Jedes Jahr entscheiden Richter über das Schicksal von 170.000 Kindern. Die Beamten müssen verbindlich festlegen, was nach der Trennung der Eltern das Beste für die Minderjährigen ist: Sollen sie vor allem bei einem Elternteil wohnen (Residenzmodell) oder künftig die eine Hälfte der Zeit beim Vater und die andere bei der Mutter leben (Wechselmodell)? Es geht um Lebensentscheidungen – und um sehr viel Geld.
Dem Bundesfamilienministerium zufolge kommt es in neun von zehn Fällen zur klassischen Rollenverteilung: Die Kinder bleiben bei der Mutter, der Vater zahlt Unterhalt. Die Frage ist, ob das so bleiben sollte. Würde das Wechselmodell zum neuen Ideal erhoben werden und ein Kind fortan genau 50 Prozent beim Vater leben, müsste dieser erheblich weniger Unterhalt fürs Kind an seine Exfrau zahlen. Vor allem für die Mütter im Land stehen viele Milliarden Euro im Feuer.
Für den Gesetzgeber und die Familienrichter sollte das aber nicht entscheidend sein. Zentrale Frage ist schon heute, was das Beste für das Kind ist. Ein paar internationale Studien dazu gibt es, mit Blick auf die deutschen Verhältnisse aber ist die empirische Forschungslage dünn. Diesen Missstand soll die 1,5 Millionen Euro teure Studie „Kindeswohl und Umgangsrecht“ beheben. Sie soll wissenschaftlich fundiert beantworten, was nach einer Scheidung im Regelfall gut fürs Kind ist.
Zumindest sollte sie das mal. Fakt ist: Die kostspielige Erhebung ist lange überfällig. Die Entscheidung, sie in Auftrag zu geben, fiel vor knapp sieben Jahren. Den Zuschlag erhielt die Forschungsgruppe Petra, die jahrzehntelange Erfahrung in der Kinder- und Familienhilfe hat, sowie Franz Petermann von der Universität Bremen. Koordiniert und praktisch umgesetzt wurde die Studie von Anfang an von Stefan Rücker, der die Forschungsgruppe Petra leitet.
Dem Ausschreibungstext zufolge sollte das Forschungsvorhaben Mitte 2015 beginnen und „spätestens Ende 2018 mit der Abgabe des Schlussberichts abgeschlossen sein“. Das hat nicht geklappt, der Termin wurde mehrmals verlegt. Derzeit versichert das Ministerium, die Studie „noch in dieser Legislaturperiode“ zu veröffentlichen. Falls es so kommt, hätte sie doppelt so lange gedauert und wäre drei Jahre überfällig.
Warum aber dauert es sechs Jahre (oder länger), um zu klären, welche Erfahrungen Kinder nach der Trennung ihrer Eltern gemacht haben? Das Familienministerium nennt dafür zwei Gründe. Im Jahr 2018 erkrankte Petermann schwer, am 1. August 2019 verstarb er. „In der Folge ist sein Institut an der Uni Bremen aufgelöst worden, so dass ohne weiteres auch kein Mitarbeiter von dort die Abschlussarbeiten mitübernehmen konnte“, so das Ministerium. Danach habe die Corona-Pandemie zu weiteren Verzögerungen geführt.
Auf den ersten Blick sind das triftige Gründe, die selbst drei Jahre Verzögerung erklären könnten. Nun aber wird es spannend: Auf Nachfrage der F.A.Z. erklärt Marc Serafin, Leiter des Jugendamts von Sankt Augustin und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Studie, dass die gewünschte Auswertung bereits am 30. April 2019 abgegeben wurde. „Die Studie liegt dem Ministerium mit allen Ergebnissen vor, das hat mir Studienleiter Rücker schon vor fast zwei Jahren versichert.“ Falls das stimmt, wären die Rechtfertigungen des Ministeriums vorgeschoben, denn die Ergebnisse hätten bereits drei Monate vor dem Tod Petermanns und acht Monate vor Beginn der Corona-Pandemie vorgelegen.
