Donnerstag, 12. Mai 2022

Politik ist keine moralische Veranstaltung.

W. Busch

Pazifist bin ich nie gewesen. Dass ein Angegriffener sich verteidigt, war mir immer selbstver-ständlich. Für wen der beiden ich selber Partei ergreife, ist eine ganz andere Frage.

Ich bin heute nicht in der peinlichen Lage, umlernen und meine Sätze von gestern verdrehen zu müssen. Politik ist keine Sache der Moral, sondern eine Sache der Vernunft. 

Ach, und Vernunft hätte nichts mit Moral zu tun?! 

Nein, nicht unmittelbar. Vernünftig ist ein Denken, das darauf zielt, Zwecke zu setzen; für die Mittel reicht Verstand. Und so zu setzen, dass andere, die sich ihre Zwecke ebenso frei setzen können wie ich selbst, in ihrer Freiheit nicht beeinträchtigt sind. Das verlangt nach zwei Spe-zifikationen: Erstens gibt es im Leben eines jeden einen privaten Bereich, in dem die Zwecke irgend eines andern nichts verloren haben. (Die Scheidung der Lebenswelt in einen privaten und einen öffentlichen Bereich war die große Kulturrevolution, durch die sich der Westen nachhaltig aus dem Rest der Welt hervorgetan hat. Erst so wurden staatsbürgerliche Verant-wortung und persönliche Moral historisch möglich.) 

Und zweitens gibt es einen - nämlich den öffentlichen - Bereich, wo die Zwecke des einen notwendig mit den Zwecken der andern ins Gehege kommen, weil die Menschen nur durch Arbeitsteilung und Kooperation lebensfähig sind. Hier wird Vermittlung der Zwecke des Einen mit denen der Andern nötig. Das ist der Bereich der Politischen.

Am Ökonomischsten ist es, ein einstweiliges Übereinkommen durch Verständ igung zu su-chen. Das gelingt nicht immer, denn Verständigung benötigt Verstand, und den haben nicht immer alle. Da muss dann das Kräfteverhältnis entscheiden, und äußerstenfalls die Überlegen-heit der Waffen. Letzteres ist immer unvernünftig, weil es unvermeidlich zu Zerstörungen von Reichtum führt und zum Verlust an menschlichem Leben.

Auch die ökonomische Sichtweise ist eine vernünftige. Um fromm, weise und gütig leben zu können, müssen Menschen leben können. Dies ist die notwendige Bedingung für alles Weitere. Doch auf diese Doppeltheit kommt es an: Die Bedingung kommt zuerst, das Weitere erst des weiteren. Aber nicht die Bedingung ist ihr eigener Zweck, sondern - das Weitere. Die sachli-chen Bedingungen wird man kühl und nüchtern erwägen können, da lässt sich mancher Streit durch schlichtes Messen erübrigen. Mit den weiteren Zwecken ist das anders. Dort wird Er-messen erforderlich, nämlich Schätzungen, Wertungen, Leidenschaften und manches andere. Da gerät der gesunde Menschenverstand oft in die Klemme, da bleibern Übereinkünfte prekär und vieles muss immer wieder ausgefochten werden, siehe oben.

Zu dem erwähnten Weiteren gehören ganz besonders auch Wertungen, die umgangssprachlich als moralisch bezeichnet werden. Zu den sachlichen Voraussetzungen des Lebens zählen sie nicht, denn die sind sich die Menschen gegenseitig schuldig. Ein - eo ipso strittiges - Politikum ist immer die Frage, wo die Gegenseitigkeit anfängt und wie weit sie reicht (und das ist wieder-um eine politische Frage); nicht aber die Schuldigkeit selbst, die ist kategorisch, und sie ge-winnt nichts dazu, wenn sie moralisch aufgeblasen wird; das macht sie suspekt und bana-lisiert... die Moralität.

Moralität bezeichnet all das, was ein jeder sich selber schuldig ist. Das kann immer nur er selbst bestimmen, das darf er sich gar nicht von einem Andern vorsagen lassen. Fromm, weise, gütig - das zählt auch darunter, doch sind das Dinge, über die er sich mit andern im-merhin beratschlagen kann. Für das im strengen Sinn Moralische trifft nicht mal das zu - jedenfalls nicht weiter, als er dem jeweils anderen auch sonst Zugang zu seinem Persönlichsten gewährt, denn dann sind sie aus Freiheit beide einander etwas schuldig

Die Grenze im Politischen ist das, was ich mir von andern zumuten lasse. Die Grenze im Moralischen ist das, was ich mir selber zuzumuten bereit bin. Die Grenze heißt - wiederum umgangssprachlich - Selbstachtung, und an dem Punkt nehme ich es mit mir selber um vieles genauer als mit den Leuten.

Die Unterscheidung zwischen Gesinnungsmoral und Verantwortungsmoral hat Max Weber in einer seiner letzten öffentlichen Äußerungen eingeführt, vor Studenten der eben gegründeten Deutschen Hochschule für Politik; und sie trägt den bezeichnenden Titel Politik als Beruf. Denn davon ist die Rede: vom sittlichen Dilemma des Berufspolitikers. Von einer Verantwor-tungsmoral kann nur er reden und nicht schon jeder, der sein geschmeidiges Rückgrat beschö-nigen will, ohne überhaupt öffentlich Verantwortung zu tragen. 

An verantwortlicher Stelle kommt ein Berufspolitiker öfter mal in die unangenehme Lage, Entscheidungen mittragen zu müssen, die er, wenn er nur für sich wäre, nie getroffen hätte. Doch mit seinem Gewissen  ist er wenn er es will, und gerade er sollte es wollen, immer wie-der allein. Und wenn es hart auf hart kommt, kann es passieren, dass ihm seine Gesinnung - die betrifft alles, was oben als 'das Weitere' vorkam - eine berufliche Veränderung nahelegt, und seinen Hut zu nehmen.

Ich glaube, in Deutschland hat das als letzte - noch in vorigen Jahrtausend - die Frau Schnar-renberger getan. Seither treten Politiker nur noch zurück, wenn ruchbar wurde, dass sie eine Gesinnung gar nicht haben; nicht einmal eine politische.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen