Mit dieser Waffe zogen die Indoeuropäer nach Europa
Die Domestikation des Pferdes zählt zu den wichtigsten
Kulturleistungen. Mit ihm gelang vor 5000 Jahren wohl eine der größten
Migrationen der Menschheit – mit weitreichenden Folgen, finden
Genetiker.
Nur gute 40 Zentimeter war das Wesen groß, von dem in der Welterbe-Grube Messel bei Darmstadt mehrere fast vollständig erhaltene Exemplare als Fossilien auf uns gekommen sind. Propalaeotherium haben Biologen das Tier
genannt, das vor 50 bis 40 Millionen Jahren die Dschungel
durchstreifte, die damals das Gebiet des heutigen Mitteleuropa
bedeckten. Propalaeotherium ist ausgestorben, aber aus einem nahen
Verwandten entstand einer der wichtigsten Helfer des Menschen, der ihn
erst in den Stand setzte, weite Teile der Alten Welt zu besiedeln: das
Pferd (Equus).
Wie diese eindrucksvolle Partnerschaft entstand, zeigt die „Terra X“-Dokumentation „Die Geschichte von Pferd und Mensch“ am Sonntag im ZDF. Darin entwerfen Niobe Thompson und Dennis Wells ein faszinierendes Panorama, das von dem fuchsgroßen Pflanzenfresser von Messel bis zu den Vollblütern moderner Galopp-Rennbahnen und den Kaltblütern reicht, die mit mehr als einer Tonne Gewicht Wagen voller Bierfässer zu ziehen vermögen. Die zu Wort kommenden Genetiker und andere Spezialisten skizzieren zudem den Stand der aktuellen Debatte, wo das Pferd domestiziert wurde und welche umstürzenden historischen Folgen damit verbunden waren.
Das Pferd kam verhältnismäßig spät auf den Menschen. Schon Tausende Jahre vor der neolithischen Revolution, in der ab etwa 7000 v. Chr. Menschen im Nahen Osten daran gingen, mithilfe von gezieltem Hegen und Anbau von Pflanzen ihre Nahrungsgrundlage zu erweitern, hatten sie Hund, Schaf, Schwein, Ziege, Rind und Katze zu Haustieren gemacht. Vor etwa 7000 Jahren, im Zuge der Sesshaftwerdung, kam der Esel hinzu.
Auf der Suche nach der Region, in der erstmals Pferde gezähmt wurden, führt uns die Dokumentation in den Norden von Kasachstan. Dort wurden bei dem Ort Botaj die Reste von etwa 70 Hütten ausgegraben. Daneben fanden sich Gruben, die Zehntausende Knochen von Pferden enthielten. Die Vermutung, dass sich die Botaj-Leute allein von der Jagd auf den Unpaarhufer ernährten, widerlegt die Analyse der geborgenen Keramikbruchstücke. Darin fanden sich die genetischen Fingerabdrücke von Stutenmilch. Ein eindeutiges Indiz für die Domestizierung der Tiere, denn keine wilde Stute lässt sich regelmäßig melken.
Anfang des 3. Jahrtausends v. Chr. war es Menschen also gelungen, das kraftvolle Herden- und Fluchttier, das sich zudem durch Intelligenz, Ausdauer und Anpassungsfähigkeit auszeichnet, zu ihrem Gefährten zu machen. Damit hatten die Bewohner der kargen Steppen Nordkasachstans zwar noch nicht zur Sesshaftigkeit gefunden. Aber mit dem Pferd war es ihnen nun möglich, ihre Herden aus Rindern, Ziegen und Schafen über große Entfernungen weiden zu lassen und damit ihre Nahrungsgrundlage deutlich zu erweitern.
Diese
Leistung gelang nicht nur der Botaj-Kultur. Unter ähnlichen
geografischen Bedingungen konnten einige Jahrhunderte später Bewohner
der nordpontischen Steppe Equus domestizieren. Das war eine Frage des
Überlebens. Denn in der Frühbronzezeit wurde das Klima trockener, die
Wälder verschwanden, und in den Regionen nördlich des Schwarzen Meeres
entstanden halbwüstenartige Landschaften. Wegen der Bauweise ihrer
Häuser, deren unterer Teil in einer Grube liegt, spricht man von
Jamnaja- oder Grubengrab-Kultur.
