aus süddeutsche.de, 4. 5. 2022 Emblematisch: die normannische Festung von Dover
Von Niccolò Schmitter
König Ine war offenbar ein hungriger Mann. Am Ende des siebten Jahrhunderts nach Christus kodifizierte der Regent des angelsächsischen Königreichs Wessex schriftlich, was er von zehn Gehöften als Abgabe erwarte: 300 Brotlaibe, zwei ganze Rinder, über 40 Liter Honig, zehn Gänse, 15 Liter Butter und insgesamt 630 Liter Ale - um nur einen Teil zu nennen. Listen wie diese dienen der englischen Mediävistik seit dem 19. Jahrhundert als Beleg für eine Sachsteuer namens feorm, die es auf den britischen Inseln im Frühmittelalter gegeben haben soll.
Die freie Bauernschaft war demnach gezwungen, dem königlichen Haushalt regelmäßig Abgaben in Form von Lebensmitteln zukommen zu lassen. Dessen Versorgung war maßgeblich davon abhängig. Geht man von diesen Listen aus, so war die königliche Ernährungsweise überaus ungesund: ein bisschen Brot, angereichert mit tierischen Fetten und Unmengen von Fleisch. Diese Verzeichnisse führten dazu, dass in der Geschichtswissenschaft die Vorstellung dominierte, dass der angelsächsische Adel aus überzeugten Karnivoren bestand. Doch entsprach eine so unausgewogene Ernährung wirklich der Realität?
Knochenanalysen zeigen nun: wohl kaum. Die Bio-Archäologin Sam Leggett von der Universität Edinburgh und der Historiker Tom Lambert von der Universität Cambridge sind dem feorm gemeinsam auf den Grund gegangen. Ihre Ergebnisse haben sie nun in der Fachzeitschrift Anglo-Saxon Journal veröffentlicht.
Die Archäologin fand keinen Zusammenhang zwischen Status und fleischlastiger Ernährung
Leggett hat mehr als 2000 Knochenproben aus dem frühen Mittelalter analysiert, die aus verschiedenen archäologischen Fundstätten und Friedhöfen auf dem Gebiet des früheren Königreichs Wessex im heutigen Südengland stammen. Grabbeigaben und die Positionierung der Gebeine geben Aufschluss über den sozialen Status der Verstorbenen. Die Archäologin untersuchte gezielt Proben aus allen Gesellschaftsschichten. Dabei analysierte sie stabile Isotope, unterschiedlich schwere Atomarten eines Elements, die Rückschlüsse auf Herkunft und Umfeld der Probe erlauben. Speziell die Isotopen-Verhältnisse von Stickstoff und Carbon sagen viel über die Ernährungsweise aus.
Die Ergebnisse dieser Isotopen-Analyse verglich Leggett daraufhin mit dem Rang der Toten, und siehe da: Sie fand keinen Zusammenhang zwischen einer proteinreichen, also besonders fleischlastigen Ernährung und dem sozialen Status eines Verstorbenen. "Das isotopische Beweismaterial legt nahe, dass die Ernährungsweise in dieser Zeit über die sozialen Gruppen hinaus viel ähnlicher war, als wir bislang gedacht haben", so die Archäologin. Der Adel bestand demnach nicht aus Fleischfanatikern, ganz im Gegenteil: Der königliche Haushalt ernährte sich offenbar ziemlich ausgewogen und wie seine Untertanen vor allem getreidebasiert. Rind oder Geflügel standen nur manchmal auf dem Speiseplan. Flexitarier trifft es also eher.
Was hat es aber mit den Listen voller tierischer Produkte auf sich? Sie widersprechen dem isotopischen Befund. Tom Lambert stürzte sich deshalb auf die schriftlichen Zeugnisse, auf deren Grundlage Historiker das feorm als Sachsteuer definiert hatten. Er kam zu einem anderen Schluss: Die Listen waren demnach keine Verzeichnisse geforderter Abgaben, sondern im Grunde Bestellungen für riesige Feste.
Es gebe keine schriftlichen Belege dafür, dass so etwas wie eine ausbeuterische Lebensmittelabgabe im frühmittelalterlichen England existiert habe, so der Historiker. Vielmehr deuten die Zeugnisse daraufhin, dass die freien Bauern den königlichen Haushalt in unregelmäßigen Abständen auf große Feste eingeladen hätten. Die Teilnehmerzahl soll sich um die 300 Menschen bewegt haben. "Das waren besondere Anlässe, an denen die Legitimität und Autorität des Königs öffentlich anerkannt wurde", sagt Lambert. Die Listen waren daher "keine Blaupausen für die tägliche Ernährung der Eliten", sondern vielmehr Teil der Partyplanung.
Haben die Wissenschaftler Recht, müsste das feorm neu gedacht werden. Anstatt einer Abgabe in Naturalien, einer Art unpersönlicher Proto-Steuer, wäre dann von institutionalisierten Festen auszugehen. Diese seien zwar nicht unbedingt freiwillig gegeben worden, der Unterschied zu einer Sachsteuer sei aber nicht so unbedeutend, wie es scheinen mag, argumentiert Lambert. Denn bei einem Fest treten Bauern und König in ein Gastgeber-Gast-Verhältnis. Auch wenn der Adel womöglich die besten Stücke Fleisch erhielt, war mehr als genug für alle da, jeder Teilnehmer aß letztlich das gleiche. Vielleicht umwehte ein solches Bankett also ein Hauch von Egalität. Und abseits dieser Gelage zog sich eine bescheidene, getreidebasierte Ernährung durch alle Bevölkerungsschichten. Die Essgewohnheiten der angelsächsischen Könige unterschieden sich demnach kaum von denen ihrer Untertanen.
König Ine dankte im Jahre 726 ab, um sich auf eine Pilgerreise nach Rom zu begeben. Dabei darf man ihm durchaus auch nachträglich zu seiner offenbar ausgewogenen Ernährung gratulieren. Hätte er so geschlemmt, wie es ihm die Historiker in den letzten 150 Jahren nachgesagt haben, dann hätte er wohl bis ans Ziel rollen können.
Nota. - Erst nachdem der normannische Adel aus Frankreich die Insel erobert hatte, wurde England zum Musterfall der Feudalität: Die Hierarchie des normannischen Ritterheeres wurde fix und fertig über eine Landtschaft gestülpt, in der die Herkunft der Grundherrschaft aus den ursprünglichen germanischen Gemeinwesen noch spürbar war.
Wie um die gesellschaftliche Revolution zu verdeutlichten, führten die Eroberer ihr angelern-tes Französisch als britische Hochsprache ein. Wie Walter Scott überliefert, betraf das nicht zuletzt das Fleischvieh: Solange das Rind auf der Weide war, hieß es oxen; zu beaf wurde es erst, wenn es auf die Teller des Adels kam; mit swine und pork ging es ebenso, und aus chicken wird poultry.
JE
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