon so marode, dass es nicht gewagt ist anzunehmen, es sei kaum mehr zu retten gewesen.

Für Chinas Kommunisten, einst innerkommunistische ideologische Gegenspieler der Sowjetunion, war deren Zusammenbruch Ende 1991 ein Schock. Es kursieren viele Erzählungen darüber, wie sich die Parteielite seither immer wieder mit dem Scheitern der sowjetischen Genossen auseinandergesetzt hat, um ein vergleichbares Szenario zu verhindern. Die Angst vor dem Schicksal der Sowjetunion sitzt anscheinend bis heute fest in den Köpfen vieler führender Exponenten der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). Das sagt auch etwas aus über die fehlende Selbstgewissheit der Parteiführung und der Staatsmedien, die sich im Sommer erneut des Themas «Lernen von den Fehlern der Sowjetunion» angenommen haben.

Der Staats- und Parteichef Xi Jinping hatte das Schreckgespenst eines sowjetischen Endes der chinesischen Einparteiherrschaft selbst in die Diskussion eingebracht. In einer nie offiziell öffentlich gemachten Rede kurz nach seinem Amtsantritt hatte er Ende vergangenen Jahres vor einem Schicksal, wie es die sowjetischen Genossen erlebt hatten, gewarnt und zugleich an die Geschlossenheit und Tatkraft der KPC appelliert. Die Moskauer Parteifreunde seien nicht Manns genug gewesen, um den Zusammenbruch ihres Systems zu verhindern, bleute er seinen Zuhörern ein. Er will nicht als chinesischer Gorbatschew in die Geschichte eingehen.

Diese mit Verzögerung über informelle Kanäle verbreitete Rede begrub eine Illusion, der zahlreiche westliche Beobachter nachgehangen waren. In den Wochen vor dem 18. Parteitag der KPC im vergangenen November hatte in China und ausserhalb die Diskussion über die Notwendigkeit politischer Reformen im Mittelpunkt gestanden. Über die Ära Hu Jintao und Wen Jiabao urteilten auch chinesische Kommentatoren, es sei eine Dekade der Stagnation und der verpassten Reformschritte gewesen. In die künftige Parteiführung um Xi Jinping und Li Keqiang wurde die Hoffnung auf eine politische Öffnung projiziert. Allein mit wirtschaftlichen Reformen sei China nicht mehr voranzubringen. Xi Jinping als chinesischer Michail Gorbatschew - das klang in den Ohren aussenstehender Interpreten der chinesischen Politik verheissungsvoll.

Xi Jinping hat einen anderen Weg gewählt. Von politischen Reformen ist derzeit nicht die Rede, von Status quo und Stagnation aber auch nicht. Xi geht es um die Erneuerung und Festigung des herrschenden Systems. Lange war in China nicht mehr so viel von der Notwendigkeit gesprochen worden, Marxismus zu studieren und sich Mao Zedong zu Herzen zu nehmen. Xi bediene sich genauso der maoistischen Grundlagen, wie das der gestürzte Funktionär Bo Xilai in Chongqing getan habe, heisst es. Doch Bo trat als ein populistischer Anführer mit manipulativen Mitteln vor die Massen. Xi ruft nicht das Volk in Stadien zusammen und zwingt es nicht zu Massenveranstaltungen, sondern will die Partei von oben «reinigen». Die Parteielite, die sich durch Verschwendung und Bereicherung vom Volk abgehoben hat, soll sich auf wahre Werte besinnen. Deshalb die Kampagne für frugalen Lebensstil - «vier Gerichte und eine Suppe» statt auserlesener Speisen bei Banketten -, deshalb die Anti-Korruptions-Rhetorik - «Tiger» und «Fliegen» sollen gleichermassen bestraft werden.

Verfassungsdebatte abgewürgt

Der ideologische Hintergrund dieser in traditionell kommunistischem Sinne gestalteten Kampagne ist dennoch unverkennbar. In Xibaipo, dem letzten Rückzugs- und Kommandoposten der Kommunisten vor der Machtübernahme 1949, mahnte Xi die Parteimitglieder zur Rückbesinnung auf maoistische Ideale als «beste Nahrung» für einen bescheidenen «Arbeitsstil». Dieser umfasst politische Loyalität, Integrität und Kompetenz der Funktionäre. An diese ist auch eine zentrale Kampagne Xis gerichtet, die sich ebenfalls an Maos Vorbild orientiert: der Gang ins Volk. Mit dem Aufruf zu Bescheidenheit ist das eng verknüpft, denn es soll die durch abgehobenes Verhalten und korrupte Praktiken entfremdeten Parteifunktionäre zurück zu den Massen bringen. Ein Jahr lang sind die Genossen gehalten, sich der Selbstkritik - ebenfalls ein Instrument aus der ideologischen Mottenkiste - zu widmen.

Xi nimmt die Armee nicht davon aus. Im Unterschied zu seinem in den Streitkräften wenig ernst genommenen Vorgänger Hu bezieht er sie in seine Anstrengungen zum Machterhalt ein und gibt ihnen gar ein neues Gewicht. Die Ideologie-Offensive ist widersprüchlich. Der Aufruf zur ideologischen Geschlossenheit, zum Marxismus-Studium - unter anderem für alle Journalisten - und zur Stärkung des Primats der Partei im Staat dient auch der Gleichschaltung. Es ist der Versuch eines Gegenprogramms zu Gorbatschews «Glasnost». In der Bevölkerung haben sich in den vergangenen dreissig Jahren die ideologischen Positionen jedoch diversifiziert. Bestes Beispiel dafür ist die Möglichkeit, im Internet die Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit auszuloten. Heerscharen von Zensoren sind am Werk, aber es dringt, manchmal nur für wenige Stunden, auch Unerwartetes an die Oberfläche. Die Propagandisten der Partei bezeichnen solches als «Gerüchte» und haben jüngst das Vorgehen gegen Internet-Kommentatoren verschärft. Ideologische Verengung und die Notwendigkeit, durch Transparenz korruptes Verhalten aufzudecken, widersprechen sich. Neue Spannungsfelder tun sich auf.

