Dienstag, 17. September 2013

Würgende Wucherung.

aus NZZ, 18. 9. 2013                                                                                         Maret Hosemann, pixelio.de


Im Gehäuse der Hörigkeit
 

Universitäten, Schulen, Spitäler, Kultur- und Sozialeinrichtungen - von überall her ertönt dieselbe Klage: das Überhandnehmen des Papierkrams, das Wuchern der Bürokratie. Dort, wo die eigentliche Leistung erbracht wird, mangelt es an Personal, während es auf höherer Kontrollebene üppig gedeiht. 

Von Dieter Freiburghaus 

An unserem Universitätsinstitut mussten wir jährlich einen Fragebogen dazu ausfüllen, worauf wir unsere Zeit verwendeten: Forschung, Lehre, Verwaltung, Mittelbeschaffung, Medienkontakte, Mittelbaubetreuung. Jeder weiss, dass man das eigentlich nicht kann, denn ein Mittagessen mit den Assistenten dient gleichzeitig mindestens der Hälfte dieser Zwecke. Aber man hat es eben getan, um des lieben Friedens willen. Doch einmal kam mein «Reporting» mit der Bemerkung zurück, ich hätte 30 Prozent für Forschung eingesetzt, ein Jahr zuvor jedoch 35 Prozent; dies sei zu begründen. Ich antwortete, ich hätte mich leider vertippt, der Prozentsatz sei derselbe geblieben. Damit war man zufrieden. Solche Zahlen werden dann «nach oben» weitergeleitet, aggregiert, ausgewertet und dienen fortan als Grundlage für die Wissenschaftspolitik. 

Überhandnehmen des Papierkrams 

So wird der Professor zum Datenlieferanten für übergeordnete Stellen. Einen wachsenden Anteil seiner Zeit verbringt er damit, Statistiken zu erstellen, Anträge auszufüllen, Evaluationen durchzuführen, Mitarbeitergespräche zu protokollieren und gerichtsfeste Begründungen für schlechte Zensuren zu liefern. Was genau damit geschieht, bleibt ihm meist verborgen, er fühlt sich aber beobachtet und kontrolliert: «Die Daten können jederzeit gegen Sie verwendet werden!» Man ist an den Landvermesser K. in Kafkas «Schloss» erinnert.
 

Doch der Professor ist damit nicht allein, denn aus allen Schulen, Forschungsinstituten, Spitälern, Kultur- und Sozialeinrichtungen tönt dieselbe Klage: das Überhandnehmen des Papierkrams, das Wuchern der Bürokratie. An der Front, dort, wo die eigentliche Leistung erbracht wird, mangelt es an Personal, während es auf höherer Ebene üppig gedeiht, denn irgendjemand muss ja die anschwellende Datenflut verarbeiten. Ausserdem geht es darum, stets neue Instrumente des Monitorings, des Coachings, der Evaluation, des Assessments und des Controllings zu entwickeln und an den Untenstehenden auszuprobieren. Die Leute, die dies tun, haben meist kaum Praxiserfahrung und weder Talent noch Lust, Kinder zu erziehen, Patienten zu pflegen, Studenten zu bilden, Arbeitslose zu betreuen oder Sterbende zu begleiten.

Nun, man kann sich daran gewöhnen, mit Zynismus reagieren, passiven Widerstand leisten, irgendwelche Daten liefern und so den Zeitaufwand für den Papierkram minimieren. Damit ist aber die Sache nicht abgetan, denn dieser Aufwand ist das geringste Übel. Schlimmer ist, dass solche Kontrollen die Motivation dieser Berufsleute unterminieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich direkt auf Menschen beziehen, auf konkrete, individuelle, bedürftige, fordernde, schwierige, interessante Menschen. Die Fähigkeit, mit ihnen in eine positive Beziehung zu treten, hängt nicht primär von erlernbaren Techniken ab, sondern von Persönlichkeit, Engagement, Empathie und Kreativität. 

Solche Persönlichkeiten gedeihen nur in einem Milieu von Eigenständigkeit und Selbstverantwortung. Deshalb galt in der Vergangenheit: Hatte sich jemand die nötigen Qualifikationen erworben und seine fachliche und persönliche Eignung nachgewiesen, wurde ihm Vertrauen geschenkt - solange er es nicht offensichtlich missbrauchte. Dies war nicht ein Privileg, sondern eben die Conditio sine qua non für gute Arbeit. Ausserdem ersparte sich die Gesellschaft Kontrollaufwand. Werden solche Personen nun aber zu Objekten ständiger Eingriffe und Kontrollen, wird ihnen dauernd ins Handwerk gepfuscht, verlässt man sich nicht mehr auf ihr Urteilsvermögen, führt dies zu Frustrationen, zu Resignation, zu Dienst nach Vorschrift, zu Krankheit und oft zum Rückzug aus dem Beruf. Dabei erwischt es die Fähigsten zuerst. Es überleben diejenigen, die sich problemlos mit dem höheren Anstaltspersonal arrangieren - zum Schaden der Schutzbefohlenen und zum Nutzen der Bürokratie.