Genau an diesem Punkt beginnt der Streit, denn das Familienministerium bestreitet energisch, ein publizierfähiges Werk erhalten zu haben. „Die Studiennehmer haben im April 2019 einzelne Entwurfsteile in einer Rohfassung übermittelt“, behauptet das Ministerium. Der Streit darüber, was da im April 2019 abgegeben wurde, beschäftigt mittlerweile sogar das Verwaltungsgericht Berlin. Die Rechtsanwälte des Ministeriums schreiben, „die ersten Entwurfsteile bzw. vorläufigen Fassungen bedürfen noch grundlegender Überarbeitung“. Und noch härter: Eine öffentliche Diskussion könne nur auf einer substantiierten Erkenntnisgrundlage geführt werden „und nicht auf einer Materialsammlung/nicht ausgewerteten Vorfassungen, die Verschwörungstheorien nähren und interessengeleitetem Missbrauch offenstehen. Die vorgelegten Unterlagen entsprechen noch keinen wissenschaftlichen und fachlichen Standards.“
Studienkoordinator Rücker selbst kann sich nicht dazu äußern, wie weit die Studie ist. Er darf sich laut Vertrag mit dem Ministerium nicht mal gegen den Vorwurf verteidigen, im April 2019 eine grottenschlechte Arbeit abgegeben zu haben. Allerdings versichert er: „Ich habe in meinem Leben in jedem Forschungsprojekt streng auf die wissenschaftlichen Gütekriterien geachtet. Wegen unserer hervorragenden Reputation werden wir seit Jahrzehnten von vielen Ministerien beauftragt.“
Glücklicherweise gibt es weitere Menschen, die mit der Studie vertraut sind. Johannes Münder beispielsweise. Der 77-jährige Jurist war 30 Jahre lang Universitätsprofessor und ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Außerdem sitzt er im wissenschaftlichen Beirat der Studie. Anders als das Familienministerium sagt der Professor, er habe „eine weit entwickelte Fassung der Studie gelesen“.
Warum aber ist die Studie dann noch nicht erschienen? „Das Ministerium hat die Sorge, zwischen den Schützengräben der Väter- und der Mütterlobby zerrissen zu werden“, sagt Münder. „Die wollen in diesem verseuchten Feld auf keine Mine treten.“
Schärfer urteilt Hildegund Sünderhauf-Kravets von der Hochschule Nürnberg: „Die Arbeit ist mit Sicherheit gut, Dr. Rücker ist ein renommierter Wissenschaftler, der hat bestimmt keinen Mist abgeliefert.“ Die Professorin, die ebenfalls im wissenschaftlichen Beirat der Studie sitzt, klagt genau wie Jugendamtsleiter Serafin darüber, dass eben jener Beirat vom Ministerium „kaltgestellt wurde“. Die letzte Sitzung im April 2017 sei „streng durchchoreographiert“ gewesen. „Fragesteller und Antwortgeber waren vorher abgesprochen, und ich konnte nicht mehr zu Wort kommen“, klagt die Juristin. Danach, seit nunmehr vier Jahren, hat das Ministerium den Beirat nicht mehr einberufen. Und Serafin und Sünderhauf-Kravets versichern beide, auf ihre Nachfragen nie eine Antwort aus Berlin erhalten zu haben.
Beide glauben auch nicht, dass Studienkoordinator Rücker im April 2019 eine schlechte Arbeit abgegeben hat. „Der Leumund von Herrn Rücker ist tadellos. Die Konzeption der Studie war fundiert und alles lief seriös“, sagt Serafin. Für ihn steht fest: „Die Studie wird vom Ministerium hinausgeschleppt.“ Und er fragt sich, „ob man die Ergebnisse abschwächen möchte“. Auch Marcus Weinberg, einer der Initiatoren der Studie, familienpolitischer Sprecher der Union und Beiratsmitglied zweifelt: „Das Ministerium war nie mit dem eigentlich zu erwartenden Verve bei dieser Studie. Die Euphorie der zuständigen Arbeitsebene im Ministerium wirkte eher gebremst.“
Ungleich stärker bläst Professorin Sünderhauf-Kravets ins Horn. Falls die im April 2019 abgegebene Fassung wirklich so schlecht sei, wie das Ministerium behauptet, „dann zeigt die Arbeit doch den wissenschaftlichen Beiräten, die können das besser beurteilen als irgendwelche Abteilungsleiterinnen im Ministerium“. Für die Juristin ist klar: „Offensichtlich verhindert das Ministerium die Veröffentlichung und auch die Arbeit des Beirats.“ Warum aber sollte das Ministerium so etwas tun? Die Professorin antwortet: „Es gibt Ergebnisse, die dem stark feministisch geprägten Mitarbeiterinnenstab im Ministerium nicht gefallen.“
Dafür spricht auch ein vielsagender Eintrag im Jahresbericht 2019 der Forschungsgruppe Petra. Dort steht schwarz auf weiß: „Entgegen den Erwartungen musste weiterhin an der Studie Kindeswohl und Umgangsrecht gearbeitet werden, weil es Modifikationswünsche der Auftraggeberin (Bundesfamilienministerium) umzusetzen galt.“
Ob diese „Modifikationswünsche“ wissenschaftlich geboten oder politisch gewollt sind, ist nicht leicht zu prüfen, denn die Ergebnisse der Studie werden gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Im Verlauf Dutzender Gespräche berichten mehrere Quellen jedoch übereinstimmend, dass Rücker herausgefunden habe, dass es für das Kindeswohl im Regelfall das Beste ist, wenn Mutter UND Vater dem Kind erhalten bleiben. Ist das dem Ministerium „zu väter-freundlich“, wie mancher behauptet? Die Behörde selbst weist das weit von sich. „Der Vorwurf entbehrt jeder Grundlage.“ Die Befragungen der Eltern und Kinder würden „nach wissenschaftlich neutralen Kriterien ausgewertet“.