Der berittene Krieger war lange jedem Fußgänger überlegen
Im Durchschritt bewegt sich ein Pferd mit oder ohne Last fast doppelt so schnell wie ein Ochse, und die Tagesleistung eines Zugpferdes kann dreimal so hoch sein wie die eines Ochsen, begründet der Berliner Archäologe Hermann Parzinger in seiner „Geschichte der Menschheit vor Erfindung der Schrift“ diese „Revolution im Transportwesen“. „Mit dem Pferd als Zug- und Reittier hatte der Mensch damit zum ersten Mal in seiner Geschichte ein Transportmittel, dessen Geschwindigkeit seine eigene bei Weitem übertraf.“
Mit ihrer neu gefundenen Mobilität konnten die Jamnaja-Leute völlig neue Lebensräume erschließen. Zudem hatten sie mit dem Pferd eine Waffe in der Hand, gegen deren Geschwindigkeit und Durchschlagskraft Zweibeiner keine Chance hatten. Das sollte weltgeschichtliche Folgen haben.
Auf der Grundlage neuer genetischer Analysen entwirft die „Terra X“-Dokumentation ein atemberaubendes, wenngleich spekulatives Szenario. So haben Wissenschaftler der Universität Kopenhagen 2015 gezeigt, dass 75 Prozent des Erbguts der Jamnaja-Leute von den Schnurkeramikern aufgenommen wurden. Diese Schnurkera- miker, benannt nach dem Stil ihrer Keramik, werden von vielen Forschern als Träger der indoeuropäischen Sprache angesehen, die von den nordpontischen und südrussischen Steppen aus für die dritte große Besiedlungs- welle Europas verantwortlich waren. Zugleich, so die Dokumentation, drangen Leute mit Jamnaja-DNA bis weit nach Asien vor.
Dafür spricht, dass das Vokabular der Pferdezucht zur ältesten Schicht der indoeuropäischen Sprachen gehört, deren sich inzwischen mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung bedienen. Kamen sie einst als Eroberer, indem sie sich ihrer Superwaffen, der Pferde und Wagen, für Kampf und Transport bedienten?
Die Autoren der Dokumentation verweisen auf ein interessantes Indiz. Die Untersuchung von Toten, die in Gräbern im sibirischen Altai-Gebirge gefunden wurden, hat ergeben, dass jene offenbar von einer Variante der Pest dahingerafft worden sind. Das könnte bedeuten, dass die Pferdebesitzer auf ihrer weiträumigen Reise tödliche Krankheitserreger verbreiteten, gegen die sie selbst bereits eine gewisse Resistenz erworben hatten (so wie das bei den Pocken der Fall war, die ab 1492 mit den Spaniern Amerika verwüsteten).
Umso leichter sei es dann den Inhabern der Jamnaja-DNA gefallen, ihre Kultur in den entvölkerten Regionen zu etablieren und weiterzutragen. Mit Pferd und Pest trieben die Ahnen der Indoeuropäer ihre Migrationen voran? Eine steile These. Ob sie Bestand hat, wird sich noch zeigen müssen.
Nota. - Dies ist ein Referat der gestrigen Terra-X-Ausstrahlung im Zweiten Fernsehen.
Noch vor wenigen Jahren wurde angenommen [siehe meinen morgigen Eintrag an dieser Stelle], dass die neolithischen Zuwanderer aus dem Balkan den wesentlichen genetischen Grundstock der heutigen Europäer ausmachen und die spätere Zuwanderung aus der Steppe lediglich zu einer Vermischung und allerfalls kulturelle Überformung der ethnischen Zusammensetzung geführt hat.
Nun wird stattdessen die These vertreten, dass die neolithischen Populationen von den Jamnaja vollständig verdrängt und womöglich ausgerottet wurden. Das wäre in diesem Ausmaß einzigartig in der Menschheitsge- schichte - soweit sie schon bekannt ist; vielleicht sollte man auch den Untergang der mykenischen Kultur und die dorischen Wanderungen unter diesem Gesichtspunkt untersuchen.
JE
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