Man könnte nun annehmen, gegen dieses Unwesen gäbe es Widerstand, die Kontrolleure würden in die Schranken gewiesen, Vertrauen wieder in sein Recht gesetzt. Doch dies geschieht nicht oder doch nur selten. Ein Grund mag sein, dass diese Berufsleute eher Individualisten sind, nicht gewohnt, sich zum Widerstand zu formieren. Sie orten die Ursachen für die Unannehmlichkeiten zuerst in den Personen, die über sie gesetzt sind, und hoffen, mittels vernünftiger Argumente das Ungemach zu mildern. Sie verkennen den systematischen Charakter solcher bürokratischer Landnahme. Die Reaktion oder eben Nichtreaktion der Professoren auf die über sie hereinbrechende Umkrempelung des akademischen Betriebs ist dafür ein sprechendes Zeugnis. 

Weich wie eine Gummizelle 

Eine individualistische Erklärung für den Mangel an Widerstand greift also zu kurz. Max Weber hat in den 1920er Jahren in seiner Gesellschaftstheorie gezeigt, dass sich in der Moderne eine rationale und legale Herrschaft gegen die früheren Formen der charismatischen und der traditionellen Herrschaft durchsetzt. Deren Kern ist die regel- und papiergebundene Bürokratie. Sie wird unausweichlich, wird zu einem «modernen Gehäuse der Hörigkeit». Rational ist sie insofern, als in systematischer und geplanter Weise Mittel auf Zwecke hin optimiert werden sollen. Da die Gesellschaft aber zu komplex ist, um analytisch durchdrungen zu werden, gelingt solche Optimierung nur sporadisch, «muddling through» heisst die praktische Devise. Was bleibt, ist die Bürokratie als Herrschaftsform von nie gekannter Wirksamkeit. 

Diese Transformation erfasst die ganze Gesellschaft. Während nun aber in der Wirtschaft bürokratischen Auswüchsen durch den Konkurrenzdruck Grenzen gesetzt sind und sich deshalb in den Unternehmen eine Gegenbewegung mit flachen Hierarchien, relativ selbständigen, kleineren Einheiten und mit mehr Verantwortung der Mitarbeiter durchsetzt, werden der Staat und staatsnahe Bereiche zu den hauptsächlichen Tummelfeldern der Bürokratie. Die Mittel haben sich gewandelt: Bürovorsteher, strenge Chefs und Patriarchen sind verschwunden, an ihre Stelle sind anonyme Datenverwerter getreten. Niemand mehr trägt persönliche Verantwortung, sondern Teams werden an diffusen Zielvorgaben gemessen. Harte Sanktionen sind selten, dafür wird Unsicherheit zum Disziplinierungsinstrument. Das Gehäuse ist nicht mehr «stahlhart», wie zu Webers Zeiten, sondern weich wie eine Gummizelle und klebrig wie ein Spinnennetz. - Und nun wird deutlich: Nicht das oben beklagte Phänomen ist neu, neu ist nur, dass die Bürokratie inzwischen Berufe erreicht hat, die sich länger als andere selbständig zu halten vermochten: der Lehrer in seiner Dorfschule, die Krankenschwester in ihrem Regionalspital, der Forscher in seinem bescheidenen Labor, der Gemeindeschreiber in der Siebenhundert-Seelen-Gemeinde, der Geisteswissenschafter mit seinen paar Büchern. Sie alle liessen sich schlecht kontrollieren. Nun aber ist alles grösser und teurer geworden. Kinder werden in Zentralschulen verfrachtet, Gemeinden fusioniert, Kleinspitäler aufgehoben, Forscher brauchen internationale Vernetzung und Grossprojekte. Das Geld kommt zum grössten Teil vom Staat, und auf solch breiten monetären Strömen fährt dann die Bürokratie ein - unaufhaltsam. 

Bürokratische Logik 

Wird die Erosion von Motivation und Engagement nicht zu einem Abfall der Leistungen und in der Folge zu einem Gesinnungswandel führen? Nicht unbedingt, denn die Leistungen werden ja just von jenen gemessen und beurteilt, welche die Kontrollen ausüben. Der Unterricht mag schlecht sein, wenn nur die Anzahl der Weiterbildungstage stimmt. Der Patient mag sich unwohl fühlen, wenn nur jede Handreichung der Pflegefachfrau auf der Liste eingetragen wird. Die Forschung mag irrelevant sein, wenn nur die Publikationsliste lang genug ist. Jedes Ranking kann jedes erwünschte Resultat liefern, denn die Zahlenbasis bleibt immer obskur. Das heisst, es ist Teil dieser in sich geschlossenen bürokratischen Logik, dass ein Systemversagen kaum mehr nachweisbar ist. Wahrlich ein Gehäuse der Hörigkeit! - Ist dagegen kein Kraut gewachsen? Doch, alles eine Nummer kleiner, etwas weniger perfekt, bescheidener. Dazu eine Vielfalt von Schultypen, Ausbildungswegen, Lehrplänen, Institutionen, mehr Konkurrenz. Weniger Geld vom Staat, weniger Steuern, mehr Finanzierung durch die «Kundschaft», durch Stiftungen. Mehr Selbstverantwortung. Chancenlos? Man wird ja noch träumen dürfen!

Dieter Freiburghaus ist emeritierter Professor für europäische Studien am Idheap der Universität Lausanne.

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