Doch ist dem wirklich so? Endgültig beantworten lässt sich die Frage nicht. Allerdings gibt es noch mehr Indizien. Anfangs war vereinbart, dass die Zustimmung eines Elternteils ausreicht, damit ein Kind an der Studie teilnehmen darf. Um sich rechtlich abzusichern, wurde extra eine Stellungsnahme des Bundesjustizministeriums eingeholt, die das bestätigte. Zur Überraschung des Beirats änderte das Familienministerium später trotzdem die Vorgaben: Obwohl viele Befragungen schon abgeschlossen waren, sollten plötzlich doch beide Elternteile dem Interview zustimmen müssen. Nach hitziger Diskussion forderte der Beirat das Ministerium formal auf, „zum ursprünglichen Verfahren zurückzukehren“.
Die Frage drängt sich auf, warum sich das Ministerium überhaupt derart ins Forschungsdesign einmischte und die Zustimmung beider Elternteile anordnete. Zwei Erklärungen sind dafür zu hören. Die wohlmeinende: Dem Familienministerium war die Stellungnahme des Justizministeriums zu unsicher. Es wollte ganz sicher gehen, dass die erhobenen Daten verwendet werden dürfen. Die böswillige Erklärung: In den Familien, in denen Vater und Mutter zerstritten sind, kommt die zweite Zustimmung nicht zustande. Dann bleiben nur Familien übrig, in denen es gut läuft. Der Status quo, das mütterfreundliche Residenzmodell, wäre womöglich von Vorneherein bestätigt.
Stutzig macht auch, wie es nach dem Tod von Professor Petermann weiterging: Ohne eine weitere Ausschreibung und ohne den wissenschaftlichen Beirat auch nur zu informieren, wurde Sabine Walper damit beauftragt, die Studiendaten erneut zu analysieren. Aus Sicht des Ministeriums ist die Pädagogin und Psychologin eine „Wissenschaftlerin, die über eine mit der von Dr. Petermann vergleichbare Expertise in diesem Bereich verfügt“.
Markus Witt vom Verein „Väteraufbruch für Kinder“ kritisiert hingegen, Walper sei „die Haus- und Hofberichterstatterin des Ministeriums“. Bereits in der Vergangenheit habe sie „wissenschaftliche Ergebnisse anderer Forscher einseitig interpretiert“. Walper selbst weist derartige Vorwürfe zurück: „Ich bin vollkommen offen gegenüber den Befunden, alles andere wäre keine Wissenschaft.“ Ferner versichert sie, das Ministerium übe keinen inhaltlichen Druck aus.
Völlig unstrittig ist, dass Walper über jede Menge Erfahrung auf ihrem Forschungsgebiet verfügt. Ebenso unstrittig aber ist, dass sie stellvertretende Direktorin des Deutschen Jugendinstituts in München ist – und das erhält laut neustem Jahresbericht 72 Prozent seiner Einnahmen vom Bundesfamilienministerium. Aus geschäftlicher Sicht wäre es für sie ratsam, es sich mit dem größten Geldgeber nicht zu verscherzen.
Am Ende bleibt die Frage: Ist es Zufall, dass die Studie drei Jahre länger dauert, dass das Ministerium plötzlich auf der Zustimmung beider Elternteile bestand, dass ein renommierter Wissenschaftler angeblich eine grottenschlechte Arbeit abgibt, dass der Beirat vier Jahre lang nicht mehr tagen darf? Und dass unter allen denkbaren Instituten ausgerechnet jenes nachträglich beauftragt wird, das drei Viertel seiner Mittel vom Familienministerium erhält?
Nota. - In der Überschrift gemeint sind natürlich nicht die Interessen der Frau an sich. Ge-meint sind die Interessen jener Frauen, die sich in diesem besonderen Winkel des Öffentli-chen Dienstes festgesetzt haben.
JE
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