aus FAZ.NET, 18. 5. 2022
Von
Kai Vogelsang
Die „Seidenstraße“ ist seit einiger Zeit in aller Munde. Seit China vor zehn Jahren ein gigantisches Infrastrukturprogramm mit dem Namen „Neue Seidenstraße“ ins Leben gerufen hat, erscheint sie manchen als Symbol einer „neuen Weltordnung“, anderen liefert sie „den Gründungsmythos der Globalisierung“, pfiffige Unternehmer bieten Kurse in „New Silk Road Business Chinese“ an, und deutsche Städte reißen sich darum, „Knotenpunkte“ in der Seidenstraße zu werden.
Inmitten all dieser Aufregung kommt Thomas Höllmanns Buch wohltuend nüchtern daher. China und die Seidenstraße: Schon die Konjunktion im Titel drückt aus, dass die Seidenstraße nie mit China gleichzusetzen war. Nicht einmal ihr Name ist chinesisch. Er geht auf die deutschen Geographen Carl Ritter und Ferdinand von Richthofen zurück, spiegelt also eine eurozentrische Perspektive wider. Die „Seidenstraße“, so Höllmann, sei ein „Konstrukt (. . .), für das unterschiedliche Phänomene und Zeithorizonte zusammengeführt werden“. China war nie das Zentrum der verzweigten Handelswege, die sich in vielen Etappen von Europa nach Ostasien erstreckten. Chang’an, die Hauptstadt der Dynastie Tang (618–907), war nur ein Knotenpunkt in diesem Handelsnetz, wiewohl ein überaus wichtiger.
Die Pipa und der Drachentanz
Höllmann richtet den Blick auf diesen Knotenpunkt und damit auf einen Höhepunkt der chinesischen Geschichte. Nicht historisch, sondern nach Sachgebieten geordnet, liest sich das Buch fast wie eine Enzyklopädie der Seidenstraße. Sachkundig und detailreich beschreibt Höllmann die Routen und Regionen, Menschen und Tiere, die Religionen und Waren, Sprachen und Gebräuche der Seidenstraße. Achtzig Farbtafeln, viele davon Abbildungen archäologischer Funde, bieten dazu faszinierende Illustrationen. Man staunt, was da alles zu sehen ist: ein „in zentralasiatische Gewänder gekleideter Chinese“, ein „junger Mann mit dunkler Haut und krausem Haar“, das „Porträt einer kaiserlichen Konkubine in europäischer Rüstung“, eine „tangutische Inschrift“, ein persischer Glasteller, uigurische Damen, manichäische Priester, ein „jüdisches Bußgebet“ und vieles mehr.
Das Reich der Tang war weniger chinesisch als kosmopolitisch: sogdische, persische, griechische, mongolische, chinesische, sanskritische, tibetische, alttürkische und andere Manuskripte zeugen von der Sprachenvielfalt, die am östlichen Ende der Seidenstraße herrschte. Gesandte, Händler und Mönche brachten ihre Religionen nach China: Zoroastrismus, Manichäismus, den Islam, Christentum, Judentum und vor allem den Buddhismus. Klöster, Pagoden, Felsinschriften und Monumentalplastiken zeugen bis heute davon, wie stark der Buddhismus die Gesellschaft des chinesischen Mittelalters durchdrungen hat. Von der konfuzianischen Orthodoxie späterer Jahrhunderte war damals noch nichts zu spüren.
Die Seide hat dem Handelsnetz seinen Namen gegeben, doch sie war bloß das Tauschmittel für eine Fülle von exotischen Waren, die Händler und Gesandte nach Chang’an brachten: Robbenfelle aus Korea, Bernstein aus Japan, „goldene Pfirsiche“ aus Samarkand, Leoparden aus Buchara, Teppiche aus Persien, Gold aus Tibet, Elefanten aus Vietnam, Nashörner aus Kambodscha, Papageien aus Sumatra. Die Kultur der Seidenstraße prägte alle Bereiche des städtischen Lebens. Die chinesischen Eliten trugen Kaftan und Lederstiefel, uigurische Haarknoten waren der letzte Schrei, sie tranken gewürzten Traubenwein aus Mittelasien, richteten sich mongolischen Jurten ein, erfreuten sich an Musik aus Turfan, Kucha, Kashgar, Samarkand, Indien und Korea, ließen sich von ausländischen Gauklern, Akrobaten, Tänzerinnen und „Bettmädchen“ unterhalten.