Xi hatte einige der Geister, die seine Propagandisten mit Mühe in die Flasche zurückzustopfen versuchen, selbst geweckt. Die Staatsmacht müsse in den Käfig des Gesetzes gesperrt werden, sagte er kurz nach seiner Amtsübernahme. Demokratisch gesinnte Intellektuelle griffen das auf, um eine langjährige Forderung zu äussern: Die Verfassung soll den obersten Rechtsrahmen geben, auch für die Partei. Derzeit steht die Partei über allem, sie besitzt ihre eigene Verfassung und steht ausserhalb des staatlichen konstitutionellen Rahmens. Deshalb gibt es in China keine unabhängige Justiz und also keinen Rechtsstaat. Die Volksbefreiungsarmee ist der Partei, nicht dem Staat verpflichtet - was der Partei die Möglichkeit gibt, die Macht im äussersten Notfall auch gegen die eigenen Bürger und das Staatswesen zu verteidigen. Diskussionen darüber, das zu ändern, sind innerhalb der Partei unter Xi verstummt. Die als «Konstitutionalismus-Debatte» bezeichnete Diskussion haben die Staatsmedien im August als Angriff auf die Parteiherrschaft diffamiert.

Feindbild Westen

In diesen Kontext passt ein Papier des Büros des Zentralkomitees der KPC, das ebenfalls nicht für ein breiteres Publikum gedacht war, aber vor wenigen Wochen den Weg in die Medien fand. Das «Dokument Nummer 9» nennt Gefahren für die Macht der Partei, die sich in «falschen Formen des Denkens, der Haltungen und Handlungen» ausdrücken. Mit der Verbreitung der Ideen westlicher konstitutioneller Demokratie sieht der Leitfaden - nicht zu Unrecht - das gegenwärtige Herrschaftsmodell infrage gestellt. Überhaupt richtet sich das Dokument in erster Linie gegen «westliche Werte», als die es Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem, allgemeines Wahlrecht, unabhängige Justiz und eine dem Staat unterstellte Armee sieht. Die Logik ist nachvollziehbar: Allen diesen politischen Vorstellungen steht ein leninistisch organisiertes kommunistisches Regierungssystem («Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken») diametral entgegen. Bereits zuvor war es Universitätsdozenten untersagt worden, diese Themen im Unterricht anzusprechen.

Weil Xi die Reformen Gorbatschews als eine ideologische Verwässerung interpretiert und den Zusammenbruch der Sowjetunion als Folge einer nicht mehr standhaften kommunistischen Führung sieht, scheint für ihn ideologische Rückbesinnung die konsequente Antwort zu sein. Der Versuch, über die Stärkung der Parteiorganisation Antworten auf den Ruf nach politischer Reform zu finden, richtet sich vor allem an die Partei selbst. Der «chinesische Traum» von der Rückkehr Chinas als Grossmacht ist zu einem neuen Schlagwort der Propaganda geworden, seit Xi ihn kurz nach seiner Wahl zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei erstmals zum Thema gemacht hat. Der Begriff ist nicht neu, und er ist durch Xi bis anhin auch nicht eindeutig mit Inhalt gefüllt worden. In allen möglichen Zusammenhängen wird er nun aber von der Propaganda genutzt - wohl auch deshalb, weil er im Unterschied zu den technokratischen Slogans von Xis Vorgängern in der Bevölkerung rasch positive Assoziationen auslöst.

Die Sowjetunion ist nicht an zu wenig Ideologie zugrunde gegangen, sondern unter anderem an der Kluft zwischen ideologischem Anspruch und Realität. «Glasnost» hat diese Wirklichkeit noch offensichtlicher gemacht, als sie sich der Bevölkerung im Alltag ohnehin präsentierte. Die Wahrheit über Ereignisse wie Tschernobyl liess sich nicht länger verbergen und enthüllte die Unzulänglichkeit des Systems. Im Zeitalter der neuen Medien ist es erst recht illusorisch, eine ideologisch getrimmte Einheitsmeinung durchzusetzen. Auch die Abgrenzung vom «westlichen Denken» ist angesichts des in vielerlei Hinsicht an der amerikanischen Gesellschaft orientierten China von heute realitätsfremd. Der sozialistische Anspruch ist zwar noch in den Köpfen der Chinesen. Der Kontrast zur Wirklichkeit ist aber so gross, dass das Festklammern an der Ideologie schon lange anachronistisch ist.

Trotz zunehmenden Protesten gegen Willkür und die Missachtung von Bürgerrechten gibt es keine ernstzunehmenden politischen Gruppierungen im Land, die der KPC die Herrschaft derzeit streitig machen könnten. Doch innerhalb des herrschenden Rahmens stossen sich jene, die in den vergangenen Jahrzehnten zu Wohlstand gekommen sind, öfter an Bevormundung, Rechtsunsicherheit und fehlenden Einflussmöglichkeiten. Sie haben die Hoffnungen auf einen «chinesischen Gorbatschew», auf Perestroika und Glasnost in China, genährt. Xi hat sich für eine Re-Ideologisierung entschieden. Die gesellschaftlichen und politischen Realitäten kann er damit jedoch nicht ausblenden. Auch eine Rückbesinnung auf «rote Werte» ist ein politisches Risiko.

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