Sehnsucht nach Verständigung?
So manches, was heute als „typisch chinesisch“ gilt – die Pipa etwa und der Drachentanz –, hat seinen Ursprung in Mittelasien. Zwar wurden nicht alle fremdländischen Gaben gleichermaßen wohlwollend empfangen: ein Nashorn aus Nanzhao wurde wegen seiner „Temperamentsausbrüche“ zurückgeschickt, die arabischen Löwen bereiteten mit ihrer Gefräßigkeit Probleme, und wie die aus Korea offerierten „Verklumpungen aus dem Magen oder Pansen von Rindern“ (Bezoar) am Hof ankamen, ist ungewiss. Aber bunter und weltoffener als in der Tang-Zeit dürfte das chinesische Reich nie gewesen sein. Die Hochzeit der Seidenstraße, die so viele fremde Anregungen brachte, war auch eine Glanzzeit chinesischer Kultur.
Ganz anders liest sich das „Nachspiel“ in Höllmanns Buch, in dem es um Chinas „One Belt, one Road“-Initiative geht. Hier schwenkt der Fokus von der Pipa zu Pipelines, von Gauklern zu Glasfaserkabeln und von kultureller Vielfalt zur „Ein-China-Politik“. Dabei wird deutlich, wie wenig die sogenannte Neue Seidenstraße mit der alten zu tun hat: Diese war als Netzwerk von Handelsstraßen herangewachsen, jene ist zentral geplant; diese brachte Menschen, Tiere und Kulturgüter aus aller Welt nach China, jene transportiert Industrieprodukte von China in die Welt; bei dieser ging es um Warentausch und Religion, bei jener um „Absicherung ökonomischer und strategischer Interessen“. Höllmann vergleicht Chinas Vorgehen mit der Strategie der westlichen Imperialmächte in Asien: auch damals bereiteten Handelsstützpunkte die koloniale Landnahme vor.
Vor allem eine Paradoxie sticht heraus: „Stand die Seidenstraße in einigen Epochen für den lebendigen Austausch von Ideen, ist heute eher deren Blockade wahrnehmbar“. Während China seine „Sehnsucht nach Verständigung“ beteuert, unterdrückt es die Meinungs- und Pressefreiheit im eigenen Land massiv. Vollends zum „Widerspruch in sich“ wird die Rede von der „digitalen Seidenstraße“, während zugleich in China Dutzende von internationalen Websites – Google, Facebook, Wikipedia, YouTube, Le Monde, NDR, New York Times, Instagram und viele andere – gesperrt sind und die „Great Firewall“ alle unerwünschten Inhalte blockiert.
Statt der Weltoffenheit von einst ist China heute von Abgeschlossenheit geprägt. Der Partei geht es nicht um den Fluss von Informationen, die Mobilität von Menschen und Ideen oder die Entfaltung von Religionen, sondern immer um deren Kontrolle. Während chinesische Herrscher sich in der Tang-Zeit an Exotika aus dem Westen berauschten, verbannen sie ausländische Einflüsse heute aus ihrem Land. Die Sprachenvielfalt der Seidenstraße ist durch den Primat des Hochchinesischen erstickt worden, und wo einst Oasenstädte florierten, stehen jetzt Internierungslager. Thomas Höllmanns Buch beschreibt die Glanzzeit des kosmopolitischen Tang-Reichs, als die Kulturen der Seidenstraße in der Metropole Chang’an zusammenkamen; und es zeigt zugleich, wie weit sich das heutige China von dieser Glanzzeit entfernt hat.
Thomas O. Höllmann: „China und die Seidenstraße“. Kultur und Geschichte von der frühen Kaiserzeit bis zur Gegenwart. Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. C. H. Beck Verlag, München 2022. 454 S., Abb., geb., 34,– €.
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